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»Kennen Sie Jean Paul?« schrieb Robert Schumann 1839 in einem Brief an den Verleger Simonin de Sire, um sogleich hinzuzufügen: »Von dem hab ich mehr Kontrapunkt gelernt als von meinem Musiklehrer.« Exemplarisch bringt dieses Zitat nicht nur die intensive Jean Paul-Rezeption Schumanns zum Ausdruck, sondern auch seine generelle, grenzüberschreitende Affinität zur Literatur. Und diese wiederum ist repräsentativ für mehrere Generationen romantischer Komponisten und hat sich unter anderem in Phänomenen wie musikalisch-literarischen Doppelbegabungen (E.T.A. Hoffmann, Richard Wagner), in Kooperationen zwischen Autoren und Komponisten (Kind / Weber, Fouqué / E.T.A. Hoffmann), in neuen bi- und intermedialen Gattungen (Kunstlied, Symphonische Dichtung) sowie insgesamt in einer auf unterschiedliche Weise literarisierten Musik produktiv realisiert. Selten in der Kulturgeschichte war die Musik derart eng auf ihre ›Schwesterkunst‹ bezogen wie im 19. Jahrhundert, zumal in dessen erster Hälfte. Allerdings wirft Schumanns Bezugnahme auf Jean Paul auch Fragen auf: Literatur (zumindest in dieser Zeit) kennt ja keine Mehrstimmigkeit und folglich auch keinen Kontrapunkt. Jean Paul kann Schumann also nur in einem uneigentlichen Sinn als Vorbild gedient haben. Aber in welchem? Und in welchem Verhältnis steht dazu Schumanns Verehrung Johann Sebastian Bachs und sein langjähriges, ernsthaftes Studium des strengen Kontrapunktes?
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Es sind Probleme wie diese, die den Gegenstandsbereich romantischer musikalisch-literarischer Intermedialität für die Kulturwissenschaften so attraktiv machen; dementsprechend stößt er in der Forschung seit jeher auf ein großes Interesse. Einem Teilaspekt widmet sich jetzt eine interdisziplinäre, literatur- und musikwissenschaftliche Fragestellungen konsequent miteinander verbindende Göttinger Dissertation: Die Autorin Hanna Stegbauer möchte eine Lücke schließen, indem sie den Einfluss der Literatur auf die Musik anhand des offenkundigen, aufgrund seiner auffälligen zeitlichen Verzögerung – immerhin gut zwanzig Jahre – aber erklärungsbedürftigen Zusammenhangs zwischen der literarischen Musik-Ästhetik der Frühromantik und der Kompositionspraxis vor allem der ersten Generation romantischer Komponisten untersucht. Dabei konzentriert sie sich auf die Instrumentalmusik, denn mit Recht sieht sie in ihr eher als in der Vokalmusik »jene[n] bemerkenswerte[n] ästhetische[n] Wandel« sich vollziehen, »für dessen Verständnis die frühromantische Poetik unerlässlich ist und der wiederum in seiner Bedeutung für die weitere Entwicklung der abendländischen Musik gar nicht zu überschätzen ist« (S. 13).
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Komponierte Lektüre?
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Die Hauptthese der Arbeit ist die folgende: »Die romantische Literatur geht der zugehörigen Musik nicht nur voraus, sie bereitet ihr auch den Nährboden, und man darf sogar behaupten, sie bringt sie hervor« (S. 10). Und an anderer Stelle: »In der romantischen Musik kristallisieren sich nicht einfach, wie man vielleicht annehmen könnte, musikgeschichtliche Tendenzen, sondern sie ist unterfüttert mit Zielvorgaben und Idealvorstellungen, die aus der Literatur stammen. Sie will die Anschauungen umsetzen, zu denen die romantischen Autoren gelangt sind« (S. 18). Stegbauer grenzt sich damit explizit von einem – etwa von Charles Rosen vertretenen – musikimmanenten Erklärungsansatz für die Entstehung der romantischen Musik und einem – etwa von Carl Dahlhaus und Hans Heinrich Eggebrecht vertretenen – von Parallelerscheinungen in Literatur und Musik ausgehenden Erklärungsmodell ab und postuliert stattdessen eine unmittelbare Dependenz der Musik von der Literatur.
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In dieser Zuspitzung ist das eine gewagte These, die aber im Laufe der Arbeit von der Autorin selbst immer weiter relativiert wird, unter anderem weil sie einräumen muss, dass »die direkte Rezeption und bewusste Umsetzung literarisch vorgeprägter Modelle nur in den seltensten Fällen nachzuweisen ist« (S. 160); letztendlich spricht Stegbauer dann von einem »zumindest punktuell nachweisbar[en]« »geistigen Feld« (ebd.), verzichtet aber – bedauerlicherweise – auf eingehendere Untersuchungen der Rezeption der entsprechenden literarischen Schriften durch die Komponisten. Doch auch unabhängig von dem Problem mangelnder konkreter Rezeptions-Belege wäre es nur schwer vorstellbar, dass Werke wie Schuberts Streichquintett oder Chopins Konzertetüden sozusagen komponierte Lektüre sein sollten. Monokausale Erklärungen griffen hier in jedem Fall zu kurz. Dass literarische Prätexte bei der Entstehung einer diese Werke grundierenden Ästhetik aber insgesamt eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten, dies vermag das Buch durchaus plausibel zu machen.
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Die Tatsache, dass es im Gegensatz zu der (zumindest in der Instrumentalmusik) weitgehend literaturfernen Wiener Klassik in der Romantik überhaupt zu einer derart produktiven Rezeption der Literatur kam, erklärt Stegbauer mit der prekären Lage der um 1800 geborenen Komponistengeneration, die nach der Wiener Klassik und zumal nach Beethoven einen eigenen Stil finden musste:
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Auf der Suche nach einem Weg aus einer Situation, die zu einer künstlerischen Sackgasse werden könnte, erfolgt der Zugriff auf ein Musikkonzept, das eben nicht aus seiner eigenen Geschichte heraus entstanden ist, sondern in einer benachbarten Kunstdisziplin. […] Es geht hier durchaus um musikgeschichtliche Prozesse – Musik reagiert auf Musik, die Romantik auf die Klassik. Aber das tut sie unter Zuhilfenahme der Literatur als Sinnangebot (S. 164).
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Die Komponisten hätten sich also von dem durch die übermächtigen Vorgänger Haydn, Mozart und Beethoven auf sie ausgeübten Druck befreit, indem sie gleichsam einen Umweg über die Literatur nahmen: Anxiety of Influence als Stimulus musikalisch-literarischer Intermedialität also – dies ist eine durchaus bedenkenswerte These. Vor allem scheint es bei der Entstehung der literarischen Musik-Ästhetik zwanzig Jahre zuvor ja genau umgekehrt gewesen zu sein: Einflussangst (in diesem Fall der frühromantischen Autoren vor Goethe und Schiller) als Stimulus literarisch-musikalischer Intermedialität. Denn dass in der Frühromantik die Musik zum Paradigma der Kunst schlechthin, zur »tellurischen Grundkunst« (F. Schlegel) erklärt wurde, hängt sicherlich auch damit zusammen, dass die Autoren sich auf diesem Weg von der primär auf die Bildenden Künste Bezug nehmenden Weimarer Klassik abgrenzen wollten.
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Utopische Musik
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Nach der »theoretischen Grundlegung« in einem ersten Teil, der sich mit musikalischer Semantik und der Musik der Wiener Klassik (insbesondere Beethovens) beschäftigt, ist der dritte Teil der Arbeit dem »Sinnangebot« der frühromantischen Musik-Ästhetik gewidmet. Stegbauer untersucht den literarischen Musik-Diskurs anhand der einschlägigen Texte Wackenroders und Tiecks, Novalis’, Friedrich Schlegels, Jean Pauls, August Wilhelm Schlegels, Hegels und E.T.A. Hoffmanns. Eine Schlüsselrolle spielen die Musikalischen Aufsätze von Joseph Berglinger aus Wackenroders und Tiecks Phantasien über die Kunst von 1799, in denen das Konzept einer utopischen Musik zuerst entwickelt wurde. Diese zeichnet sich unter anderem aus durch die »Aufhebung des linearen Zeitverlaufs« (S. 107), die Möglichkeit einer »intensive[n], emotionale[n] Begegnung mit der Welt« (S. 113), die »Nähe zur Transzendenz« (S. 115) und vor allem eine »reflexive Dimension« (ebd.): die Fähigkeit, »wortlos zu denken« (Tieck). Dass die Komponisten später auf dieses Konzept zurückgreifen konnten, liegt auch daran, dass es »etwas Unspezifisches in Hinblick auf das ›Material‹ der Musik« hat, andererseits aber »klare Zielvorgaben [macht], was Sinn und Wirkung der Musik betrifft« (S. 111). Die zentrale Figur an der Schnittstelle zwischen Literatur und Musik war dann E.T.A. Hoffmann mit den beiden Fassungen seiner Rezension der fünften Symphonie Beethovens, die in einem dichten intertextuellen Bezug zu den Musikalischen Aufsätzen von Joseph Berglinger stehen. Hoffmann ist »der erste, der diese Ideale in die Sphäre der Wirklichkeit herüberholt«:
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Die Ideen, die Wackenroder und Tieck als Kunstutopie vorschwebten, verankert Hoffmann […] in einem wirklich existierenden musikalischen Werk und macht damit deutlich, dass es prinzipiell möglich und wünschenswert ist, ›romantisch‹ zu komponieren. Erst nachdem dieser Schritt vollzogen ist, wird es für die neue Komponistengeneration zur Option und zur Aufgabe, die frühromantische Ästhetik, zuvor nur ein theoretisches Ideal, in Musik umzusetzen (S. 149).
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Worin besteht aber nun die postulierte Dependenz der Musik von der Literatur? Wie wurde die in der Literatur entworfene Utopie der Musik für das Komponieren fruchtbar gemacht?
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»Die Verwirklichung des ästhetischen Postulats«: Paradigmen romantischer Instrumentalmusik
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Ein bei der Beantwortung dieser Fragen unvermeidliches methodisches Problem ist die Vielfalt und Uneinheitlichkeit romantischer Instrumentalmusik, die sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen lässt. Stegbauer ist sich dessen bewusst, doch erscheint es ihr nichtsdestotrotz möglich, »eine Reihe von romantischen Denkfiguren und ästhetischen Prämissen zu identifizieren, die auf vielfältige Weise realisiert werden« (S. 179). Als Realisationsformen jenes »gemeinsamen Urgrund[es]« (ebd.) nennt sie unter anderem den spezifisch romantischen Umgang mit den Parametern Takt und Rhythmus (mit denen die »Illusion der Zeitenthobenheit« angestrebt werde [S. 186]), Klang (der Ton sei »nicht so klar umrissen und fest an seinem Platz«, sondern neige »zum Zerfließen und Verschwimmen« [S. 194]), Harmonik (eine »gelockerte Beziehung von Spannungsklang und Auflösung« bringe »die Aufwertung des einzelnen Klangs mit sich« [S. 197]), Form (das »Prinzip der organischen Entwicklung« löse die »klassische[n] Spannungsverhältnisse« ab [S. 200]) sowie schließlich die »Annäherung an die Literatur« (S. 209) in Form von Zitaten und anderen intermedialen Bezügen.
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Diese Paradigmen romantischen Komponierens werden – leider nur zum Teil – exemplarisch an Werken verschiedener Komponisten und Gattungen belegt. So zeigt Stegbauer etwa an Chopins erstem Nocturne, wie dieses sich »von der Herrschaft der unabänderlichen Zeit« befreit und »im schönen Klang« (S. 193) schwelgt. Und in ihrer Analyse und Interpretation des zweiten Satzes von Mendelssohns Italienischer Symphonie kann sie plausibel machen, dass Mendelssohn sich mit seiner Anspielung auf Zelters Vertonung des Königs in Thule »den ›deutschen‹ Goethe« vergegenwärtigt hat, »so dass Goethes Werke allmählich zum Schutzschild gegen den in der Fremde drohenden Identitätsverlust werden« (S. 213).
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Auch wenn diese Beispiele gut gewählt sind, stellt sich doch die Frage, wie repräsentativ sie wirklich sind. Für jeden Fall könnte man nämlich auch Gegenbeispiele finden – so ist etwa für Chopins Prélude in c-Moll keineswegs ein spezifisch romantisches Zeitverständnis bestimmend. Und andererseits lässt sich ein solches beispielsweise in Beethovens Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit aus op. 132 oder in der Cavatina aus op. 130 beobachten, obwohl die Verfasserin nicht müde wird zu betonen, dass sich gerade in diesem Punkt die romantische von der klassischen Musik fundamental unterscheide.
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Das Kardinalproblem aller Musikwissenschaft aber, nämlich eine adäquate Beschreibungssprache für musikalische Strukturen zu entwickeln, ohne einerseits in den terminologisch überfrachteten wissenschaftlichen und andererseits in den populären Jargon von Konzertführern und Musikkritiken zu verfallen, hat die Verfasserin alles in allem gut gelöst; ihre musikalischen Analysen sind in einem sachlichen, aber dennoch anschaulichen und die persönlichen Überzeugungen und Vorlieben durchaus nicht verleugnenden Stil gehalten. Allerdings sind sie an einigen Stellen etwas knapp ausgefallen und nicht immer ausreichend belegt. Dies betrifft zum Beispiel die Deutung von Max Bruchs erstem Violinkonzert, das – so Stegbauers These – »die Gattung Violinkonzert in einem Verfallsstadium« zeige (S. 234). Dies ist zwar eine faszinierende, aber keineswegs auf der Hand liegende Lesart, die dementsprechend am Notentext oder durch den Verweis auf die entsprechende Sekundärliteratur plausibilisiert werden müsste.
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»Beethoven als finstere Macht«: Einflussangst und musikalische Intertextualität
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Eines der interessantesten Kapitel der Arbeit – obwohl es von der eigentlichen Fragestellung wegführt – ist den innermusikalischen Abgrenzungsvorgängen gewidmet, die Stegbauer anhand programmatischer Zitate klassischer Musik in ausgewählten Werken der Romantiker untersucht, denn »in fast allen Fällen ist dieses Heraufbeschwören der Wiener Klassik problembeladen« (S. 240):
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In jedem erkennbaren Zitat eines klassischen Werkes steckt die Dialektik von Anlehnung und Ablösung. Der Romantiker ist mit der Andersartigkeit des Vorgängerstils konfrontiert. Klassische Stilmerkmale oder musikalische Fragmente in die romantische Komposition einzubauen, bedeutet immer auch die Notwendigkeit, sich mit einer musikalischen Haltung zu beschäftigen, die nicht der eigenen entspricht, unterschiedliche Lösungen für kompositorische Herausforderungen zu überdenken – und anstelle der Synthese den stilistischen Bruch zu betonen (S. 241).
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Im Falle Beethovens, dessen Lebens- und Schaffenszeit sich ja mit der einiger romantischer Komponisten überschneidet, kommt noch eine Komponente massiver Bedrohung hinzu; er erscheint im Spiegel der ihn zitierenden Werke dementsprechend geradezu als »finstere Macht«, wie etwa im Freischütz, wo Beethoven’sche Musik bezeichnenderweise immer im Zusammenhang mit der höllischen Sphäre evoziert wird. Ein Beispiel anderer Art ist der – Beethovens fünfte Symphonie zitierende – dritte Satz von Mendelssohns erstem Klavierkonzert. Stegbauer interpretiert ihn als »Musik gewordene Allegorie des Kampfes, den eine Generation von jungen Komponisten führt, um nach der Klassik zu künstlerischer Identität zu finden« (S. 247), ein Kampf allerdings mit selbstironisch-spielerischen Zügen. Solche fehlen hingegen gänzlich im Trio von Schuberts Streichquintett, in dem das Thema aus dem Trauermarsch in Beethovens Eroica zitiert wird:
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Das auf Beethoven verweisende Thema findet in Schuberts Komposition keinen Ort und keine Entfaltungsmöglichkeit mehr. Schubert führt hier geradezu die Unmöglichkeit vor, unter den Bedingungen des romantischen Zeitalters an das klassische Vorbild anzuknüpfen. Konnte der Klassiker sich noch auf ein zumindest in der Kunst geschlossenes Weltbild berufen, das es zuließ, Tod und Trauer in der höheren Ordnung der Musik aufzulösen, so sieht sich der Romantiker den Unzulänglichkeiten in seiner Lebenswelt ausgeliefert. Die Kunst vermag diese Brüche kaum mehr zu harmonisieren, sie kann nur noch über den Verlust des klassischen Ideals reflektieren (S. 246).
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Die Analysen dieses Kapitels sind deswegen ergiebig, weil Stegbauer sich nie damit zufrieden gibt, die musikalischen Vorgänge nur – wie das mancher puristische Musikwissenschaftler getan hätte – zu benennen, sondern sie immer auch mit dem für musikalische Semantik sensibilisierten Blick einer Literaturwissenschaftlerin interpretiert. Ob in den behandelten Fällen allerdings wirklich immer sinnvoll von Zitaten gesprochen werden kann, ist fraglich: Für das Trio von Schuberts Streichquintett etwa wäre wohl der Begriff der Allusion treffender. Nicht vollständig zustimmen kann man auch der These, in der Musik der Wiener Klassik habe das Zitieren einen gänzlich anderen Stellenwert, da dort die Zitate bruchlos in die Musik integriert würden. Hier gibt es ja doch signifikante Gegenbeispiele: Zum Beispiel Mozarts Don Giovanni, wo die Erfolgs-Oper Una cosa rara seines Konkurrenten Soler und Mozarts eigener Figaro zitiert und auch als Zitate markiert werden, oder der letzte Satz seines Streichquartetts KV 387, wo überdeutlich und gleichsam mit einem ironischen Augenzwinkern ein barocker Gestus zitiert wird. Und wenn Beethoven einen Walzer seines Zeitgenossen Anton Diabelli zum Ausgangspunkt seiner 33 Veränderungen op. 120 macht – auch dies ist schließlich eine Form des Zitats –, dann doch nur, um den Bruch zwischen seiner Ästhetik und der Diabellis besonders herauszustellen; dieser Komponist wird ja bereits mit der ersten Variation geradezu ›vom Tisch gewischt‹. Darüber hinaus wäre der Verfasserin entgegenzuhalten, dass es auch nicht wenige Fälle überaus positiver Bezugnahmen auf Beethoven gibt. Zu nennen wären etwa Mendelssohns Streichquartette op. 12 und 13, für die gerade keine Abgrenzung, sondern im Gegenteil ein emphatisches Anknüpfen an den als Leitfigur begriffenen Komponisten konstitutiv ist.
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Kritikpunkte
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Insgesamt ist Stegbauers These eines engen Zusammenhangs zwischen literarischer Musik-Ästhetik und romantischer Instrumentalmusik, wie gesagt, durchaus plausibel. Allerdings schwächt die Autorin sie durch eine stellenweise etwas schematische und gelegentlich auch apodiktische Argumentationsweise sowie durch die bei der Deutung größerer epochaler Zusammenhänge wohl unvermeidlichen Vereinfachungen und Verallgemeinerungen.
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Zweifel möchte man schon hinsichtlich Stegbauers Umgang mit den Epochen-Begriffen selbst anmelden: Mit der Wiener Klassik zu operieren, als wäre dies ein ganz und gar einheitliches Phänomen, ist problematisch. Wenn man schon von der historisch fragwürdigen, rezeptionsgeschichtlich aber möglicherweise zu rechtfertigenden Konzentration auf Haydn, Mozart und Beethoven ausgeht, müsste wenigstens zwischen diesen drei Komponisten und auch innerhalb ihrer Werke differenziert werden. Man vergegenwärtige sich nur die markanten stilistischen Unterschiede etwa zwischen Haydns und Beethovens Klaviersonaten oder die immense Entwicklung, die Beethovens Musik zwischen – beispielsweise – den noch weitgehend Haydn und Mozart verpflichteten Streichquartetten op. 18 und den späten Werken in dieser Gattung durchlaufen hat. Überhaupt steht Beethoven einer strikten Unterscheidung der ›Epochen‹ Wiener Klassik und Romantik, wie Stegbauer sie praktiziert, natürlich im Weg. Die Möglichkeit, ihn als Übergangsfigur zu verstehen, weist sie jedoch als Missverständnis zurück: Die Musikgeschichtsschreibung habe aus der Tatsache, dass die romantischen Komponisten stilistische Besonderheiten Beethovens übernommen hätten, geschlossen, dass dieser ein Grenzgänger gewesen sei, wo er in Wirklichkeit aber doch eindeutig ein Klassiker geblieben wäre; dies habe darüber hinaus schlimme Folgen für die Rezeptionsgeschichte der Wiener Klassik insgesamt gehabt (S. 91–102). Doch mit einer solchen Rigorosität Schnitte in einem überaus komplexen historischen Kontinuum vorzunehmen, ist angesichts der vielfachen Ungleichzeitigkeiten und Überschneidungen in dieser Phase, die etwa Carl Dahlhaus in seiner grundlegenden Studie zur klassisch-romantischen Ästhetik nachgewiesen hat, wenig überzeugend.
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Und dann: das romantische Subjekt (S. 202), die Romantiker (passim), die romantische Musik (passim)? Es handelt sich dabei schließlich um ein internationales Phänomen, das, je nach Zäsurbildung, von 1814 oder 1830 bis 1889 oder 1914 reicht und dem so durch und durch unterschiedliche Komponisten wie Schubert und Berlioz, Brahms und Wagner, Dvořák und Liszt zugerechnet werden, die sich mit so unterschiedlichen Gattungen wie – um nur Beispiele aus der Instrumentalmusik zu nennen – Impromptu und Symphonie, Streichquartett und Rhapsodie auseinandergesetzt haben, für die ja jeweils verschiedene Voraussetzungen gelten. Wie schon gesagt: Ob man hier wirklich von gemeinsamen, alle Differenzen überbrückenden ästhetischen Prämissen ausgehen kann, ist zweifelhaft.
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Die Autorin weiß all dies genau, dennoch hat sie die nötigen historischen Differenzierungen nur zum Teil vorgenommen. Wichtiger ist ihr der jeweilige »gemeinsame[ ] Urgrund«, und dafür nimmt sie bei der Darstellung des Vorder- und Hintergrundes Unschärfen in Kauf.
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Ein weiteres methodisches Problem ist Stegbauers weitgehend unkritischer Umgang mit den Thesen des ehemaligen Münchner Ordinarius der Musikwissenschaft Thrasybulos Georgiades. Von ihm übernimmt sie die für ihre Argumentation bestimmenden zentralen Charakteristika des klassischen Stils, hinsichtlich derer dieser sich von dem romantischen und allen anderen Stilen kategorial unterscheide: den Sprachgestus (und damit zusammenhängend die besondere Menschlichkeit), das Prinzip des ›leeren Taktes‹ und die Theaterhaltung. Doch schon die These, allein die Musik der Wiener Klassik habe die verstreichende Zeit exponiert, will in dieser Absolutheit keineswegs einleuchten. Welcher Komponist hat denn unerbittlicher das Vergehen der Zeit vorgeführt als der späte Schubert? Die These einer der Musik der Wiener Klassik aufgrund ihrer Sprachähnlichkeit inhärenten besonderen Menschlichkeit ist ebenfalls nicht gänzlich überzeugend: »Diese Kunst hat absolute Geltung und kann dennoch etwas über den Menschen in der Welt aussagen« (S. 101). Ja, natürlich – aber was genau? Und gilt das für Bachs Brandenburgische Konzerte oder Schuberts Moments musicaux etwa nicht? Auch über die These der Theaterhaltung der Wiener Klassik kann man geteilter Meinung sein, da sie rein metaphorisch ist und überdies auch auf andere Musik anwendbar wäre, beispielsweise wiederum die Johann Sebastian Bachs oder Schumanns Carnaval:
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Das Körperhafte und Präsentische der Wiener klassischen Musik baut […] ein Gegenüber im Sinne des Theaters auf und damit auch Distanz; eine klare Trennung vom Ich des Komponisten wie auch von dem des Zuhörers. […] Diese Musik will mit Aufmerksamkeit gehört werden, sie setzt der selbstvergessenen Versenkung und der unmittelbaren Identifikation einen gewissen Widerstand entgegen (S. 86).
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Dass demgegenüber ein anderer zentraler Aspekt des klassischen Stils, nämlich die charakteristische klassische Mehrstimmigkeit – jenes »obligate Accompagnement«, von dem Beethoven gesprochen hat – nicht einmal erwähnt wird, obwohl man hier wesentlich konkreter hätte argumentieren können als bei der unspezifischen ›Theaterhaftigkeit‹, verstärkt das Unbehagen an dieser Sichtweise.
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Insgesamt nimmt Stegbauers Beschäftigung mit der Wiener Klassik beziehungsweise mit Georgiades zu viel Raum ein – einen Raum, der für detailliertere Analysen der romantischen Instrumentalmusik und ihres Verhältnisses zur Literatur hätte genutzt werden können.
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Negativ fallen ferner die häufigen Wiederholungen einiger Passagen auf. Vor allem die von Georgiades übernommenen Charakterisierungen des klassischen Stils werden geradezu leitmotivartig repetiert. Sie werden dadurch aber nicht überzeugender. Darüber hinaus neigt die Autorin zu einem etwas lehrerhaften ›Noten-Geben‹, das vor allem dann aufdringlich wirkt, wenn der Benotete einer der bedeutendsten Musikwissenschaftler des 20. Jahrhunderts ist: »wie Dahlhaus richtig erkennt« (S. 138), »wie Dahlhaus ganz richtig erkannt hat« (S. 226). Schwerer wiegt es, wenn Stegbauer derartiges über Komponisten und Autoren schreibt. So habe zum Beispiel Schubert »das Charakteristische in den Werken seiner Vorgänger richtig erkannt« (S. 150 f.) – gemeint ist das nach Georgiades’ Deutung Charakteristische, nämlich das Prinzip des leeren Taktes –, Hoffmann hingegen, der andererseits »gute Arbeit geleistet« habe (S. 143), es verschwiegen (S. 144). Eine schlechte Zensur erhält auch Mahler: »Ein Werk nur – wie es Gustav Mahler ganz am Ende der musikalischen Romantik mehrfach getan hat – mit ›Symphonische Dichtung‹ zu überschreiben, bedeutet im Grunde ein Missverständnis, ein Nichtverstehen der Funktionsweise dieser Gattung« (S. 225). Bevor man einem solchen Komponisten unterstellt, er habe das Wesen einer Gattung nicht verstanden, müsste man den Fall wenigstens ausführlich untersucht haben.
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Resümee
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Stegbauers Dissertation ist ein überaus ambitioniertes Projekt: Neben der Analyse eines komplexen intermedialen Phänomens will sie einen Beitrag zur Periodisierung einer der bedeutendsten – und differenziertesten – Phasen der europäischen Musikgeschichte leisten und darüber hinaus auch noch Richtlinien zur Interpretation dieser Musik aufstellen (die sich im Wesentlichen allerdings auf das Plädoyer für eine den Intentionen der Komponisten entsprechende Aufführungspraxis beschränken [S. 19]). Wahrscheinlich wäre es gewinnbringender gewesen, sich auf die im Titel angekündigte Problematik zu konzentrieren. Doch auch so ist es das Verdienst dieses Buches, den kulturgeschichtlich höchst interessanten Fall musikalisch-literarischer Intermedialität in der Romantik wieder zur Diskussion gestellt zu haben.
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