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Zionismus als Politik und Poetik

  • Philipp Theisohn: Die Urbarkeit der Zeichen. Zionismus und Literatur - eine andere Poetik der Moderne. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 2005. 336 S. 9 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 69,95.
    ISBN: 978-3-476-02072-7.
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Philipp Theisohn geht in seiner Studie der Frage nach, welche poetische Gestaltung der Zionismus gefunden hat, den er als eine Form »politische[r] Theologie« (S. 31) versteht. Die Suche nach den theoretischen Grundlagen und Implikationen einer »Poetik des Zionismus« (S. 42) führt Theisohn in ganz verschiedene Bereiche, als da wären: das »jüdische[ ] Kulturdenken des 19. Jahrhunderts« (ebd.), die moderne Raumphilosophie und die von ihr diagnostizierte »Krise räumlicher Repräsentation« (S. 44), die Zeichentheorie und die politische Theologie.

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Mit der »Poetik des Zionismus« (S. 42) nimmt sich Theisohn eines bedeutenden Themas an, das bisher weder von der literaturwissenschaftlichen noch von der geschichtswissenschaftlichen Forschung gebührend berücksichtigt worden ist. Die Literaturwissenschaft neigt dazu, dem Zionismus in erster Linie unter biographischem Gesichtspunkt Aufmerksamkeit zu schenken, indem sie die Nähe oder Ferne einzelner AutorInnen zur zionistischen Bewegung skizziert und daraus Rückschlüsse für das literarische Oeuvre ableiten zu können meint. Hingegen tendiert die geschichtswissenschaftliche Zionismus-Forschung dazu, Fragen der Ästhetik nur mehr als Begleiterscheinung des Phänomens abzutun. In die Forschungslücke, die sich hier aufgetan hat, stößt Theisohns Untersuchung vor.

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Mit einer umfangreichen, auf anspruchsvollem theoretischen Niveau operierenden Einführung, die sich in zwei Kapitel gliedert (»Urbare Zeichen – Zionismus und Moderne« und »Der Text und der Tempel. Eine Vorgeschichte«), beginnt Theisohn seine Studie. In einer Mischung aus historischer Rekonstruktion und eigenständiger philosophischer Interpretation entwickelt er in diesen Kapiteln ein Raum- und Zeichenmodell, das er auf den »theopolitische[n] Entwurf« (S. 29) des Zionismus ausrichtet. Die »Poetik der Urbarkeit« (S. 31) gilt Theisohn als »adäquate Übersetzung der politischen Theologie in den Raum der Zeichen« (ebd.).

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Das in den ersten beiden Kapiteln vorgestellte Modell dient Theisohn als Deutungsrahmen für seine Textlektüren. Über die theologisch-politische Figur einer Selbsterzeugung aus dem Nichts sowie über die poetischen Momente Spiel und Opfer geht Theisohn der Verklammerung von Ästhetik und Politik im Zionismus nach. Hierfür berücksichtigt er Werke Theodor Herzls (Der Judenstaat; Altneuland), Richard Beer-Hofmanns (Die Historie von König David), Arnold Schönbergs (u.a. A Four-Point-Program for Jewry; Der biblische Weg. Schauspiel in drei Akten), Franz Kafkas (Beim Bau der chinesischen Mauer, Der Verschollene), Arnold Zweigs (De Vriendt kehrt heim) sowie verschiedene Texte Martin Bubers und Emmanuel Levinas’. Diesen Autoren (beziehungsweise dem Komponisten Schönberg) widmet Theisohn jeweils eigene Kapitel.

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Zion als Zirkel

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Mit der These, dass Zion »zunächst einmal der Ort eines Zirkels ist« (S. 22), zielt Theisohn auf die zirkuläre Logik, die sich in dem »Gedanken des ›Sich-selbst-Er/Zuschreibens‹ eines Raumes« (S. 81) ausdrückt. Die Schrift könne diesen Raum nicht als gegeben voraussetzen; vielmehr müsse sie »erst wieder Land werden, sich selbst der Grund sein, will sie die Nation wirklich in sich aufnehmen und bewahren« (S. 78). Zirkulär ist diese Logik der Selbsterzeugung insofern, als ihre Rede den Raum schon präsent zu haben scheint, der doch erst durch sie erzeugt werden soll.

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Theisohn bezieht die zirkuläre Logik der Selbsterzeugung nun von vornherein auf zwei Instanzen: auf das Territorium wie auf die Nation beziehungsweise die »staatliche[ ] Verwirklichung des Selbst« (S. 29). Die zionistischen Texte richteten sich »an eine Nation [...], welche sie erst begründen« (S. 23). Dass die Logik der Selbsterzeugung sich von dem Konzept der Rückkehr unterscheidet, kann Theisohn auch historisch plausibel machen, indem er darauf hinweist »dass das Gros der frühzionistischen Entwürfe (bis hin zu Pinskers 1882 veröffentlichter Autoemanzipation) sich ausdrücklich von Palästina distanziert« (S. 80).

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Die Logik einer Selbsterzeugung aus dem Nichts führt Theisohn auf die Gnosis zurück, der Fichte in seinen Reden an die deutsche Nation ein politisches Profil gegeben habe, das später wiederum zionistisch gewendet worden sei. Mit Äußerungen von Hugo Bergmann (»Nur weil wir Fichte hatten, fanden wir die entsprechenden Strömungen der jüdischen Kultur, verstanden wir erst das Judentum« (zitiert bei Theisohn S. 25) oder Hans Kohn kann Theisohn dies dokumentieren.

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Theisohn dekonstruiert nicht die zirkuläre Logik der Selbsterzeugung, die man als Tautologie lesen könnte. Statt die rhetorische Strategie hinter der politischen Theologie aufzudecken, wie dies etwa Hans Blumenberg im Hinblick auf Carl Schmitt vorgeführt hat, 1 entwickelt Theisohn ein Zeichen- und Sprachmodell, das den Vorgaben politischer Theologie entspricht. Für ihn lautet die Frage: »Wie [...] kommt [...] Zion wieder zurück zum Text, wie läßt sich dort, wo Bedeutung immer nur relational [...] erzeugt wird, ein Wort vernehmen, das seine eigene Grammatik generiert« (S. 51)? Zur Beantwortung dieser Frage greift Theisohn auf Ezechiels Tempelvision zurück. In der »performative[n] Raumrede« wird der Text »selbst zum Tempel [...]: zu einem Bau, der seinen Grund selbst hervorbringt« (S. 55–56).

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Der Text als Tempel

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Die »Strategie zionistischer Poiesis« (S. 82) richtet sich in Theisohns Darstellung analog auf das ›Tempel-Werden‹ des Textes:

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Der im zionistischen Kulturakt eröffnete, der andere Raum der jüdischen Nation, ihre neu errungene Physis, läßt sich [...] keinesfalls von jenem Augenblick der grundlosen Selbstsetzung, der Offenbarungshandlung trennen, da sie zu diesem ein inneres Verhältnis hat. Wenn zuvor die Rede davon war, daß der Bruch ein konstitutives Moment zionistischen Handelns ist, so nicht deshalb, weil dieser Bruch etwa dem Text vorgängig wäre, sondern weil der Bruch dem Werk einwohnt, die Stätte bezeichnet, auf der das Zeichen wirklich und der Text zum Tempel wird. Das ist der Ort des Souverän [sic!], dessen, der über den Ausnahmezustand gebietet; denn er ist es, der mit seinem Wort über Erstehen und Verfall von Ordnungen entscheidet, sich selbst den Grund gründet und unmittelbare Wirklichkeit beansprucht. Der Versuch, diesen Ort einzunehmen, bestimmt die Strategie zionistischer Poiesis. (S. 82)
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Theisohn will mit diesem Strukturmodell nicht den religiösen Zionismus beschreiben, der sich erst nach und nach im 20. Jahrhundert gegenüber dem traditionellen orthodoxen Vorbehalt gegen den Zionismus profilieren kann. Der religiöse Zionismus funktioniert ganz anders, wie Theisohn, der über einen beeindruckenden Kenntnisreichtum verfügt, natürlich weiß. Auf der Linie Carl Schmitts analogisiert Theisohn vielmehr göttliche und politische Souveränität, um die Poiesis des politischen Zionismus darzulegen. Die Analogisierung von Offenbarungshandlung und politischer Stiftung, des Tempels und des Ortes des Souveräns, mündet bei Theisohn in einen Raum, »in dem Bedeutendes und Bedeutetes immer eines sind« (S. 50).

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Die Frage nach »Übersetzung der politischen Theologie in den Raum der Zeichen« (S. 31), die letztlich zu einer Theopoetik führt, hätte als Korrektiv der Gegenfrage bedurft, was an dem »Raum der Zeichen« fundamental einer solchen Übersetzung widerspricht. Dementsprechend kann man sich fragen, ob eine zionistische Poetik, die eine paradoxe Überwindung des Ästhetischen im Ästhetischen, des Spiels im Spiel durch eine Inszenierung des »Opfer[s] der Zeichen als Zeichen« (S. 31) anvisiert, nicht nur ein Paradox, sondern einen performativen Widerspruch beschreibt, der ihr Gelingen grundsätzlich in Frage stellt.

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Stattdessen hebt Theisohn hervor, dass der Zionismus »der Moderne ein spezifisches, ein positives Angebot zur Bewältigung ihrer paradoxen Aufgabenstellung [unterbreitet], von einer Ansammlung entwerteter Zeichen zu einer Sprache der Präsenz zu gelangen« (S. 31).

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Theisohn versäumt es, darauf zu reflektieren, ob und inwiefern sich das von ihm skizzierte Konzept von dem Phantasma eines präsentischen Sich-Selbst-Habens eines (nationalen) Subjekts unterscheidet oder nicht. Ohne diese Reflexion wirkt die Emphase seiner Sätze irritierend. Dieser Irritation hätte Theisohn entgehen können, wenn er die Ansätze aus den ›postcolonial studies‹, die er zwischendurch erwähnt (vgl. S. 21 f., S. 105), auch noch einmal auf das von ihm vorgeschlagene Interpretationsmodell angewendet hätte. So hätte er deutlicher machen können, in welchem kritischen oder affirmativen Sinn das ›Andere‹ in der Rede von »Zion [...] [als] einem anderen Ort der Moderne, an dem der Mensch nicht mehr in endlosen Texturen verschwindet, sondern letzten Endes selbst wieder zu einem Medium monumentalen Schreibens avanciert (S. 42)«, zu verstehen sein soll.

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Trotz der geäußerten Bedenken ist festzustellen, dass Theisohn in den einführenden Teilen seiner Studie ein Modell mit einem hohen philosophischen Anspruch entwickelt, welches er für seine Textlektüren produktiv machen kann.

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Theodor Herzl als politischer Künstler

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Die Teilnehmer des ersten Zionistenkongresses 1897 in Basel werden von Theodor Herzl aufgefordert, zur Eröffnungssitzung Abendgarderobe wie zu einem Opernbesuch anzulegen. Herzl verehrt speziell Wagner so sehr, dass er den zweiten Zionistenkongress 1898 gar mit der Tannhäuser-Ouvertüre eröffnen lässt. Theisohn kann zeigen, dass es sich hierbei um mehr als Anekdoten handelt. Herzl denkt den zionistischen Politiker als Künstler, der ein Absolutes, den Staat als Gesamtkunstwerk erzeugen soll, wie Theisohn unter Rückgriff auf Herzls politische Schrift Der Judenstaat (1896) und flankierende Notizen aus Tagebüchern und Briefen Herzls demonstriert.

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Als »konstitutives Strategem« (S. 104) der Poetologie Herzls macht Theisohn die »signifikatorische[ ] Machtübernahme« (ebd.) aus. Herzl imaginiere das jüdische Volk als Schauspieler in einem Stück, dessen Handlung in einer »symbolische[n] Einübung in das Ablegen von Fremdbeschreibung und die sich anschließende Selbstbegründung« (S. 111) besteht. Das Stück, wie es sich Herzl denke, solle zeigen, wie sich das Judentum seiner Repräsentation bemächtigt. So sollen selbst erniedrigende Signifikationen der Fremdvölker symbolisch in eine Auszeichnung des Selbst umgewertet werden.

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Die Logik der Selbst(ent)setzung »in das Nichts« (S. 96) findet Theisohn unter anderem in Herzls Charakterisierung der »Jewish Company« im Judenstaat wieder. Die »Jewish Company« soll den jüdischen Besitz in der Galuth liquidieren, noch bevor ein jüdisches Staatswesen in Sicht ist. Herzl illustriert diese Verkehrung mit dem Vergleich, dass auch nicht die Reisenden die Eisenbahn, sondern die Eisenbahn die Reisenden hervorgerufen habe. So sei mit der »Jewish Company« das »Organ eines Bedürfnisses« 2 gegeben, das den Verkehr anregen würde. Theisohn beschreibt diesen Vorgang treffend als eine Kolonisierung der Diaspora ohne territoriale Handlungsgrundlage, die das Mutterland erst im Tausch evoziere (vgl. S. 114). Die Performanz der Selbsterzeugung bestimme auch die Logik der Herzl’schen Textproduktion, so Theisohn. Herzls Staatschrift »faßt nicht nur den Plan jener gigantischen Transformationsmaschine, die der Judenstaat darstellt, sondern ist auch schon der letzte Hebel, der umgelegt werden muß, um diese Maschine in Gang zu setzen« (S. 96).

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Herzls gewollt »aphoristische« 3 Schreibweise im Judenstaat stellt für Theisohn nicht schlicht einen Mangel an literarischer Durcharbeitung dar, wie man denken könnte; vielmehr weise sie ein poetisches und politisches Kalkül auf. Sie bilde eine »Kunst des Indirekten« (S. 122). Die lose Darstellungsweise simuliere dem Leser die Abwesenheit einer auktorialen Instanz, die sich gerade durch ihren Rückzug behaupte. Dem scheinbaren Zurücktreten des Autors hinter sein Werk entspreche die Vorstellung einer führerlos sich vollziehenden emanzipatorischen Bewegung. Herzls Obsession für das Selbstopfer sei allerdings noch vor dem Horizont eines Selbst- und Kontrollgewinns zu sehen: Das scheinbar freie Spiel der Signifikanten verdanke sich einer genauen Berechnung.

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Theater und Opfer

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Der Befund einer »›theatralischen Existenz‹«(S. 135) des Judentums, aus dem oftmals das Ressentiment spricht, hat um 1900 Konjunktur und findet auch eine zionistische Ausprägung. In zionistischer Interpretation gilt die so genannte »Theatralisierung des Judentums« (S. 137) als Folge seiner Entortung in der Galuth, die zu einer »Selbstentzweiung der jüdischen Existenz« (S. 136) geführt habe. Diese Argumentation entdeckt Theisohn sowohl bei Max Nordau als auch bei Theodor Lessing.

[25] 

Theisohn bemüht sich zu zeigen, dass die Revolutionierung von Theatertheorie und -praxis auf deutschsprachigen Bühnen, die mit dem Namen Max Reinhardts verbunden ist, in einem strukturellen Zusammenhang mit dem zionistischen Projekt einer »›Enttheatralisierung als Theater‹«(S. 142) steht. Fluchtpunkt sei jeweils ein kultisches Theaterkonzept, so Theisohn.

[26] 
[D]ie Rückkehr des Theaters in die Mitte des Volkes [kann] nur dann vollends Wirklichkeit werden [...], wenn diese Rückkehr gedacht wird als ein radikaler Akt der Selbstbemächtigung, als eine Befreiung des Theaters von allem Nicht-Theatralischen und aller Fremdkodierung und damit: als eine Gemeinschaftsgründung im Theater, als theatralische Zeugung eines Volkes. (S. 150–151)
[27] 

Theisohn begnügt sich in dem Kapitel »Das Theater von Morijah. Überlegungen zu Bühne und Altar« nicht damit, den zionistischen Theater-Diskurs nachzuzeichnen. Er entfaltet vielmehr selbst eine Logik »monotheistische[r] Dramatik« (S. 154) auf der Grundlage von Reflexionen über die Aqedah, die Bindung Isaaks – für Theisohn die »Gründungsszene« (S. 173) jüdischer Dramatik, die die »Tragödie der Galuth« (S. 151), die »Selbstentzweiung« (S. 136), zu überwinden antrete. Der Ansatz, eigene philosophische Reflexionen im Austausch mit historischen Positionen zu entwickeln, macht einerseits den Reiz des Kapitels aus. Er birgt allerdings auch Risiken. Denn Theisohn beschreibt nicht nur den theologisch-politischen Anspruch einer zionistischen Theaterästhetik, sondern analysiert sie selbst mit theologisch-politischen Konzepten. Die Mischung aus der Darlegung historischer Auffassungen und der Entwicklung eigener Reflexionen führt dazu, dass es manchmal schwer fällt anzugeben, von welcher Position her der Autor spricht. Anders gesagt hat man den Eindruck, dass es Theisohn zuweilen an Distanz zu seinem Gegenstand mangelt.

[28] 

In der Aqedat Jizchak sei eine Identität von Selbstopfer und Stellvertretung gegeben, die jegliche Vorstellung einer kultischen Übertragung ad absurdum führe. »Geopfert werden soll mithin nicht nur der Sohn, sondern jedes ›Als-Ob‹ im Angesicht Gottes, das Ausweichen in die Repräsentation schlechthin« (S. 170). Die Aqedah verbindet Theisohn mit dem »Streben nach Präsenz« (S. 138), das er als Movens des zionistischen Theaterkonzepts ausmacht. Könnten sich nach zionistischer Einsicht die Juden auf der Bühne der Galuth keine Stellvertretung wählen, ohne in dieser Wahl nicht bereits Opfer geworden zu sein, so müsse das jüdische Theater das »Moment der Enttheatralisierung« (S. 169) mit sich führen.

[29] 

In einer etwas komplizierten Diktion schreibt Theisohn:

[30] 
Das Judentum erhält sein Theater nur unter der Bedingung, daß es sich zuvor jeglicher Selbstentzweiung überhoben und jegliches Repräsentationsverhältnis abgelegt hat, somit selbst ›präsent‹ ist. Die Bühne als Raum der Dopplung erschließt sich dem jüdischen Drama nur unter der Voraussetzung, daß dort, wo bisher der Jude als theatralisches Subjekt hinter seinen Repräsentationen verschwunden ist bzw. mit der Repräsentation zusammengefallen war und als solche mitgeopfert wurde, auf einer höheren Reflexionsstufe – d.h. im Bewußtsein, sich wirklich selbst zu geben und in der Stellvertretung nicht auf Verschonung hoffen zu können – im Opfer eine jüdische Identität neu gezeugt werden kann, die selbst wieder in der Lage ist, Stellvertretung, Theater zu generieren. (S. 169)
[31] 

An Richard Beer-Hofmanns unvollendet gebliebenem Dramenzyklus Die Historie von König David versucht Theisohn dieses Theaterkonzept nachzuweisen, indem er sich auf die Erzählung der Aqedah im Vorspiel, Jaákobs Traum, konzentriert, das von keinem anderen als Max Reinhardt 1919 inszeniert worden ist. Gegenstand und Raum des Opfers zugleich sei letztlich das Theater selbst, folgt man der Konstruktion, die Theisohn Beer-Hofmanns Dramatik unterlegt. »Das Theater der Galuth ließ die Stellvertretung opfern und war selbst kathartische Stellvertretung eines Opfers – das Theater Zions bietet sich selbst auf dem Altar und erhält darin eine jüdische Welt, in welcher das Prinzip der Selbstentzweiung überwunden ist« (S. 184).

[32] 

Es dürfte streitbar sein, ob der Aqedah in Beer-Hofmanns Jaákobs Traum wirklich eine so zentrale und so zu verstehende Bedeutung zukommt, wie Theisohn sie ihr gibt. Gegenüber der Forschung, die sich bisher überwiegend auf das Motiv der ›Erwählung‹ konzentriert hat, vermag Theisohn jedenfalls einen bedenkenswerten eigenen Akzent zu setzen.

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Zionistische Poiesis im Singular?

[34] 

Es liegt in der Logik von Theisohns Ansatz, immer wieder von der »zionistische[n] Poiesis« (z.B. S. 29, S. 31, S. 76, S. 80, sowie passim) zu sprechen, deren »singulären Charakter« (S. 40) er schon im ersten Kapitel hervorhebt. Auch wenn Theisohn hier und da von »Poetiken« (z.B. S. 30, S. 31) im Plural spricht, so schlägt die Rede von der »zionistischen Poiesis«, die dem von Theisohn unterbreiteten kulturphilosophischen Modell entspricht, doch immer wieder durch. Ein solcher Ansatz hat Vor- und Nachteile. Im Hinblick auf Kafkas Texte gelingen Theisohn auf dieser Grundlage überraschende und anregende Lektüren. Der Versuch Theisohns, Martin Bubers Texte in sein Modell – Abweichungen zugestanden, impliziert Bubers Verständnis des Zionismus doch Herrschaftskritik und Distanz zum Staat – zu integrieren, wirkt hingegen manchmal forciert. Hier drängt sich der Eindruck auf, dass es gut gewesen wäre, dem Kulturzionismus doch eine ernst zu nehmende Eigenständigkeit zuzugestehen, die Theisohn ihm von vornherein verwehrt (vgl. S. 38). Hätte man nicht das selbständige romantische Profil von Martin Bubers zionistischer Poetik herausarbeiten sollen, die sich, wie Theisohn selbst schreibt, gegen das Paradigma einer »Selbstbegründung in das Nichts« (vgl. S. 263) sperrt?

[35] 

Wenn Theisohn dem von Buber entdeckten »Raum des Dialoges [...] einen Sitz innerhalb einer zionistischen Poetologie« (S. 281) einräumt, dann wäre darüber hinaus in irgendeiner Form darauf einzugehen gewesen, dass Buber seinen dialogischen Ansatz schon früh explizit auch auf das Verhältnis von Juden und Arabern in Palästina bezogen hat. 4

[36] 

Als ein »Produktionsverfahren, welches [...] sich selbst ›Grund gibt‹«(S. 212), findet Theisohn den Zionismus auch in Texten Franz Kafkas wieder, der ihm als »avancierter Repräsentant einer zionistischen Poetik« (S. 220) gilt. Im Hinblick auf Kafkas literarisches Verfahren macht Theisohn die Figur der Unterbrechung stark, die damit korrespondiere, dass »Kafkas Zion [...] kein Ort der Rekonstruktion [ist]« (S. 214); die »Rückkehr der Zeichen auf das Territorium« (ebd.) zeichne sich erst dort ab, wo nicht mehr an Deutungstraditionen angeknüpft würde, sondern »an deren Stelle ein in der perpetuierenden Bewegung interpretatorischen Abbrechens erzeugtes Machtvakuum getreten ist« (ebd.). Dementsprechend ereigne sich Territorialität dort, wo »Marginalisation immer bereits in die eigene Territorialisierung hineingenommen«, die »Landnahme [...] auf das Engste mit dem Offenstehen von Grenzen verbunden ist« (S. 218). Aus dieser Perspektive deutet Theisohn das Kafkasche Textkonvolut um Beim Bau der chinesischen Mauer.

[37] 

An Kafkas Der Verschollene verfolgt Theisohn schließlich, wie sich in dem Romanfragment zwei Karten übereinander legen. Der Westen fungiere in Der Verschollene nicht nur als Ort der Verbannung, dem der Osten als verlorene Heimstatt gegenüber steht. Denn Karls Wanderung gen Westen lasse sich nicht nur als Fluchtbewegung ins Exil lesen, sondern auch als eine Reise, die aus dem Exil herausführen soll. »[E]in Erwerb im Osten kann nur zustande kommen, indem der Gang nach Westen konsequent bis an seinen äußersten Pol fortgesetzt wird« (S. 234). Insofern Theisohn schließlich einen Bogen zu Theodor Herzls Poetologie der »signifikatorischen Machtübernahme« (S. 104) zurückschlagen kann, gelingt es ihm, im Kafka-Kapitel ein enges und aufschlussreiches Verweisungsnetz herzustellen.

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Fazit

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Philipp Theisohn kommt das Verdienst zu, den Zionismus als literarisches Phänomen ernst genommen zu haben, statt, wie allzu oft üblich, zwischen (vorhandenem oder fehlendem) ›Bekenntnis‹ zum Zionismus und der literarischen Produktion von AutorInnen reflexhaft und schematisch zu unterscheiden. Jede zukünftige literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Zionismus wird sich mit seiner Studie auseinander zu setzen haben. Diese reizt zuweilen zum Widerspruch – aber dies dürfte ja nicht das Schlechteste sein, um die Diskussion über einen in der Forschung bislang eher stiefmütterlich behandelten Gegenstand voranzubringen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, besonders S. 99–113.   zurück
Vgl. Theodor Herzl: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. In: Ernst Piper (Hg.): Theodor Herzl. Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Text und Materialien 1896 bis heute. Berlin, Wien: Philo 2004, S. 9–89, hier S. 36.   zurück
Ebd., S. 24   zurück
Vgl. Martin Buber: Jüdisches Nationalheim und nationale Politik in Palästina, in: M.B. (Hg.): Kampf um Israel. Reden und Schriften (1921–1932), Berlin 1933: Schocken, S. 423–451.   zurück