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Der schmale Band ist eine erste Publikation eines noch von Pierre Bourdieu initiierten und von der Europäischen Gemeinschaft seit 2004 finanzierten europäischen Forscherverbundes »ESSE« (»Pour un espace des sciences sociales européen«).
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Das Hauptanliegen dieses transnationalen und transdisziplinären Netzwerkes von vornehmlich Geistes- und Sozialwissenschaftlern, die die Auseinandersetzung mit dem Instrumentarium der Soziologie Bourdieus eint, gilt der Analyse der Bedingungen der Möglichkeiten und der historischen und gegenwärtigen Realisierung eines europäischen Raums der Geistes- und Sozialwissenschaften wie auch der spezifischen Barrieren, die seiner Konstituierung entgegenstehen. Der Band L’inconscient académique ist eine Vorveröffentlichung von nur vier Referaten der konstituierenden Tagung von ESSE im März 2005 in der Nähe von Genf, organisiert vor allem von dem Soziologen Franz Schultheis. Ihr werden weitere Publikationen folgen.
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Das Thema – die unbewussten Formen, die generativen Denkschemata, die Aprioris des akademischen Denkens – ist für die Reflexion der Genese und Praxis des europäischen Wissenschaftsraums zentral. Bourdieu hatte in zahlreichen Untersuchungen gezeigt, wie im Inneren einer jeden sozialen Gruppe elementare, unbewusste kognitive Schemata zur Herstellung einer spezifischen Weltsicht beitragen. Aus diesen elementaren Formen der Weltwahrnehmung (Bourdieu nannte sie auch »historische Transzendentalien«) bildet sich eine doxa, d.h. ein generatives Ensemble kognitiver Schemata, die sich quasi ›von selbst verstehen‹ und daher ihrer rationalen Begründung enthoben sind. Diese ›blinden Flecke‹ sind konstitutiv für eine gruppenspezifische Kommunikation, so auch für die akademische, die sich jeweils im Filter der nationalen und disziplinären Traditionen bricht. Dabei kommt dem Schulsystem und seiner elementaren und massenhaften Vermittlung legitimer Denk- und Zugangsweisen zu den kulturellen Gütern bei der Reproduktion des (nationalen) Staates eine zentrale Rolle zu. Der Bologna-Prozess, der für eine politisch geforderte und in den Wissenschaften zum Teil bereits weitgehend strukturell umgesetzte Vereinheitlichung der europäischen wissenschaftlichen Parcours steht, bedeutet eine grundlegende Neuordnung der akademischen Gewohnheiten, die es zu reflektieren gilt.
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Von dem Bändchen geht ein Appell aus: dass die Reflexion der elementaren Strukturen der akademischen Praxis von den betroffenen Wissenschaftlern selbst geleistet werden muss. Diese kollektive, reflexive Objektivierung der eigenen Praxisformen orientiert sich, wie die Herausgeber betonen, an verschiedenen Leitperspektiven: a) an einer Perspektive der nationalen Traditionen, b) an einer komparatistischen Perspektive, die im Vergleich die jeweiligen Besonderheiten und Interferenzen in der Architektonik der verschiedenen nationalen Traditionen beleuchtet und c) an einer Perspektive der »Dezentralisierung« der wissenschaftlichen Objektivierungspraxis. Damit ist eine intellektuelle Distanzierung, eine ›Entnaturalisierung‹, d.h. eine »Verfremdung« (im Sinne Brechts; S. 12) der vor- und unbewussten, ›sich von selbst verstehenden‹ Denkschemata gemeint, um die eigene wissenschaftliche Praxis reflexiv kontrollieren und in einer »Realpolitik der Vernunft« vertreten zu können.
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Die integrative und die ausgrenzende Funktion des verinnerlichten legitimen Verhältnisses zu den kulturellen Gütern
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Vorangestellt ist den Beiträgen ein früher, für das Forschungsprojekt gewissermaßen programmatischer Aufsatz von Bourdieu, der die Bedeutung und die zentralen Implikationen der Verknüpfung von Lehr- und Denksystemen
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für eine Soziologie der institutionalisierten Tradierung der legitimen kulturellen Verhaltensweisen beleuchtet. Ausgehend von Durkheim, der den Akzent auf die ›moralische‹ Integration der Schule legte, interessierte sich Bourdieu für die kulturelle Integrationsfunktion der institutionalisierten Lehre. Die in der Institution der Schule erworbene Kultur stattet die sie durchlaufenden Individuen mit einem ›Set‹ gemeinsam geteilter Denkkategorien aus, die die ›spontane‹ Kommunikation unter ihnen ermöglicht.
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Dieser gemeinsam geteilte Vorrat an generativen Mustern macht den weitgehend unbewusst anerkannten ›Zeitgeist‹ oder ›Stil‹ einer Epoche (Kunststil, Lebensstil, Denkstil etc.). aus. So können die ›gebildeten‹, ›kultivierten‹ Leute einer bestimmten Zeit zwar uneins sein in der Diskussion der Themen. Ihre Zeitgenossenschaft zeigt sich aber in der sich ihnen ›aufdrängenden‹ Problematik – ein Umstand, der den Konsens im Dissens zum Ausdruck bringt, der in der Perspektive eines Beobachter außerhalb der Kommunikationsgemeinschaft seine Selbstverständlichkeit verliert und Fragen aufwirft.
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Die Bestimmung der intellektuellen Zeitgenossenschaft über das kulturell Unbewusste in Form von generativen Schemata hatte Bourdieu aus der Rezeption der Arbeiten von Erwin Panofsky entwickelt, der nach der Möglichkeit der zeitgenössischen Übereinstimmung von Schemata des scholastischen Denkens und Schemata kultureller Produktion wie etwa der Architektur fragte. Daraus entstand der Begriff des formierenden Habitus als generatives, strukturiertes und strukturierendes Prinzip, das in Form von Homologien in den verschieden (Sub-) Feldern wirkt. Der Beitrag des Kognitionswissenschaftlers Aaron V. Cicourel (»Les manifestations institutionnelles et quotidiennes de l’habitus«) versucht diesen Habitus-Begriff zu erweitern, indem er (ähnlich wie Ervin Goffmann mit seinem Begriff der ›totalen Institution‹) die allgegenwärtige Wirksamkeit von sozialen Institutionen bis in die frühsten und feinsten Formierungen mentaler Mechanismen (unbewusste Sozialisation) aufzeigt.
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Bourdieu weist darauf hin, dass die Schule insofern in besonderer Weise Inhalt, Form und den ›Geist‹ einer bestimmten Kultur modifiziert, als sie das kollektive Erbe, das sie tradiert, umwandelt in ein individuelles und kollektives Unbewusstes, in eine verschleierte Disposition für das legitime Symbolische einer Epoche oder Gesellschaft (S. 29). In der Wissenschaft (re-)produziert dasjenige, was ›denkbar‹ bzw. ›undenkbar‹ ist, eine Hierarchie der legitimen Studienobjekte, die sich nicht erklären muss und damit implizit systematisch andere Gegenstände oder Aspekte ein- und ausschließt. So ist auch der wissenschaftlich legitime ›Geschmack‹ nichts anderes als die Kunst, Unterschiede zu setzen bzw. ab- und auszugrenzen. Diese unbewussten ›Geschmacksurteile des Legitimen‹ sind damit zugleich (unbewusste) Werturteile, die immer auch die Bedingungen in sich tragen, unter denen die jeweilige Aneignungstechnik der legitimen kulturellen Güter erfolgte. So unterscheidet sich der Autodidakt auf dem ersten Blick vom Absolventen einer Schule.
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Zur Selektionsfunktion der verinnerlichten Instrumente zum Erwerb kultureller Güter kommt ihre Integrationsfunktion. So betonte Bourdieu schon früh mit T. S. Eliot, was unsere ›Epoche‹ nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zunehmend zu prägen scheint, nämlich dass der Erwerb kulturellen Kapitals das Instrument par excellence für die Integration und Distinktion der gesellschaftlichen Eliten und damit für die Reproduktion sozialer Ungleichheit ist (S. 33). Der dominante, selbstverständlich auftretende kulturelle Umgang prägt und bestätigt die jeweilige Definition der legitimen Kulturformen. Entsprechend liegen in den unterschiedlichen Aneignungsweisen des Wissens auch die Ursachen für die ›Berührungsängste‹ bzw. Abgrenzungsbestrebungen der verschiedenen ›Denkschulen‹ und Disziplinen, die in Konkurrenz um die Definition des legitimen kulturellen Verhältnisses stehen. Nach den jeweils vertretenden Modalitäten der intellektuellen Handlungsweise strukturiert sich das wissenschaftliche Feld. Ihnen entsprechen die Trennungen der Schultypen (eher technisch-naturwissenschaftlich, eher humanistisch-geisteswissenschaftliche etc.), denen wiederum Trennungen im sozialen Raum entsprechen.
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Das Verhältnis zur Kultur hat also eine doppelte Funktion: Es vereinigt durch gemeinsam geteilte Dispositionen, die eine Kommunikation ›wie von selbst‹ ermöglichen, und es trennt. Es sind insbesondere die ›charismatisch‹ vertretenden Kulturgüter des ›Desinteressierten‹, die die Funktion der Errichtung kultureller Barrieren ausüben. Um diese ›auratische Verschleierung‹ einer Exzellenz zu objektivieren, gilt es, die institutionellen Bedingungen der ›kultivierten Klasse‹, der ›intellektuellen Persönlichkeit‹, die expliziten und impliziten Hierarchien der intellektuellen Tätigkeiten, der jeweiligen Disziplinen und in jeder Disziplin wiederum die Rangordnung des Prestiges der Fragen, Untersuchungen etc. zu untersuchen. Hinzu kommt die komparatistische Klärung der spezifischen Brechungsformen der nationalen Traditionen.
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Falluntersuchungen
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1. Vom scholastischen Disput zur staatlich organisierten Formierung eines wissenschaftlichen Raums
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In einem Aufsatz über das Unbewusste der schulischen Lehre
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regte Bourdieu an, die Genealogie der institutionalisierten Wissensformen (wie etwa der Dialog, die Disputation, die Dispute der jesuitischen Kollegien usw.) zu erarbeiten. Der Aufsatz von Olivier Christin (»De la dispute au colloque: contraintes et enjeux de la discussion savante XVIe-XVIIe siècles«) stellt einen direkten Beitrag zu dieser Genealogie dar, indem er aufzeigt, wie die Reformation die scholastischen Formen der gelehrten Auseinandersetzung, die im Wesentlichen noch der mittelalterlichen disputatio verpflichtet waren, umstößt bzw. außer Kraft setzt. Wurden zuvor die Thesen der theologischen Meister nur von ihren Schülern in eindeutig untergeordneter Stellung und in einer streng geregelten pro-contra-Argumentation diskutiert, so brach Luther mit dem Druck seiner Thesen fundamental mit dieser institutionellen Rahmung. Durch die Veröffentlichung und durch die Verfassung in der allgemein zugänglichen deutschen Sprache war eine Entwicklung eingeleitet, die den Eintritt der ›gemeinen Personen‹ in die akademische Diskussion erlaubte. Die katholischen Autoritäten waren ab nun gehalten, sich ›öffentlich‹, d.h. in Religionskolloquien zu verteidigen, die von den weltlichen Landesherren organisiert und überwacht wurden und vor einem Publikum stattfanden.
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Damit war eine völlig neue soziale und politische Situation der gelehrten Auseinandersetzung entstanden, die grundlegend die Regeln der legitimen Kontroverse veränderte: Abgesichert durch die übergeordnete politische Protektionsinstanz konnten nun die neu auftretenden intellektuellen Akteure sich einer Rhetorik bedienen, die sich nicht mehr auf die Autoritäten der schriftlichen Überlieferung beziehen musste. Stattdessen galt es, Textbelege innerhalb einer argumentativen Demonstration aufzuweisen, die vom gegnerischen Lager genau kontrolliert wurde. Im Rahmen dieser neuen, vor einem Publikum durchgeführten Diskussionsart, die sich an der Form des Duells orientierte, entwickelte sich auch eine neue Bestimmung der Kompetenz und des intellektuellen Prestiges bzw. Rangs, die sich von der institutionellen Position löste. Schließlich entstand damit auch ein neues Monopol – dasjenige der Kleriker, der Spezialisten für theologische Streitfragen, die die Nicht-Spezialisten zunehmend ausschloss. Da sich diese neuen Formen der Auseinandersetzung bald auch auf andere Wissensbereiche erstreckten, zeichneten sich hierin die Anfänge der Wissenschaften ab.
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2. Die verdrängten Ordnungskräfte der Klassifikationen: das Beispiel der nationalen Literaturgeschichten
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Der Historiker Christophe Charle geht aus von Bourdieus Forderung einer »doppelten Historisierung«, der kollektiven und der individuellen.
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Er wählt sich einen besonderen Gegenstand, dessen Klassifikation unangreifbarer als andere erscheint, da sie einen zentralen Bestandteil der meisten Schullehrpläne ausmacht und damit massenhafte und legitimierte Verbreitung findet: die Geschichtsschreibung der Nationalliteraturen, insbesondere seit dem 19. Jahrhundert. Gezeigt wird, wie diese durch Taxonomien geprägt ist, welche die Werke, die Autoren und die ihnen zugeordneten Epochenbegriffe klassifizieren und hierarchisieren. Charle hält fest, dass es eine relativ geringe Anzahl an Grundbegriffen gibt (klassisch, romantisch, modern, symbolistisch, naturalistisch, realistisch etc.), die die ›Erzählung‹ bzw. ihre Zusammenführung in einer monographischen Perspektive strukturieren. Hinzu kommt, dass diese Groß-Klassifikationen recht nahe an Werturteilen grenzen und daher sowohl auf (historischen) Tatsachen- als auch auf Geschmackskriterien referieren. Schließlich weist Charle auf die interne Hierarchisierung im Subfeld der Literaturgeschichtsschreibung hin, in der oft diejenigen dominieren (hinsichtlich des Prestiges), die sich mehr dem ›Text‹, dem ›Genuss‹ der inspirierten und interpretativen Lektüre verschreiben, im Unterschied zu den eher sozialgeschichtlich orientierten Literaturgeschichtsdarstellungen.
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Die verdeckten Hierarchien lassen sich auch anhand der in der Schule und in den universitären Seminaren am meisten interpretierten Autoren aufweisen: Auch hier zeigt sich der Vorrang der ›reinsten‹ Autoren, die am meisten der historischen Betrachtung enthoben und soweit von den kollektiven Etikettierungen der Geschichtsschreibung befreit sind, dass ihr Eigenname zu einer zeitlosen ›Marke‹ und Instanz der ›Selbstweihe‹ (autoconsécration) bzw. der ›Weihe‹ für nachfolgende Epigonen werden konnten (»baudelairesche«, »stendalsche«, »proustsche« etc. Schreibweisen; S. 71). Die verdeckte und anhaltende Auseinandersetzung um die legitime Klassifizierung unter den Professionellen der literarischen Klassifikation beruht letztlich auf einem begrenzten Vorrat an Klassifikationen, analog zu den wenigen Klassifikationen, die dem Lehrer zur Beurteilung der Schüler zur Verfügung stehen. Innerhalb der Großkategorien (Romantik, Symbolismus etc.) werden wiederum diejenigen Autoren bevorzugt, die am meisten der akademischen Definition entsprechen im Gegensatz zu denjenigen Autoren, die mehr den historischen, den sozialen, den politischen oder den engagierten Praktiken bzw. Stilen zugeordnet werden. Dabei stellen Unternehmen der Relektüre meistens den Versuch dar, Autoren aus dem ›niedrigeren‹ in den ›nobleren Bereich‹ der jeweiligen Epochen-Etikettierung zu ziehen.
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Charles Historisierung der institutionalisierten literaturgeschichtlichen Klassifikationen (konkretisiert am französischen Beispiel des 19. Jahrhunderts) bestätigt die fließenden Übergänge zwischen den wissenschaftlichen Praktiken und denen ihrer pädagogischen Vermittlung. Ferner wird der Einfluss der Auseinandersetzungen zwischen den Spezialisten um die partiellen Revisionen der Klassifikationen deutlich. Da die (schulisch verbreitete) Literaturgeschichtsschreibung wesentlich zur Konstruktion von nationalen Identitäten beiträgt, sind ihre Kategorien auch vom spezifischen nationalen Status der Literatur geprägt. Auch die Inkohärenzen, das Ausmaß der Unterschiede und zeitlichen Verschiebungen der Kategorisierungen innerhalb der nationalen Literaturgeschichten, selbst bei transnational anerkannten Epochen-Schemata wie Realismus, Romantik, Symbolismus etc., deuten auf die Funktion der positiven oder negativen Legitimation. Ein gleiches gilt für die Entscheidung für oder gegen eine Übersetzung fremder Literaturen. Dabei richten sich die unbewussten Auseinandersetzungen um die mobilisierten Kategorien oder um die bevorzugten Übersetzungen nach verschiedenen Maßstäben aus: so vor allem nach dem ›Alter‹ der Etablierung der jeweiligen Literatur als nationale,
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nach dem Maßstab ihrer autonomen oder heteronomen Funktion bezüglich der politischen, sozialen oder ökonomischen Kräfte und nach dem Maßstab ihrer Stellung in der Auseinandersetzung um die Stärkung der nationalen Sprachen und Identitäten in der europäischen Konkurrenz.
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3. Der paradigmatische Fall der »scholastischen Illusion«
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Der Philosoph Jacques Bouveresse widmet sich in seinem Beitrag
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– ausgehend von Bourdieus grundlegender Kritik der scholastischen Vernunft in seinen Meditationen – der Sozioanalyse der Philosophie als privilegierte Denkhaltung, die die nicht-philosophischen Bedingungen und Voraussetzungen ihrer distinguierten Stellung unreflektiert lässt: die tendenzielle Verdrängung des Geschichtlichen, die illusio der Philosophie als Wissenschaft der Grundlegung und die Weigerung, das objektivierende Subjekt selbst zu objektivieren. Die von Bourdieu analysierte allgemeine Form der scholastischen Vernunft gilt paradigmatisch für alle Formen geisteswissenschaftlichen und künstlerischen Denkens, die sich selbst über die Distinktion und Exklusivität ihrer Wahrheitssuche bestimmt (libido sciendi, l’art pour l’art).
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Bouveresse setzt sich als Philosoph mit der Kritik der sozialen Epistemologie Bourdieus an der scholastischen Denkhaltung auseinander, mit der kritischen Reflexion ihrer ungedachten, stillschweigenden Voraussetzungen, die vor allem in der Selbstverortung in einem von den Zwängen der Zeit und der sozialen Welt enthobenen Standpunkt besteht. Die soziologische Anamnese dieser weitgehend von den Philosophen verdrängten Voraussetzungen ihrer Reflexion (Bouveresse verweist auf Ausnahmen wie Pascal, Austin und Wittgenstein) führt nicht zu einem zerstörerischen Relativismus. Stattdessen kann eine ernsthafte Selbstobjektivierung zur Erkenntnis der Bedingungen der Möglichkeit und der Logik der Praxisformen des »ernsten Spiels« der scholastischen Wahrheitssuche führen. Diese wird dadurch nicht entwertet, sondern als bedingte in ihrer Ambivalenz erkennbar: Zum einen begründet sich das scholastische Universum notwendigerweise auf der Distanz-Setzung ökonomischer und sozialer Bestimmungen, wodurch das Risiko ihrer Abschließung, ihrer ›Weltfremdheit‹ gegeben ist. Zum anderen bedeutet aber diese scholastische Abschließung auch die konstitutive Voraussetzung zur Entstehung derjenigen autonomen Felder, die nur ihr eigenes Gesetz zur Ausübung ihres ernsten Spiels anerkennen. Es geht also um die Aufklärung des wissenschaftlichen Habitus des Desinteresses, um die Erkenntnis des (legitimen) Interesses am Desinteresse.
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Fazit
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Aus deutscher Sicht kommt in den Beiträgen dieses Bandes eine allgemeine Problematik in spezifisch französischer Brechung zum Ausdruck: so der in Frankreich besonders wirkungsmächtige traditionelle Konnex von Staat und Schulsystem bzw. Bildungssystem, die besondere Rolle des nationalen kulturellen Erbes, wie sie sich in der Bedeutung der schulisch vermittelten nationalen Literaturgeschichte widerspiegelt, und die spezifisch französische dominante Stellung der Philosophie und des scholastischen Denkens als besondere Form eines Geistesaristokratismus. In Deutschland scheint dagegen die transdisziplinäre Aufbrechung der Schranken, insbesondere der Geisteswissenschaften hin zu den Kulturwissenschaften, und der reflektierte Dialog der nationalen Traditionen weiter fortgeschritten zu sein.
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Dieser Eindruck berührt indessen in keiner Weise die zentrale Bedeutung und Tragweite des von ESSE verfolgten Forschungsprogramms: In einer Zeit der grundlegenden Transformationen der Lehrsysteme, der Studiengänge und der wissenschaftlichen praktischen Gepflogenheiten im Zuge des Bologna-Prozesses ist die reflexive Aufklärung der vor- und unbewussten, sowohl institutionell als auch habituell verkörperten Formen und Modalitäten wissenschaftlichen Denkens das legitime und notwendige Metier der Sozial- und Geisteswissenschaftler (wobei auch die Einwirkungen des naturwissenschaftlichen Denkens reflektiert werden müssen). Das Programm einer reflexiven transdisziplinären und transnationalen Sozial- und Geisteswissenschaft fordert einerseits die Anamnese des Verdrängten und die Erkenntnis der ›Naturalisierung‹ von Leitkonzepten und Klassifikationen ein, die – dies gilt es zu betonen – für die Ausdifferenzierung autonomer Wissenschaftsfelder konstitutiv waren und weiterhin sind. Andererseits wird eine Analyse der realen Hindernisse einer freien Zirkulation der Ideen und des Denkens eingefordert. So zeigt sich hier also ein Aufruf zu einer von der Vernunft kontrollierten Verfremdungsarbeit, zur epistemologischen (Wieder-)Aneignung des Unbewussten der wissenschaftlichen Praxis, um nicht der ›natürlichen Notwendigkeit‹ qua Verinnerlichung und stillschweigender Anerkennung zu unterliegen. Sich wissenschaftlich zum Bologna-Prozess zu verhalten heißt, so der hier gegebene Impuls, den mühsamen, aber nachhaltigen Umweg über das komparatistische Verstehen der historischen Genese der Formen wissenschaftlicher Praxis im europäischen Raum zu gehen.
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