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Mikro-Philologie

Eine Spurensuche in und nach Walter Benjamins Kindheitserinnerungen

  • Davide Giuriato: Mikrographien. Zu einer Poetologie des Schreibens in Walter Benjamins Kindheitserinnerungen (1932-1939). (Zur Genealogie des Schreibens 5) München: Wilhelm Fink 2006. 324 S. 13 farb. Abb. Kartoniert. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 978-3-7705-4274-1.
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Die Editionen von Walter Benjamins Berliner Kindheit um 1900 standen und stehen vor einer Reihe von Herausforderungen, deren größte schlicht darin liegt, dass es keinen abgeschlossenen Text gibt. In den verschiedenen Manu- und Typoskripten der Jahre zwischen 1932 und 1938 erscheinen die einzelnen Textstücke, aus denen die Berliner Kindheit besteht, nicht nur in anderer Reihenfolge, sie haben auch in sich eine andere Gestalt. Und das »Pariser Typoskript« aus dem Jahre 1938, das erst 1981 von Giorgio Agamben in der Biliothèque Nationale entdeckt wurde 1 und 1987 als »Fassung letzter Hand« in der Bibliothek Suhrkamp erschien, 2 kann kaum als endgültige Buchfassung gelten: Nicht nur lag diesem Typoskript eine Notiz mit der Überschrift »Noch umzuarbeiten« bei, unter der neun Titel aufgeführt sind, von denen immerhin sieben nicht im Typoskript stehen (während die restlichen zwei, im Typoskript enthaltenen, durchgestrichen sind, vgl. S. 263 f.). Auch aus dem Jahre 1939 gibt es noch Funde, wie das post scriptum Giuriatos berichtet: Entwürfe zu Der Strumpf und Schülerbibliothek, die 2005 im Walter-Benjamin-Archiv in Berlin entdeckt wurden (vgl. S. 268). Was also ist die Berliner Kindheit?

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»Was ist die Berliner Kindheit?«

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Mit dieser Frage setzt Giuriatos Arbeit ein (S. 10), und sie zieht eine Reihe von weiteren Fragen nach sich: die nach der Überlieferungs- und Editionsgeschichte, nach den Textträgern, den fortwährenden Bearbeitungen Benjamins und, nicht zuletzt, der Poetologie dieser Kindheitserinnerungen. Während die Editionsgeschichte der Berliner Kindheit, allen Unsicherheiten zum Trotz, an der Suche nach ›dem‹ Werk prinzipiell festhielt, lässt sich in der Forschung ein sukzessives Aufbrechen dieser Prämisse feststellen. Die Konsequenz zog erstmals Nicolas Pethes in seiner Arbeit Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin (1999) in voller Tragweite, der die Prozessualität der Berliner Kindheit nicht nur in Sicht auf die Textgenese herausstellt, sondern sie als immanente Poetik des Textes selbst deutet: Der »Umarbeitungsprozeß selbst [ist] als Teil des Erinnerungsprozesses zu lesen«, die »Stillegung« der Erinnerung werde von Benjamin durch stetiges Umschreiben vermieden. 3 Über den Begriff der graphé als materielle Spur des Schreibens und als körperliche »Geste, die die Erinnerung entwirft, ohne die vollständige Präsenz des Vergangenen zu behaupten«, 4 führt Pethes diese Poetik der Erinnerung auch mit der schriftlichen Verfasstheit der Berliner Kindheit eng: Die Erinnerungen konstituieren sich in einem Schriftraum, von dem sie nicht zu trennen sind. Das »Moment[] der Produktion des Textes« als Prozess der graphé in ihrer »radikale[n] Jetztzeit« 5 scheint als Bild in den Erinnerungsstücken durch – was mit ihrer Unabschließbarkeit korrespondiert.

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Giuriato radikalisiert Pethes’ Deutung, indem er erstens die Materialität der Textzeugnisse als solche in seine Untersuchung einbezieht – ein Schritt, den Pethes nicht gegangen ist, womit die Rede von der graphé bei aller Betonung der Materialität der schriftlichen Spur letztlich vor allem das semantische Potential der ›Erinnerungsgeste‹ entfaltet. Zweitens geht Giuriato von einem Begriff des Schreibens aus, der vor der Schrift anzusiedeln ist. Mikrographien bewegt sich damit innerhalb der jüngsten Schreibforschung 6 – die Arbeit entstand im Rahmen des Münchner Graduiertenkollegs »Textkritik als Grundlage und Methode historischer Wissenschaften« und des Basler Projekts »Zur Genealogie des Schreibens« –, die die Aufmerksamkeit auf das konkret Prozesshafte des Schreibens in all seinen Faktoren lenkt und ihre Wurzeln in der französischen Schule der critique génétique hat, die »Form und Verlauf des Schreibens« 7 selbst untersucht und die klassisch-editionsphilologische Unterscheidung zwischen ›dem‹ Text einerseits, ›Vorstufen‹, ›Varianten‹ oder ›Fassungen‹ andererseits kritisiert, da Letztere damit marginalisiert werden.

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In Sicht auf die Berliner Kindheit, oder besser: die Kindheitserinnerungen Benjamins zwischen 1932 und 1939 (die 1932 mit der Berliner Chronik einsetzen, ja ›Vorläufer‹ schon in Texten der Einbahnstraße von 1928 haben, vgl. S. 72), macht Giuriato mit diesen Vorgaben ernst. Eines sei vorweg gesagt: Den Thesen und Erkenntnissen dieser Arbeit wird sich jede weitere Beschäftigung mit Benjamins Kindheitserinnerungen stellen müssen.

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Schreiben

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Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert: Teil I widmet sich in drei Kapiteln der »Benjaminschen Poetologie des Schreibens«, wie sie in den Kindheitstexten fassbar wird, Teil II analysiert vor diesem Hintergrund – wiederum in drei, chronologisch fortschreitenden Kapiteln – die Texte von 1932 bis 1938 in einem sehr genauen Blick auch auf die Textträger und ihre konkrete schriftliche Gestalt (die, so das Postulat der Arbeit, von den Texten eben nicht zu trennen sind), Teil III schließlich bietet eine umfassende Dokumentation nicht nur der Editions-, sondern auch der Entstehungsgeschichte. Die theoretischen Voraussetzungen der Arbeit in Sicht auf den Begriff ›Schreiben‹, die im ersten Teil entwickelt werden, sind dabei grundlegend.

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Giuriato unterscheidet zwischen »Hand-Schrift«, »Hand-Schreiben« und dem »Geschriebenen, das als hinterlassene Manifestation stets nachträglich ist und deswegen begrifflich zu differenzieren ist«, kann es doch als Repräsentation der Hand-Schrift oder als materielle Spur des Schreibaktes, des Hand-Schreibens gelesen werden (S. 48). Die Arbeit legt ihren Fokus dabei deutlich auf das Hand-Schreiben als »›Mehrwert‹« der Hand-Schrift, ein Mehrwert, der in der Singularität ihres Vollzugs liegt (ebd.): In dieser Perspektive steht nicht so sehr die Schrift als überdauerndes Zeugnis und ›Ergebnis‹ des Schreibens im Vordergrund, sondern vielmehr der Prozess des Schreibens selbst, der allerdings per se nicht beobachtbar, sondern nur über seine materiellen Spuren – das Geschriebene – rekonstruierbar ist.

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›Schreiben‹ wird weiterhin über den Begriff der »Schreibszene« nach Rüdiger Campe 8 in seinen drei Aspekten der Instrumentalität, der Körperlichkeit und der Sprachlichkeit entfaltet (S. 49–56): Die Instrumentalität betrifft die konkreten Mittel zum Schreiben – bei Benjamin eine sorgsame Aufmerksamkeit auf Papierqualität und Füllfederhalter. Die Körperlichkeit liegt in der Bewegung der Schreibhand: Das stetige Abschreiben einzelner Textstücke entfaltet bei Benjamin eine erneute Produktivität, die an die Re-Produktion offenbar gebunden zu sein scheint – auch und gerade in ihrer mechanischen Komponente. Die Sprachlichkeit schließlich betrifft die semantischen Aspekte des Schreibens. Giuriato unterscheidet hier zwischen ›Selbstthematisierung‹ und ›Selbstreflexion‹: Während in der Selbstthematisierung etwa die Instrumentalität oder die Körperlichkeit des Schreibens selbstbezüglich verhandelt werden, betrifft die Selbstreflexion des Schreibaktes »die Figur ihres Mitgeteiltwerdens« auf einer Ebene, die »nicht im Sinne einer metatextuellen Mitteilung verfügbar ist« (S. 56). Angesprochen sind hiermit Phänomene der Materialität des Geschriebenen, wenn diese selbstbezüglich zum Text stehen.

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Das explizierende Beispiel, das Giuriato anführt (S. 57–59), sei hier vorgestellt, um das Gegenstandsfeld der Arbeit deutlich zu machen: In vier handschriftlichen ›Fassungen‹ des 1933 in der Frankfurter Zeitung erschienenen Textes Der Lesekasten kreist die Beschreibung der Lettern, aus denen das Kind einzelne Wörter zusammensetzen kann, in verschiedenen Variationen immer um den Aspekt ihres Geschriebenseins: Die Rede ist von »Lettern in Schreibschrift«, »Schreibbuchstaben«, »Schreibschriftlettern« sowie wiederum »Lettern in Schreibschrift«. Im Gießener Typoskript aus dem Winter 1932/33 steht dann allerdings »Lettern in deutscher Schrift«, was den Fokus verschiebt und das Element ›Schreib-‹ herauskürzt. »Die einzelnen Überlieferungsträger, so kann man auch sagen, behaupten ihre spezifische Medialität und stellen in diesem Sinne auch verschiedene Texte dar« (S. 59) – so Giuriatos Fazit. Ihm wird es im zweiten Teil der Arbeit an verschiedenen Beispielen gelingen, das komplexe Bedingungs- und Verweisungsgefüge zwischen der Materialität des Geschriebenen (als Spur des Schreibens mehr denn als Repräsentation von Schrift) und den Themen der einzelnen Texte aufzuzeigen.

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Der Ausgangspunkt der Arbeit – ein Ernstnehmen auch der materiellen und gestischen Komponenten des Schreibens – ist damit benannt. In diesem Zusammenhang muss auf eine erste Schwierigkeit der Arbeit hingewiesen werden: die extreme Verschachtelung des Ausdrucks, die sich paradigmatisch an den häufig wiederkehrenden Wenn-Dann-Konstruktionen zeigt und Folgen auch in Sicht auf die Argumentation nach sich zieht. So heißt es, um ein Beispiel anzuführen, auf S. 121:

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Wenn es zutrifft, daß das Schreiben der Erinnerung immer auch ein Bild dessen, der sich erinnert, gibt, wie Benjamin bei Proust beobachten konnte, wenn die Problematisierung des Schreibens also, wie sie für Benjamins Poetologie skizziert worden ist, vornehmlich darin besteht, daß sich das Schreiben stets auf der Suche nach dem eigenen Selbstporträt befindet, dann gehören die Fragen nach der Instrumentalität und nach der Geste, also nach dem Wie und nach dem Wer des Schreibens ebenso sehr in dieses Spiegelkabinett des Schreibens wie die Frage nach dem Wo des Schreibens.
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Die Folgerungen hängen tatsächlich stark davon ab, wie man ›Bild‹ und ›Selbstporträt‹ definiert – Instrumentalität und Geste (die, nebenbei gesagt, nur unter Auslassung der Differenz zwischen Hand und Person mit »dem Wer des Schreibens« gleichgesetzt werden kann) gehören nur dann zum Selbstporträt des Schreibens dazu, wenn man – was Prämisse der Arbeit ist – ›Schreiben‹ über die drei Faktoren Sprache, Instrumentalität und Körperlichkeit definiert. Dass diese Definition zum Ausgangspunkt der Analysen gemacht wird, ist gerade die Stärke der Arbeit, schwierig sind aber – gerade bei ihrem gehäuften Auftreten – solcherlei Konstruktionen, die dazu neigen, die Setzungen der Arbeit zu verschleiern. Unbegründet, im »also« aber als zwingend angelegt, bleibt in dieser Satzkonstruktion der Übergang von »Bild dessen, der sich erinnert« (also der Person) zu »Selbstporträt« des Schreibens – wenn hier in der Formulierung »daß sich das Schreiben stets auf der Suche nach dem eigenen Selbstporträt befindet« mit »eigenen« überhaupt das Schreiben und nicht die Person gemeint ist. Wäre aber die Person gemeint, dann wären die mit ›dann‹ folgenden Schlüsse wiederum nur dann zwingend, wenn man Schreibwerkzeug und Geste des Schreibens von vornherein als konstitutiv für die Bestimmung der (schreibenden) ›Person‹ annimmt – was noch einmal eine Setzung ist.

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Die Wenn-Dann-Konstruktionen suggerieren also eine argumentativ notwendige Folge, die bei näherem Hinsehen notwendig nur dann ist, wenn den Setzungen der Arbeit in Sicht auf den zu Grunde gelegten Begriff des ›Schreibens‹ generell gefolgt wird. Nun sind diese Setzungen als methodischer Ausgang von Giuriatos Zugriff durchaus legitim, der überkomplexe Ausdruck der Arbeit neigt jedoch zu Konstruktionen des Pseudo-Konsekutiven im Einzelnen, die die Prämissen immer wieder neu zu begründen suchen – was die Lektüre erheblich erschwert. Festgehalten werden muss bei dieser Kritik andererseits, dass die übergreifende Verfahrensweise der Arbeit, nämlich das Aufzeigen der Verschränkung von Materiellem und Poetologischem in Benjamins Texten, dessen ungeachtet funktioniert und überzeugende Ergebnisse liefert.

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Teil I:
»Zu einer Benjaminschen Poetologie des Schreibens«

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Der von Giuriato unternommene Blick auf die Materialiät der Texte erfolgt dabei nicht kontextlos, sondern wird in die »Benjaminsche Poetologie des Schreibens« (der Kindheit, so möchte man die Überschrift ergänzen) eingeordnet, wie sie der erste Teil der Arbeit unter Rückgriff auf die Stücke der Berliner Kindheit und Texte aus deren Umkreis entwirft, in denen das Schreiben der Kindheit und der Erinnerung verhandelt werden. Eine zweite Schwierigkeit der Arbeit wird hier deutlich: die etwas unklar bleibende Begriffsverwendung gerade des zentralen Terminus der Arbeit, der ›Mikrographie‹. Aufgrund der Komplexität und Dichte von Giuriatos Darstellung muss im Folgenden kleinteilig vorgegangen werden.

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Mikrographie

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In einem ersten Schritt geht Giuriato zunächst von Benjamins kulturgeschichtlichem Interesse an der Kindheit in den 1920er Jahren aus und präzisiert dies als besonderes Interesse »am Eintritt des Kindes in die Sprache und zugleich die Schrift« (S. 21). Die Besonderheit ›kindlichen Schreibens‹ liegt im Prozess des Schreiben-Lernens, der für den Erwachsenen unverfügbar ist: Der Schritt zurück vor die Schrift kann nicht wiederholt werden. Eine der entscheidenden Thesen der Arbeit liegt nun darin, dass dieses einmalige und vergangene Moment von Benjamin für eine kindliche Erfahrung des Erwachsenen geltend gemacht wird (S. 22), die letztlich im Schreiben selbst liegt: Das Schreiben stelle

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so betrachtet die Kindheit der Schrift dar[], die als deren vergessener Ursprung in der Schrift selbst am Werk ist und genau dann in ihr den Hiat zwischen der kleinen, versteckten, äußerlichen und gespensterhaft-unverfügbaren Welt des Schreibens und dem großen ›Reich der Schrift‹ ausstellen kann, wenn die Schrift (des Erwachsenen) schreibend eine Einstellung dazu gewinnt, daß sie ihm nicht immer schon wesengemäß war und hat erlernt werden müssen […]. (S. 23)
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Unter dem ›kindlichen Schreiben‹ versteht Giuriato im Folgenden (zumeist) in einem übertragenen Sinne diese Erfahrung des Hiats zwischen Schreiben und Schrift sowie des Hiats zwischen dem Schreibenden und dem Geschriebenen, die im Hand-Schreiben aufbewahrt bleibt.

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In einem zweiten Schritt wird der für Benjamin wichtige graphische Aspekt der Handschrift herausgestellt und Benjamins Kleinschrift eine immanente Reflexion auf ihre Materialität wie auf die Bedingungen ihrer eigenen Produktion zugeschrieben, da in ihr die graphische Bildlichkeit des Geschriebenen vor dem eigentlichen semantischen ›Text‹ sichtbar werde (S. 41). Ist die Mikrographie also ein ›kleines Schreiben‹ schon im wörtlichen Sinne – ein ›kleines Schreiben‹, dem die Reflexion auf seine eigene Entstehung eingeschrieben ist – so »kann [sie] den Bezug zum Schreiben des Kindes thematisch oder stilistisch-formal als ›kleine Form‹ herstellen. Man kann auf dieser Ebene ganz allgemein und metaphorisch von einem ›kleinen Schreiben‹ sprechen« (S. 44). Problematisch ist hier schon, dass nicht ganz deutlich wird, ob der Mikrographie der Bezug auf das »Schreiben des Kindes« nun immer eingeschrieben ist oder nur fakultativ (»kann«), weiterhin, ob mit »Schreiben des Kindes« hier das ›kindliche Schreiben‹ im metaphorischen oder wörtlichen Sinne gemeint ist.

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Eine Seite später werden ›Mikrographie‹ und ›kindliches Schreiben‹ dann aber schlicht gleichgesetzt, wenn es heißt:

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Denn wenn es zutrifft, daß das kindliche Schreiben im Verweis auf die produktiven Eigenwilligkeiten sowohl der schreibenden Hand als auch des Schreibgeräts das eigene Schreiben im Zeichen jener Kluft zwischen Schreiber und Geschriebenem thematisiert und wesensgemäß in dieser Kluft handelt, dann wird auch deutlich, daß sich diese Mikrographie zunächst als Frage nach sich selbst artikuliert, als – hier noch weiter zu verfolgende – poetologische Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen ihrer eigenen Entstehung. (S. 45)
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Die auch hier wieder schwierige Wenn-Dann-Konstruktion – denn die konsekutive Folge wird allein durch die Gleichsetzung über den Demonstrativartikel »diese« zwingend – suggeriert gerade durch diese Gleichsetzung, dass der metaphorische Gehalt des ›kindlichen Schreibens‹ nun offenbar doch ein konstitutives und nicht bloß fakultatives Merkmal der Mikrographie ist.

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Im weiteren Verlauf der Arbeit bleibt allerdings oftmals unklar, in welcher Dimension der Begriff nun verwendet wird. Die metaphorische Dimension wiederum wird später auch noch wesentlich erweitert, wenn es im Anschluss an eine Analyse des Stückes Der Lesekasten heißt, die Rede von der ›Mikrographie‹ stehe »zunächst ganz metaphorisch für diesen [in den Kürzungen der verschiedenen Umschriften des Lesekasten deutlich werdenden, D.L.] selbstbezüglichen Hiat zwischen (vergangenem) Schreiben des Kindes und (gegenwärtigem) Schreiben der Kindheit« (S. 102 f.). Neben den Hiat zwischen Schreiben und Schrift, Schreiber und Geschriebenem (›kindliches Schreiben‹) und der impliziten Reflexion auf die eigene Entstehung durch die Kleinheit der Schrift (›Mikrographie wörtlich‹) tritt hier also noch ein weiteres Element der Autoreflexion in die Mikrographie ein. Übrig bleibt, bei der fortschreitenden Lektüre, die Unsicherheit des Lesers, welche Begriffsimplikationen gerade aufgerufen werden. In die überaus differenzierte Text-Arbeit Giuriatos tritt so eine Unschärferelation ein.

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Die Bestimmung des Begriffs ›Mikrographie‹ wird weiterhin vorwiegend immanent geleistet: über die Texte, die das Schreiben der Kindheit thematisieren. Das Fehlen einer Verortung innerhalb des Benjaminschen Schriftbegriffs allgemein sowie seiner Sprachphilosophie ist, wenn auch im Kontext der Arbeit durchaus verständlich, bedauerlich.

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Auto’graphie

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Im Anschluss an die (erste) Bestimmung von ›Mikrographie‹ im ersten Kapitel führt Giuriato im 2. Kapitel den Begriff der ›Auto’graphie‹ ein: Der Apostroph markiert das in den Kindheitserinnerungen eben nicht präsent werdende ›bios‹ als unverfügbar gewordenes, vergangenes Leben, das in diesem jedoch gleichzeitig – in der rhetorischen Bedeutung der Apostrophe als ›Anrufung von Abwesendem‹ – noch durchscheint (vgl. S. 87).

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Benjamins Umgang mit Erinnerungen wird über dessen Auseinandersetzung mit Prousts Erinnerungsschrift präzisiert, wobei vor allem die Bedeutung des Vergessens für das Erinnern akzentuiert wird, das als unverfügbare Bedingung der Erinnerung am Erinnerungsschreiben sozusagen produktiv beteiligt ist. Die damit auch gegebene Unverfügbarkeit der Kindheit, die Proust zu einem stetigen Weiterschreiben führte, welches die Setzer zur Verzweiflung trieb, wird von Benjamin jedoch in anderer Form produktiv gemacht: als stetiges Umschreiben der einzelnen Texte. Die Unabgeschlossenheit der Berliner Kindheit liegt, so die (Pethes folgende) These, daher auch nicht in den sonst von der Forschung oftmals veranschlagten biographischen oder historischen Gründen, Benjamins Exil und den zunehmend schwieriger werdenden Veröffentlichungsbedingungen im dritten Reich. Sie ist als Unabschließbarkeit des Projekts vielmehr in den Erinnerungstexten strukturell und poetologisch angelegt.

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›Umschreiben‹ wird von Giuriato dabei im doppelten Sinne des Wortes und in dreifacher Differenzierung für die Schreibprozesse der Berliner Kindheit veranschlagt (vgl. S. 71 f.): Als Umschreiben (mit Betonung auf der zweiten Silbe) erstens periphrastisch als indirekte Darstellung der Kindheit, zweitens apostrophisch als Anrufung ihrer Abwesenheit; als Um-Schreiben (mit Betonung auf der ersten Silbe) drittens auch methodisch: als Methode des Umwegs und des ständigen Neu-Schreibens, deren einzelne Verfahrensweisen im zweiten Teil der Arbeit dann konsequent entfaltet werden. Die Koinzidenz von Schreib- und Erinnerungsakt steht hier stets im Vordergrund, so dass der Begriff der Mikrographie nun mit dem der Auto’graphie enggeführt werden kann, in dem der Bezug auf die Erinnerung und damit der ›autobiographische Gehalt‹ unter Aussetzung gerade des traditionell Autobiographischen – der Beschreibung des eigenen Lebens – nun zentral werden. Das heuristische Potential dieses Begriffs 9 auch für die Autobiographieforschung ist nicht zu unterschätzen, markiert er doch trennscharf den Übergang eines sich selbst problematisierenden autobiographischen Schreibens zu einem Schreiben, in dem das ›Eigene‹ der Erinnerung so unverfügbar geworden ist, dass allein die Geste des Erinnerns selbst im Akt des Schreibens bleibt.

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Mikro-Philologie

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Das dritte und letzte Kapitel schließlich des ersten, poetologisch ausgerichteten Teils der Arbeit versteht sich als »methodischer Übergang« (so der Titel) und wirft die Frage auf, wie genau nun die Prozesshaftigkeit von Benjamins Schreiben analysiert werden kann. Die Antwort ist konsequent: Unter Verzicht auf die Rede von ›Fassungen‹, ›Vorstufen‹ oder auch ›Varianten‹, die immer noch eine teleologische Ausrichtung des Schreibens voraussetzen, sollen die Umschriften Benjamins in ihrem Eigenwert betrachtet und en detail analysiert werden – sowohl in ihrer Textualität als auch in ihrer Materialität. »In Benjamins Mikrographie klaffen, poetologisch und faktisch, ›Schreiben‹ und ›Textproduktion‹ auseinander, und diese Kluft ist der Ort, an dem die (lineare) Entstehung eines Textes und die Finalität dieses Prozesses in Frage gestellt und aufgehoben werden« (S. 106 f.). Was nun im zweiten Teil der Arbeit als Analysearbeit folgt, ist ein Paradebeispiel für Tragweite und Ertrag einer solchen, auch materiellen Lektüre und kann als implizites Plädoyer für mikro-philologische Genauigkeit gerade bei Benjamin-Lektüren wie auch für die Forderung nach einer »›materiellen Literaturwissenschaft‹« (S. 107, Fn 18) gelten, die ihre Aufmerksamkeit auf die meist vergessene Geschichte der Schriftträger richtet. 10

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Teil II:
»Schreibverfahren in Benjamins
Kindheitserinnerungen«

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Mikro-philologische Detailanalysen können kaum referiert werden, ihnen muss man folgen. Im zweiten Teil seiner Arbeit geht Giuriato in drei chronologisch geordneten Schritten verschiedenen Verfahrensweisen des ›Umwegs‹ und des Umschreibens/Um-Schreibens nach, die Benjamins Kindheitserinnerungen prägen: In der ersten Phase des Schreibens, 1932 (Kapitel 4), sind einzelne Texte von labyrinthischen Schrift- und Textverfahren und topographischen Umwegen auf dem Papier gezeichnet, wobei Selbstthematisierung und Selbstreflexion im Verein mit der Materialität der Textträger eine komplexe Beziehung eingehen: Das Löschblatt, das durchscheinende Pergamentpapier der Berliner Chronik sowie der gefaltete Marginalienrand sowohl des ›Felizitas‹- als auch des ›Stefan-Exemplars‹ bieten hier die Schauplätze eines selbstreferentiellen und eben damit autodifferentiellen, nämlich den eigenen Abstand zu sich selbst implizit bedenkenden Schreibens. So wird der Schritt über die Schwelle des Hauses als Schwelle des Textes in Blumeshof 12 ganz wortwörtlich vollzogen, wenn die Passage als Marginalie auf dem durch Faltung abgetrennten Rand des Manuskripts geschrieben wird (S. 145). Der gefaltete Rand bietet dabei die Möglichkeit des Um-Schreibens bezeichnenderweise auch bei dem als ›Reinschrift‹ gedachten ›Stefan-Exemplar‹ von vornherein an.

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Für die Zeit von 1933 bis 1935 (Kapitel 5) konstatiert Giuriato einerseits die poetologische Produktivität von Streichungen und Weglassungen, die zumeist die Perspektive des Erwachsenen betreffen und den Text daher der Kindheit annähern, andererseits die Produktivität auch der Selbstübersetzungen ins Französische, die Benjamin zusammen mit Jean Selz 1933/34 vornimmt und die wiederum auf die danach entstehenden deutschen Umschriften der Stücke rückwirken (so bei Schmöker/Knabenspiele und dem wichtigen Text Loggien). Dass auch die Übersetzungen zum ›Text‹ der Berliner Kindheit gehören, wird im Zuge der Argumentation mehr als plausibel.

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Kürzungen und sprachliche ›Vermummungsverfahren‹ schließlich prägen die letzte Phase von 1933 bis 1938 (Kapitel 6), in denen Giuriato die zentralen und oft interpretierten Stücke Die Mummerehlen sowie Das bucklichte Männlein in den verschiedenen Umschriften vor allem des »Gießener Typoskripts« von 1933 und des »Pariser Typoskripts« von 1938 in den Blick nimmt. Es sind die Auslassungen und das Aussetzen der Darstellung, die hier poetologisch wirksam werden und vor allem die apostrophische Qualität des Umschreibens und der Auto’graphie herausstellen.

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Die überaus konsequente Textarbeit Giuriatos liest die Kindheitstexte Walter Benjamins so nicht als unabgeschlossenes Projekt, sondern als in sich unabschließbares: Die Textentwürfe zeigen nämlich »alle Zeichen nicht nur des Unfertigen, sondern auch des Unentschiedenen« (S. 300): »Was dabei an Geschriebenem übriggeblieben ist, mußte daher als eine Verkettung von Möglichkeiten betrachtet werden, in denen sich die Kindheitserinnerungen nicht verbindlich realisiert haben.« (ebd.) Damit ist eine Forschungsposition bezogen, die in ihrer Radikalität sicherlich quer nicht nur zu editionsphilologischen Traditionen der Werke Walter Benjamins steht, deren Ergebnisse allerdings andererseits auch für sich sprechen.

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Teil III:
»Dokumentation«

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Der dritte Teil der Arbeit schließlich liefert die Erzählung der Editionsgeschichte und die Dokumentation der Schriftträger von 1932 bis 1939, die beschrieben und (soweit möglich) chronologisch eingeordnet werden – eine nicht hoch genug zu veranschlagende Leistung. Der aufmerksame Leser findet hier oft den Verweis darauf, dass einzelne Texte bislang unpubliziert geblieben sind, teilweise gar bislang unbekannt waren. In Sicht auf die Editionen der Berliner Kindheit ist man versucht zu sagen: allzu oft, um in ihnen bislang wirklich eine Basis der Arbeit mit diesem Text/diesen Texten vorzufinden.

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Fazit

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Giuriatos Arbeit ist nicht nur aufgrund ihres umfassenden und zahlreiche bislang unbekannte Manuskripte präsentierenden dokumentarischen Teils ein Meilenstein der Benjamin-Forschung. Ist schon diese Dokumentation für eine zukünftige Beschäftigung mit Benjamins Kindheitserinnerungen unverzichtbar, so beweist die Arbeit in ihrem analytischen und interpretatorischen Teil darüber hinaus, wie unabdingbar der Blick auf die Materialität der Schriftträger für eine adäquate Beschäftigung mit diesen Texten ist. Die Unschärfe bei der Einführung des zentralen Terminus –›Mikrographie‹ – ist hierbei zwar bedauerlich, zeitigt aber keine schwerwiegenden Folgen in Sicht auf die im besten Sinne philologische, nämlich mikro-philologisch sehr genau verfahrende Textarbeit Giuriatos: Mikrographien liest sich – trotz der oben konstatierten argumentativen Verschachtelungen – dabei im Ganzen wie ein philologischer Thriller.

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Selbst wenn man die Vorannahmen der Arbeit in Sicht auf die zu Grunde gelegten Begriffe von ›Schreiben‹ und ›Text‹ nicht teilen sollte, wird eine Beschäftigung mit Giuriatos Thesen und Erkenntnissen unabdingbar sein. Die von Giuriato durchgeführte Rekonstruktion der Verschränkung von Material, Schreiben, Schrift und ›Text‹, wie sie in den einzelnen Textstücken der Berliner Chronik und der Berliner Kindheit über die Jahre hinweg gegeben ist, verweist auf eine »Benjaminsche Poetologie des Schreibens«, die in sich unabschließbar und an ihren materiellen Schauplatz eng gebunden ist.

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Auf die anstehende Edition der Berliner Kindheit in der angekündigten kritischen Ausgabe von Benjamins Schriften im Suhrkamp-Verlag darf man nun mehr als gespannt sein, wobei, mit Giuriato selbst, hinzugefügt sei: »Keine Edition ersetzt das Archiv« (S. 215, Fn 27) – was Mikrographien eindringlich vorführt.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Giorgio Agamben: Un importante ritrovamento di manoscritti die Walter Benjamin. In: Aut aut 189/190 (1982), S. 4-6.   zurück
Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Mit einem Nachwort von Theodor W. Adorno. Fassung letzter Hand und Fragmente aus früheren Fassungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987.   zurück
Nicolas Pethes: Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin. (Communicatio, Bd. 21). Tübingen: Niemeyer 1999, S. 270.   zurück
Ebd., S. 154.   zurück
Ebd., S. 302.   zurück
Vgl. die bislang erschienenen drei Sammelbände des Basler Projekts ›Zur Genealogie des Schreibens‹: Martin Stingelin (Hg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. (Zur Genealogie des Schreibens, Bd. 1) München: Fink 2004; Davide Giuriato/Martin Stingelin/Sandro Zanetti (Hg.): »SCHREIBKUGEL IST EIN DING GLEICH MIR: VON EISEN«. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. (Zur Genealogie des Schreibens, Bd. 2) München: Fink 2005 sowie dies. (Hg.): »System ohne General«. Schreibszenen im digitalen Zeitalter. (Zur Genealogie des Schreibens, Bd. 3) München: Fink 2006; auch Davide Giuriato/Stephan Kammer (Hg.): Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur. Basel, Frankfurt/M: Stroemfeld/Nexus 2006.   zurück
Almuth Grésillon: Was ist Textgenetik? In: Jürgen Baurmann, Rüdiger Weingarten (Hg.): Schreiben. Prozesse, Prozeduren und Produkte. Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 288-319, S. 288.   zurück
Vgl. Rüdiger Campe: Die Schreibszene. Schreiben. In: Hans Ulrich Gumbrecht und Ludwig K. Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 759-772, S. 760.   zurück
Giuriato lehnt sich hier terminologisch an Roger Müller Farguells Rede vom »›autographischen Text‹« an (vgl. ders.: Penelopewerk des Übersetzens. Walter Benjamin En traduisant Proust – Zum Bilde Prousts. In: Christiaan L. Hart Nibbrig: Übersetzen: Walter Benjamin. Frankfurt/M.: Surhkamp 2001, S. 325-352, S. 342f.) und präzisiert diesen Vorschlag durch den Apostroph.   zurück
10 
Vgl. Jörg Döring: New Philology/Textkritik (Neuere deutsche Literatur). In: Claudia Benthien/Werner Röcke (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hamburg: Rowohlt 2002, S. 196-214 sowie Klaus Hurlebusch: Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise. Prolegomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens. In: Hans Zeller/Gunter Martens (Hg.): Textgenetische Edition. Tübingen: Niemeyer 1998, S. 7-51.   zurück