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Hehrer Anspruch, ernüchternde Realität

Über Jules Verne und die Wissenschaft

  • Rainer E. Zimmermann: Die außerordentlichen Reisen des Jules Verne. Zur Wissenschafts- und Technikrezeption im Frankreich des 19. Jahrhundert. Paderborn: mentis 2006. 350 S. Kartoniert. EUR (D) 48,00.
    ISBN: 3-89785-550-X.
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Zum Gegenstand

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Man sollte meinen, das Wissenschafts- bzw. Technikbild im Romanschaffen Jules Vernes (1828–1905) sei ein erschöpfend untersuchtes Feld, gründet sich der international anhaltende Erfolg des französischen Romanciers doch auf seine allgemein anerkannte Vorreiterrolle, ebenso systematisch wie unterhaltsam naturwissenschaftliche Erkenntnisse in die Gattung des Reise- und Abenteuerromans eingeführt zu haben. Tatsächlich ist dem aber nicht so, und Zimmermanns Arbeit wäre – zumal im deutschen Sprachraum – grundsätzlich dazu angetan, eine Lücke zu schließen.

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Bei dieser Veröffentlichung handelt sich um die Überarbeitung einer Dissertation, die der bereits zuvor promovierte Mathematiker Rainer Ernst Zimmermann im November 1987 an der Technischen Universität Berlin eingereicht hatte. 1 Gegenüber dieser Fassung handelt es sich weniger um eine inhaltliche Überarbeitung, die den aktuellen Forschungsstand einbezieht, als um eine quantitative Ausweitung des ursprünglichen Textes, dem eine biografische Interpretation vorangestellt und ein dem Mythos gewidmeter Teil angefügt wurde, in dem es im Gegensatz zum Vorangegangenen vorrangig um das Romanwerk Karl Mays geht. In einem Nachwort geht Zimmermann auf die seit 1988 publizierte Forschungsliteratur zum Thema Jules Verne insbesondere angloamerikanischer Provenienz ein und weist gleich eingangs auf die nach seiner Auffassung ungebrochene Aktualität seiner eigenen Arbeit hin: »Aus der Sicht des Jahres 2003 bleibt festzustellen, daß in den vergangenen fünfzehn Jahren seit Abfassung des vorliegenden Textes nicht allzu viele neue Einsichten gewonnen worden sind« (S. 385).

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Zum Aufbau der Arbeit

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Die Entscheidung, auf Vernes Vita, insbesondere seine Kindheit und Jugend einzugehen, wäre für die rezeptionsästhetische Ausrichtung von Zimmermanns Arbeit nicht unbedingt notwendig gewesen, aber dem Autor geht es darum zu zeigen, welche »katalytischen Hauptkomponenten« (S. 17) gerade den Anwaltssohn Jules Verne veranlasst haben, sich dem Verfassen von Wissenschaftsromanen zu widmen. Indem er methodisch und terminologisch Sartres Flaubert-Studie L’Idiot de la famille folgt, versucht Zimmermann nachzuweisen, wie Verne zum Schreiben als Mittel zum Überwinden persönlicher, in der Familie angelegter Krisen fand. Aus der romantischen Literatur habe er eine kritische Haltung gegenüber den Naturwissenschaften übernommen. Dabei bezieht sich Zimmermann ausschließlich auf die Werke E.T.A. Hoffmanns und Edgar Allan Poes, in denen er eine Reihe konstitutiver Motive vorfindet, die er später auch in Vernes Romanen identifiziert.

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Diese ursprüngliche Skepsis sollte Anfang der 1860er Jahre durch die Begegnung mit dem Fotografen Nadar und Vernes künftigen Verleger Pierre-Jules Hetzel vorübergehend zum Positiven gewendet werden, und erst durch die niederschmetternden Erfahrungen des Deutsch-Französischen Krieges wieder zunehmend pessimistische Züge annehmen. Vernes großer Publikumserfolg, so Zimmermann, gehe mit seiner optimistischen Phase von 1863 bis 1875 einher und nehme danach stetig ab. Mit dieser Konzeption stimmt Zimmermann mit dem überwiegenden Teil der Verne-Forschung der 1970er und 1980er Jahre überein, die eine optimistische Frühphase, eine ironische Zwischen- und eine pessimistische Spätphase des Romanzyklus der Voyages extraordinaires (1863–1919) postulierte.

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Die erste Hälfte des Hauptteils, »Technik im Zeitgeist«, ist der Analyse von Vernes Technikbild gewidmet, in der »Techniken des Transports« (und damit Vernes spektakulärste Extrapolationen wie Luftschiff, Unterseeboot, Mondprojektil, aber auch die konventionelleren Eisenbahnen, Schiffe und der »Geometrie-Bezug im engeren Sinn«) von Techniken der Transformation und dem wechselseitigen Bezug von Mensch und Maschine unterschieden werden. Im Wesentlichen geht es hier um Vernes Vorbilder in der Realität, auf die Fehler, die ihm bei der literarischen Umsetzung unterlaufen sind, und um die ideologische Gestaltung des Technik nach Maßgabe der bei Hoffmann und Poe vorgefundenen Motive – Aspekte, die zum Teil schon von Jacques Noiray in einer grundlegenden Arbeit dargestellt worden waren. 2

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Dennoch bildet dieser Abschnitt über Vernes unterschiedliche Technikthemen den überzeugendsten und anregendsten Teil des Buches. Die Interpretation erfolgt überwiegend textnah und findet ihren spezifischen Höhepunkt im zweiten Kapitel über »Raumempfinden und Technikverständnis« (S. 252–277), in dem Zimmermann auf wichtige und bislang kaum erörterte Aspekte wie Vernes teleologischen Raumbegriff, den Einfluss der Großstadtentwicklung und des Panoramas auf die Voyages extraordinaires eingeht. Diese Aspekte weisen in der Tat über die begrenzte Anzahl der Werke mit extrapolierenden Technik-Themen hinaus und liegen dem gesamten Romanzyklus zu Grunde.

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Ein Kapitel über die zeitgenössische »Aufnahme und Bewertung des Hauptwerks« fällt dagegen vergleichsweise oberflächlich aus und beschränkt sich auf die Wiedergabe hinlänglich bekannter Positionen von Schriftstellerkollegen und Kritik im 19. Jahrhundert zu Vernes Werk.

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Der bei Verne – freilich nicht durchgängigen – Einführung innovatorischer Technik in sein Romanwerk steht eine mythische »Tiefenstruktur« gegenüber, die Simone Vierne in ihrer grundlegenden Dissertation 1972 nachgewiesen und deren unterschiedlich ausgeprägte Realisierung sie in direkten Zusammenhang mit den Schwankungen von Vernes Publikumserfolg gestellt hatte – eine Korrelation, der die Autorin inzwischen selber zurückhaltender gegenübersteht. 3 Ihren ursprünglichen Ansatz übernimmt Zimmermann in seinem letzten Teil, in dem er nach Viernes Kategorien die Initiationsstruktur in den Romanen Karl Mays untersucht, einem Werk, das mit Vernes Œuvre eine durchgängige Reisethematik verbindet, in dem aber die technologische und wissenschaftliche Komponente gänzlich fehlt.

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Theoretische Basis und biografische Quellen

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Die Notwendigkeit, Sartres rhetorisch und theoretisch komplexen Überbau aus seinem Flaubert-Opus L’Idiot de la famille auf Jules Vernes Leben zu übertragen, hat sich mir – vor allem hinsichtlich der erzielten Ergebnisse – nicht erschlossen. Nun mag diese Herangehensweise Ansichtssache sein und dem Rezensenten, der selber als Biograf in Sachen Verne tätig gewesen ist, Theoriefeindlichkeit vorgeworfen werden. Auf jeden Fall jedoch steht diese anspruchsvolle Theorie in einem eklatanten Gegensatz zur Dürftigkeit der biografischen Quellen, die Zimmermann im Fall Jules Vernes heranzieht: Letztlich lassen sich falsche oder unzureichende Fakten durch keinen noch so prätentiösen Ansatz retten. So stützt sich dieser biografische Teil zwar nicht ausschließlich, aber ganz überwiegend auf ein Buch von Peter Costello, obwohl Zimmermann es selber als »sehr nachlässig aufbereitet« (S. 27) kritisiert, noch dazu in der – ebenfalls und wiederholt als mangelhaft bezeichneten – deutschen Übersetzung. 4

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Auf den Gedanken, zumindest in Zweifelsfällen die Originalpublikation heranzuziehen, scheint der Autor nicht gekommen zu sein. Verdienst dieses englischen Buches ist es, als erstes Vernes Werke in ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang dargestellt zu haben, wovon Zimmermann in seinem eigenen Hauptteil durchweg profitiert. Als Biografie ist Costellos Veröffentlichung nichts weiter als eine Kompilation vorausgegangener französischer und englischer Bücher und auf Grund ihrer völlig unabgesicherten Behauptungen und erfundenen Episoden für wissenschaftliche Arbeiten unbrauchbar. 5 Infolgedessen gibt Zimmermann, indem er sich an Costello und andere hält, Briefzitate Jules Vernes aus dritter oder vierter Hand oder nach Ausgaben wieder, die sich seit langem als manipuliert herausgestellt haben, die aber inzwischen – und zwar vor Redaktionsabschluss seiner Arbeit, 2003 – in zuverlässiger Edition vorlagen. 6 Ein derartiges Vorgehen würde jedem Studenten in seiner Semesterarbeit als inakzeptable Nachlässigkeit vorgeworfen werden. Dies ist umso verwunderlicher, als Zimmermann wiederholt früheren deutschen Biografen wie Franz Born und Thomas Ostwald Unzulänglichkeiten und Fehler vorwirft 7 , obwohl deren Publikationen – im Gegensatz zu seiner eigenen – keinerlei Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben und als Sekundärliteratur für eine wissenschaftliche Arbeit gar nicht erst in Frage kommen.

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Dabei unterlaufen ihm selber durchgehend Fehler in Fakten, Titelzuordnungen, Chronologie und in der Orthographie der französischen Zitate, von denen zumindest letztere durch ein kundiges Referat hätten vermieden werden können.

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Auch die bereits 1994 auf französisch und 1996 auf deutsch erfolgte Publikation eines für Zimmermanns Thema so zentralen Romans wie Paris au XXe siècle von 1861/63 bleibt – selbst im Kapitel »Zur Großstadtentwicklung in Europa« – nicht nur ohne Analyse, sondern unerwähnt. Das ist deshalb bedauerlich, weil eine längst als obsolet geltende Aussage wie die, dass sich Vernes angeblich anfängliche Fortschrittsbegeisterung erst durch den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 abgekühlt bzw. in ihr Gegenteil verwandelt habe, gar nicht erst hätte wiederholt werden müssen.

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Was für dieses nachgelassene Werk zutrifft, gilt auch für andere Texte Jules Vernes (Jugendwerke, Theaterstücke, Romanfragmente), deren zwischenzeitliche Veröffentlichung Zimmermann zwar als wünschenswert bezeichnet, die er realiter aber schlichtweg verpasst hat. Tatsächlich hat es der Verfasser nicht für notwendig erachtet, die Entwicklung der Verne-Forschung zu verfolgen, wie sie sich im Lauf dieser Jahre etwa im französischen Bulletin de la Société Jules Verne niedergeschlagen hat; bis 1987 hatte er sich darum sehr wohl bemüht, und zwar durchweg mit Gewinn.

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Hoffmann und Poe als einzige Katalysatoren?

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Dass Autoren wie Hoffmann und Poe grundsätzlichen Einfluss auf Vernes Auseinandersetzung mit der Wissenschaft hatten, darf zwar als gesichert gelten, diesen aber eine ausschließliche Bedeutung zuzuschreiben, scheint mir eine unangemessene Verkürzung. Besonders Vernes Lektüre von Poes Werken setzt Zimmermann ohne schlüssige Begründung fast zehn Jahre zu früh an und macht diese etwa für die Herausbildung eines »enzyklopädischen Stils« verantwortlich, der bei Verne tatsächlich schon früher und jedenfalls unabhängig von Poe auftritt.

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Mit »enzyklopädischer Stil« meint Zimmermann vermutlich den Einbezug wissenschaftlicher Fakten und umfangreicher Aufzählungen in die fiktionale Handlung; denn obwohl dieser Begriff eine zentrale Rolle in seiner Interpretation spielt, bleibt der Verfasser dem Leser eine genaue Definition schuldig. Dies gilt, nebenbei bemerkt, ebenfalls für die inflationär – manchmal neutral, manchmal ironisch oder pejorativ – benutzten Begriffe Kolportage, Kolportageliteratur, Reisekolportage und kolportieren oder etwa die Begründung dafür, nach welchen Kriterien denn Vernes »literarisch wertvoller[e]« Romane (S. 197) bestimmt werden können.

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Zwar kündigt Zimmermann im Fall von Hoffmann und Poe an, »die Lektüre dieser Autoren gleichsam ›mit Verne nachvollziehen‹, sie ihm ›nach-lesen‹ [zu wollen], um jene Motive zu erkennen, die ihn selbst beeindruckt haben und unter Umständen später in sein eigenes Werk Eingang gefunden haben« (S. 16), doch gerade dies leistet die anschließende Analyse nicht.

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Vielmehr reiht Zimmermann eine Reihe von charakteristischen Motiven Hoffmanns und Poes auf hohem Abstraktionsniveau auf, die für sich genommen durchaus zutreffend sind; allerdings wird man bei dem genannten Abstraktionsniveau kaum voraussetzen können, dass es Vernes spezieller Rezeption dieser Autoren entsprochen habe. Zimmermanns Verfahren ist hier komparatistisch und als Vergleich der Behandlung übereinstimmender oder divergierender Themen bei den drei Autoren durchaus überzeugend. Der Nachweis, dass Verne sich direkt auf Poe oder Hoffmann bezieht, lässt sich damit allerdings nicht automatisch erbringen.

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Mögliche nichtliterarische Ursachen für Vernes Wissenschaftsskeptizismus, wie etwa sein Katholizismus, werden gar nicht erst problematisiert, Zeugnisse aus Vernes Interviews ignoriert 8 ; desgleichen bleiben Leseerfahrungen, die alle drei Autoren miteinander und auch unabhängig voneinander teilten – die gothic novel – unerwähnt. Dabei hätte die Einbeziehung des 1993 erschienenen Jugendromans Un Prêtre en 1839 (ca. 1846/47), der diesem Genre verbunden ist, erkennen lassen, dass grundlegende Aspekte von Vernes ambivalenter Haltung zu Wissenschaft und Technik der biografisch nachweisbaren Lektüre von Hoffmann und auf jeden Fall Poe vorausgehen. Als Beispiel dafür, wie skeptisch bereits der ganz junge Jules Verne der menschlichen Aneignung der Welt durch die Technik gegenüberstand, diene folgendes Zitat, das in deutscher Übersetzung bereits seit 1986 vorlag:

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[…]; dans leur sphère les forces de l’homme sont illimitées; mais malheureusement l’homme ne se trouve pas en rapport seulement avec les objets qui l’entourent. Il est soumis à des mouvements qu’il ne peut arrêter, à des bouleversements qu’il ne peut maîtriser, à des forces qu’il ne saurait atteindre – il est des cataclysmes qui renversent tout un monde, et l’homme se figurant dans la prospérité, armé de ces machines, de ces inventions qui, façonnées et copiées sur les modes et la disposition des forces qu’il trouve en lui-même, centuplent son pouvoir, demeure tremblant et éperdu et ne peut que courber la tête devait [recte: devant] une force supérieure. 9
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Die Beschränkung auf sieben konstitutive »HPM’s« (Hoffmann-Poe-Motive), die deckungsgleich seien mit Verne-Motiven, erweist sich so als reduktionistisches Konstrukt.

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Vor allem lässt Zimmermann unverständlicherweise die Chance ungenutzt, Vernes 1864 veröffentlichtes Poe-Essay, das er nur zweimal flüchtig erwähnt, auf die Frage hin zu untersuchen, was Verne an Poe fasziniert und was seine Ablehnung provoziert hat. Insbesondere hätte es Aufschluss darüber geben können, wie weit Vernes intellektuell-theoretische Auseinandersetzung mit seinem literarischen Vorbild reichte, und erkennen lassen, dass Jules Verne bei seiner Poe-Lektüre offensichtlich ganz andere Akzente setzte als Zimmermann in seiner Interpretation. 10

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Zudem treten wieder methodische Mängel zutage: Poe wird in der modernen deutschen Übersetzung von Hans Wollschläger und Arno Schmidt zitiert und nicht nach den von Verne benutzten Übertragungen von Baudelaire und William Hughes. Auch Vernes Hoffmann-Rezeption dürfte – neben zeitgenössischen Übersetzungen – wenigstens zum Teil über andere Autoren (wie Balzac) und das Theater (die Komödie Les Contes d’Hoffmann, 1851, von Michel Carré, mit dem zusammen Verne in der 1850er Jahren mehrere Libretti verfasste) erfolgt sein. Ein »Nach-Lesen« dieser Autoren mit Vernes Augen, wie es beabsichtigt worden war, ist so nicht zu Stande kommen.

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Vernes populärwissenschaftliche Quellen,
eine quantité négligeable?

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Was aber gerade im Hinblick auf den zweiten Teil von Zimmermanns Themenstellung – die »Wissenschafts- und Technikrezeption im Frankreich des 19. Jahrhunderts« – verwundert, ist, mit welcher Eindeutigkeit Vernes populärwissenschaftliche Quellen als unbedeutend oder zweitrangig von der Untersuchung von vornherein ausgeschlossen werden. Hätte sich Vernes Technikbild nur aus romantischer Lektüre gespeist, dürfte er kaum von seinen Zeitgenossen als Schöpfer des naturwissenschaftlichen Romans anerkannt worden sein, dessen didaktischer Nutzen sich auch ganz profan in klingende Münze umwandeln ließ. Tatsächlich bezog er seine Informationen neben verschiedenen populärwissenschaftlichen Zeitschriften aus den Werken von François Arago, Louis Figuier, Élisée Reclus, Amédée Guillemin, Arthur Mangin und Camille Flammarion, um nur die wichtigsten Namen von Autoren anzuführen, die vor, neben – und zum Teil in Konkurrenz zu – Verne ihre Bücher mit dem Ziel veröffentlichten, die Naturwissenschaften einem Publikum zugänglich zu machen, mit denen es nicht im Schulunterricht vertraut gemacht worden war.

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Ein einziges Mal erwähnt Zimmermann in Zusammenhang mit dem Roman Vingt Mille Lieues sous les mers Faradays Lectures on the Chemical History of a Candle (1860), bemerkt aber nur kurz: »[…] eine französische Übersetzung ist mir nicht bekannt, wenn auch wahrscheinlich« (S. 189, Anm. 86). Dabei hätte ein Blick in den Katalog der Pariser Nationalbibliothek ausgereicht, um festzustellen, dass das Buch 1865 unter dem Titel Histoire d’une chandelle herausgegeben worden war, und zwar bei Hetzel, was Vernes Kenntnis dieses Buches nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich macht. Verne kopierte diese Autoren, aber er arrangierte ihre Informationen auf seine Weise. Es leuchtet ein, dass sich die Bedeutung und besondere Eigentümlichkeit von Vernes Voyages extraordinaires, zumindest im damaligen Frankreich, aus der Stellung ergibt, die sie zwischen diesen Publikationen einerseits und der zeitgenössischen Unterhaltungsliteratur andererseits eingenommen haben. Dieser Frage nachzugehen, hätte es dem Autor erlaubt, in der Verne-Forschung Neuland zu betreten, statt lediglich auf dem grundlegenden Werk von Jacques Noiray aufzubauen, wie er es in seinem nachfolgenden Hauptteil tut.

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»Unnötig redundant«, verwirrend konfus

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Es wäre meines Erachtens von Vorteil gewesen, hätte sich der Autor – wie zuvor schon in der Dissertation von 1987/88 – auf diesen Teil seiner Arbeit konzentriert, statt einen recht isoliert dastehenden Nachschlag zum Thema Karl May und Mythos zu liefern. Für eine komparatistische Lektüre der scheinbar so ähnlichen Autoren, die durchaus ein Desiderat der Literaturwissenschaft darstellt, fallen nach dem ausführlichen May-Exkurs Zimmermanns Verweise auf Verne allzu spärlich aus. 11 Auch scheint mir zweifelhaft, ob man aus der Gegenüberstellung von Verne und May aussagekräftige Rückschlüsse auf Mentalitätsunterschiede in der nationalen Rezeption ziehen kann. Der Publikumserfolg Jules Vernes in Deutschland und Österreich stand dem in Frankreich kaum nach 12 , während im umgekehrten Fall Karl May in Frankreich niemals nachhaltig Fuß fassen konnte.

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Zweckdienlicher für Zimmermanns Publikation wäre es gewesen, eine Reihe sachlicher Fehler zu korrigieren, die zum Teil schon im Text von 1987 vorkamen. Etwa die Behauptung, dass die Bedeutung des Namens von Kapitän Nemos U-Boot Nautilus »nach wie vor unklar« sei (S. 185, Anm. 74), obwohl sich Verne ausdrücklich auf die gleichnamige Molluske bezieht; oder dass die »häufig diskutierte Frage, welche der späten Werke gar nicht von Verne verfasst sind, […] heute noch unbeantwortbar« sei (S. 197, Anm. 100); desgleichen eine längere Diskussion über die Maßangabe lieue (S. 191, Anm. 88), die sich erübrigt, weil Verne sie selbst im Text seiner Romane wiederholt mit 4.000 m angibt.

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Derlei Spiegelfechtereien sind, um einen Ausdruck des Autors zu benutzen, »unnötig redundant« (S. 214) und stellen tatsächlich nichts anderes als Versäumnisse seinerseits dar. Dasselbe gilt für seine Vorliebe, immer wieder auf die Unzulänglichkeiten der historischen Hartleben-Übersetzung von Vernes Werken (1873–1911) hinzuweisen, was ja durchaus zutreffen mag, aber in keinem notwendigen Zusammenhang zum Thema, der Wissenschaftsrezeption in Frankreich, steht. Bisweilen erweist sich diese lehrmeisterhafte Besserwisserei als Eigentor: »Tollheiten das!« (S. 85, Anm. 54), kommentiert Zimmermann etwa die scheinbare Fehlerhaftigkeit einer übersetzten Textstelle, wobei er das französische Zitat ausdrücklich der Frühfassung einer Verne-Erzählung entnimmt, während die – durchaus textgetreue – Hartleben-Übersetzung nach einer zwanzig Jahre später veröffentlichten französischen Fassung angefertigt wurde.

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Positiv verdient hervorgehoben zu werden, dass die Anmerkungen als Fußnoten wiedergegeben und nicht in einen Anhang verbannt worden sind, sodass dem Leser ein umständliches Hin- und Herblättern, wie in vielen wissenschaftlichen Publikationen inzwischen leider üblich, erspart bleibt. Als verwirrend erweist sich allerdings Zimmermanns Verfahren, Einzeltitel, Werkreihen und bestimmte Motive durch Siglen wiederzugeben, die zwar sukzessiv in den Fußnoten aufgeschlüsselt werden, denen aber keine zusammenfassende, alphabetische Auflistung zugestanden wird, die der Orientierung dienen könnte. Vollends verwirrt eine »Korrespondenztafel Vernescher und Mayscher Motive« (S. 381), wobei die Siglen KMM1 bis KMM11 (Karl-May-Motive) und KSM1 bis KSM10 (Karl-May-Sozialmotive) mit HPM1 bis HPM7 (Hoffmann-Poe-Motive = Verne-Motive) zueinander in Bezug gesetzt werden, es dem Leser aber überlassen bleibt, durch Zurückblättern diese Kürzel mit Inhalt zu füllen und eingehendere Schlüsse aus den durch ein x angezeigten Übereinstimmungen zu ziehen.

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Vernes Romane werden einerseits durch Titelstichworte abgekürzt, bisweilen aber mit einem individuellen Sigel als auch als durchnummerierte Werkreihe mit einer kollektiven Sigel versehen (Vingt Mille Lieues sous les mers beispielsweise als Nemo I und als VE 11, 12 13 ). Nach einer numerischen Aufschlüsselung dieser Abkürzungen sucht man in der Bibliografie vergebens, dafür werden die »Literaturangaben zu den ergänzten Teilen« gleich doppelt geliefert (S. 404–407 und 409–411). Entgegen der ausdrücklichen Ankündigung gibt das Werkverzeichnis für die angeführten Theaterstücke nicht das Jahr der Erstveröffentlichung, sondern der Erstaufführung an. Ein Werk wie L’Île à hélice wird mal mit dem geläufigen deutschen Titel Die Propellerinsel wiedergegeben, taucht dann aber auch als Hubschrauberinsel auf …

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Fazit

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Angesichts dieser Menge an formalen Unzulänglich- und inhaltlichen Nachlässigkeiten fällt es schwer, diese Publikation ohne Vorbehalte weiterzuempfehlen. Die Beschränkung auf Vernes Technikbild, die sachorientierte Vertiefung und Aktualisierung dieses Abschnitts wäre allemal sinnvoller gewesen und hätte zumal in der deutschen Sekundärliteratur eine wirkliche Bereicherung dargestellt. Stattdessen geht ein Großteil der positiven Resultate im Wust biografischer Interpretationen, die aufgrund der defizitären Quellen allenfalls spekulativ genannt werden müssen, oder in Erörterungen unter, die für die Fragestellung der Arbeit unerheblich sind. Weniger wäre mehr gewesen.

 
 

Anmerkungen

Rainer E. Zimmermann: Das Technikverständnis im Werk Jules Vernes und seine Aufnahme im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Berlin: Technische Universität 1987/88. Der Karlsruher Virtuelle Katalog (KVK; http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvk.html) verzeichnet die Verfügbarkeit dieser 388 Seiten langen Arbeit auf Mikrofiches in 30 deutschen Bibliotheken.   zurück
Jacques Noiray: Le Romancier et la machine. L’image de la machine dans le roman français (1850 – 1900). II. Jules Verne – Villiers de l’isle-Adam. Paris: José Corti 1982.   zurück
Simone Vierne: Jules Verne et le roman initiatique. Paris: Éditions du Sirac 1973. Dazu als Korrektiv ihre spätere Veröffentlichung: Jules Verne. Mythe et modernité. Paris: PUF 1989.   zurück
Peter Costello: Jules Verne. Inventor of Science Fiction. London u.a.: Hodder and Stoughton 1979. Die deutsche Übersetzung stammt von Eleanor Catala: Jules Verne. Der Erfinder der Science-Fiction. Aalen: Qalandar Verlag 1979.   zurück
Zuverlässigere Biografien, die der Autor zur Revision seines Textes hätte benutzen können, lagen im englischen und französischen Sprachraum durchaus vor. Ich erlaube mir, der Kürze halber zu verweisen auf meinen Bibliographischen Führer durch die Jules-Verne-Forschung 1872 – 2001, Wetzlar: Schriftenreihe und Materialien der Phantastischen Bibliothek Wetzlar 2002, S. 64–86.   zurück
Vernes Korrespondenz mit seiner Familie in Olivier Dumas: Jules Verne. Lyon: la manufacture 1988, S. 237–492. Die Korrespondenz zwischen Verne und seinem Verleger: Olivier Dumas / Piero Gondolo della Riva / Volker Dehs (Hg.): Correspondance inédite de Jules Verne et de Pierre Jules Hetzel (1863–1886). 3 Bde. Genève: Slatkine 1999–2002.   zurück
Franz Borns Biografie Der Mann, der die Zukunft erfand (Eupen: Markus Verlag 1960) ist ein Kinderbuch, Thomas Ostwalds Jules Verne, Leben und Werk (Braunschweig: Graff 1978) paraphrasiert und simplifiziert zum Großteil ein aus heutiger Sicht unkritisches und nur rezeptionshistorisch interessantes Buch von Max Popp (Julius Verne und sein Werk, Wien: Hartleben 1909).   zurück
Daniel Compère / Jean-Michel Margot: Entretiens avec Jules Verne 1873 – 1905. Genève: Slatkine 1998.   zurück
Jules Verne: Un Prêtre en 1839. Édition établie par Christian Robin. Paris: le cherche midi 1993. Auf S. 65 f. die redaktionell bearbeitete Passage, auf S. 229 das auch hier wiedergegebene Originalzitat. Die Übersetzung der entsprechenden Stelle in Volker Dehs: Jules Verne. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1986, S. 19 f..   zurück
10 
Obwohl er gleichfalls in die Jahre gekommen ist, verweise ich in diesem Zusammenhang auf meinen Artikel Inspirations du fantastique? Jules Verne et l’œuvre de E.T.A. Hoffmann in : La revue des lettres modernes. Jules Verne 5. émergences du fantastique. Paris: Minard 1987, S. 57–68.   zurück
11 
Ein positives, textnahes Beispiel für eine komparatistische Lektüre wurde geliefert von Antje Streit: Der ›französische‹ und der ›deutsche‹ Chinese. Eine vergleichende Untersuchung zu den Chinaromanen Jules Vernes und Karl Mays. In: Claus Roxin u.a. (Hg.): Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft. Husum: Hansa-Verlag Ingwert Paulsen jr. 1999, Bd. 29, S. 248–269.   zurück
12 
Roland Innerhofer: »Julius« Verne in Österreich. Produktion und Rezeption eines Erfolgsautors. In: Klaus Amann / Hubert Lengauer / Karl Wagner (Hg.): Literarisches Leben in Österreich 1848 – 1890. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2000, S. 805–827.   zurück
13 
VE steht für die Werkreihe Voyages extraordinaires, die Ziffern für die Bandnummer innerhalb der Werkreihe des Verlags Michel de l’Ormeraie, nach der der Autor überwiegend zitiert. Als DA (»Deutsche Ausgabe«) werden die Übersetzungen des Hartleben-Verlags abgekürzt, als H dagegen die Nachdrucke dieser Werkausgabe bei Pawlak (»Pawlack«).   zurück