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Neues vom Kontext?

  • Marion Gymnich / Birgit Neumann / Ansgar Nünning (Hg.): Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. (ELCH Studies in English Literary and Cultural History 22) Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier 2006. 320 S. Kartoniert. EUR (D) 25,00.
    ISBN: 978-3-88476-859-4.
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Bestandsaufnahme

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Obwohl das Grundlagenproblem der Vermittlung literarischer Texte und kulturhistorischer Kontexte durch den cultural turn der Literaturwissenschaft aktualisiert wurde, ist es bislang nicht monographisch behandelt worden. Die bedeutendste jüngere Veröffentlichung zum Thema ist Moritz Baßlers Habilitationsschrift Die kulturpoetische Funktion und das Archiv (2005), nicht zuletzt, weil sie einen Standard theoretischen Arbeitens setzt. 1 Allerdings konzentriert sich jene Studie auf die Argumentation für ihr eigenes Modell: die Weiterentwicklung der Metapher »Kultur als Text« zum strukturalistisch basierten Theorem kulturpoetischer Kontiguität, zur Suche im Archiv als entsprechender Methode. Insofern blieb der Bedarf einer systematischen, methodenübergreifenden Darstellung bestehen.

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Bei Kulturelles Wissen und Intertextualität handelt es sich um einen Sammelband, der zudem außer »Theoriekonzeptionen« überwiegend »Fallstudien« darbietet, doch liegt es durchaus im Anspruch der Herausgeber, das erkannte Forschungsdefizit nicht bloß anzuzeigen, sondern ihm selbst abzuhelfen. Sollte man darum eigenständige, innovative Lösungsansätze zur »Kontextualisierung von Literatur« erwarten, klärt eine Lektüre der Beiträge den Irrtum bald auf: Sie beschränken sich weitgehend auf eine kritische Diskussion der etablierten Methoden, wobei »kulturelles Wissen« und »Intertextualität« als theoretische Schlüsselkonzepte identifiziert werden, von denen die Fundierung der Diskursanalysen (Foucault, Link) und des New Historicism abhängt, an die sich viele der Überlegungen zur Methodologie einer »kontextorientierten Literaturwissenschaft« (S. vii) anschließen lassen.

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Mit dieser Einschätzung, ergänzt durch Neumanns problembezogene Auswertung des Performanzbegriffs (Iser) und Gymnichs Blick auf die kontextualisierende Ausrichtung des postkolonialen writing back, trifft der Band die gegenwärtige Forschungslage auf den Punkt. Dass er aber kaum einen Erkenntnisfortschritt bringt, muss nicht unbedingt dem Mangel an Theorie-Alternativen und methodologischer Kreativität angelastet werden, wenngleich auch dies eine Rolle spielt. Vielmehr wird das selbst gesteckte Ziel einer Klärung der methodologischen Grundlagen nicht in vollem Umfang erreicht. Die Ursachen dessen sind symptomatisch für den allgemeinen Stand der thematischen Kenntnisse, für die Qualität der Reflexion des Verhältnisses Text – Kontext, Literatur – Kultur. Zum einen werden jene Schwächen der Konzeptualisierung transportiert, die in den Schriften Foucaults und Greenblatts angelegt sind, sich aber in der Rezeption ihrer Methoden noch verschärft haben. Zum anderen fehlt eine systematische Analyse des theoretischen Problems.

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Kontext-Methoden und ihre Theorien

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Eine Übersicht der methodischen Schulen, die dafür bekannt sind, »Kulturelles Wissen und Literatur« zu untersuchen, beginnt Birgit Neumann mit der Diskursanalyse nach Foucault. Deren »genuiner Forschungsbereich« seien die »Ermöglichungsbedingungen von kulturellem Wissen« (S. 31), man müsste hinzusetzen: die »historischen« Bedingungen. Von den üblichen Artikeln in Handbüchern oder literaturwissenschaftlichen Einführungen hebt sich diese erste Erläuterung positiv ab: durch terminologische Zurückhaltung und angemessene Gewichtung. Überhaupt gibt Neumann den Konsens über die foucaultsche Diskursanalyse ebenso vollständig wie konzise wieder.

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Andererseits schreibt sie damit die kategorialen Unschärfen der Methode fort. So erhält der Zentralbegriff »Diskurs« die gängige Minimaldefinition aus der Archäologie des Wissens: »eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören«. 2 Dieser Umriss des analytischen Diskursbegriffs wird, wie in den meisten Auslegungen, nicht anhand der Archäologie aufgefüllt, sondern statt dessen durch den theoretischen Diskursbegriff der Machtanalytik, die Regulierung des Sagbaren, verwischt. Weder Foucault noch seine Kommentatoren differenzieren »analytisch« und »theoretisch«, doch ermöglicht gerade dies eine konzeptuelle Unterscheidung »archäologischer« gegenüber »genealogischer« Diskursanalyse. Solch grundlegende Bestimmungen wären mithin die methodologische Voraussetzung für die von den Herausgebern ausdrücklich geforderte Operationalisierung (vgl. S. 25) bestehender »Theoriekonzeptionen«.

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Methodentheorie und literaturwissenschaftliche Praxis sind auch im Falle des New Historicism allzu lose verbunden. Fest steht immerhin, dass Greenblatt Literatur als »produktives Medium der Wissensstiftung« (S. 41) auffasst, eine Parallele zu Foucault, die Neumann hervorhebt. Zwischen literarischen Texten und zeitgenössischen kulturellen Dokumenten werden darüber hinaus intertextuelle Beziehungen angenommen, die Greenblatt in den Bezeichnungen »Verhandlung« und »Austausch« zur symbolisch-sozialen Interaktion umdeutet. Mit Baßler wird das theoretische Ungenügen dieser metaphorischen Termini diagnostiziert, auch deren methodische Konkretisierung in der Einleitung der Verhandlungen mit Shakespeare sei nicht überzeugend: »Die von Greenblatt genannten Zirkulationsprozesse und Austauschmodi – appropriation, purchase und symbolic acquisition – erweisen sich insgesamt als zu unspezifisch, um das Verhältnis zwischen Literatur und kulturellem Wissen beschreibbar machen zu können.« (S. 42)

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Vor der Kritik, über Kritik hinaus

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So angebracht eine Methodenkritik zweifellos ist, im Hinblick auf das Vorhaben des Bandes stellt sich die Frage, wie man darüber hinausgehen kann. Neumann versucht im letzten Abschnitt ihres Beitrags »Kulturelles Wissen und Literatur« eine Quersumme der besprochenen Ansätze (Foucault, Link, Greenblatt) zu bilden, mit dem zusätzlichen Fokus auf Besonderheiten der literarischen Wissensproduktion bzw. ‑transformation. Was sie damit erreicht, ist eine Typologie der Text/Kontext-Relationen. Mindestens ebenso notwendig wäre hingegen – als klärender Vorlauf aller Neuentwürfe und Revisionen – eine Theorie des Vermittlungsproblems. Damit hätte man noch keine Lösung, sondern erst die Aufgabenstellung bestimmt. Nach solchem Maßstab ließen sich die vorliegenden Text/Kontext-Modelle beurteilen, der Rahmen könnte zum Raum für neue Lösungsvorschläge werden, vielleicht sogar jenseits von »Wissen und Intertextualität«. Jene Reflexionsebene wird jedoch von keinem der versammelten Aufsätze eingenommen.

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Unter der Überschrift »Grundbegriffe und Leitfragen einer kontextorientierten Literaturwissenschaft« formuliert der Einleitungstext zwar »vier zentrale Anforderungen« (S. 10), denen aber kaum mehr zu entnehmen ist, als dass Literatur und Kultur konzeptuell zueinander ins Verhältnis gesetzt werden müssen, unter Berücksichtigung der »symbolspezifischen Merkmale von Literatur« (ebd.). Die theoretisch zu bewältigenden methodischen Schwierigkeiten der Vermittlung werden an dieser Stelle nicht benannt: die Eingrenzung der relevanten kontextuellen Kultur, die Differenz von literarischer Textualität und kultureller Performanz, Überschneidungen und Abgrenzungen zum Problem der Interpretation. Mit einem reinen Plädoyer für die Untersuchung von Literatur als Symbol- und Sozialsystem (vgl. S. 18) ist noch keine dieser Schwierigkeiten konfrontiert.

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Hinweise auf jene Vorgaben, welche eine methodische Konzeption nicht außer Acht lassen sollte, findet man in dem bereits vorgestellten ersten Aufsatz von Neumann, deren Beiträge über das sonstige Niveau des Theorieteils deutlich herausragen. Gegen die Diskursanalyse führt sie die verbreiteten, berechtigten Gründe an: erstens die Beliebigkeit der Kontext-Zuordnung, bedingt durch den theoretisch ungeklärten Diskursbegriff, welcher in der Praxis zum von Literatur und Kultur geteilten Thema verflacht ist, zweitens das Verschwinden literarischer »Differenzqualitäten« (S. 38). An Links Modell wird bemängelt, dass es die Differenzialität der Literatur, ihren »Status als reintegrierender Interdiskurs«, durch eine »Hypostasierung apriorisch reklamierter« (ebd.) Qualitäten unzulässig herstellt und somit historisch-kulturelle Unterschiede, die wechselnden Funktionen literarischer Formen nivelliert.

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Hinter Neumanns Kritik der »Hypostasierung« steht eine weitere Dimension der Fragestellung, die Kulturelles Wissen und Intertextualität gänzlich vernachlässigt. Die Literaturwissenschaft müsste sich nicht nur über die grundsätzliche Struktur des Vermittlungsproblems verständigen, sondern auch darüber, was als »Theorie« gelten kann, was theoriebautechnisch erlaubt und möglich wäre. Insofern ist die methodische Kontextualisierung literarischer Texte geradezu ein Testfall für das (erkenntnis)theoretische Bewusstsein der Disziplin. Man kann nur hoffen, dass der Aufsatz von Wolfgang Hallet über »Intertextualität als methodisches Konzept«, seine Schaubilder zum Schlagwort »making connections between texts« (S. 65) und zur »multiplen Kontextualisierung« (S. 68) nicht exemplarisch dafür sind, was Literaturwissenschaftler unter Theoretisieren verstehen.

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Fazit

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Die von Gymnich, Neumann und Nünning gemeinsam verantwortete Veröffentlichung betont eher das Ziel der »Kontextualisierung von Literatur« als die angekündigte Grundlegung. Dennoch werden auch in den »Fallstudien« die praktizierten Ansätze reflektiert: u.a. funktions- und mentalitätsgeschichtliche Anwendungen, eine institutionalitätstheoretische Historisierung (Simon). Die These, dass literarische Texte immer im Kontext zu interpretieren sind, sowie die Annahme der Wechselseitigkeit von kulturellem Wissen und literarischer Formung werden im Theorieteil aufgrund mangelnder Koordinierung der Beiträge redundant vorgetragen. Statt neue Zugänge zu entwickeln oder die praktizierten Methoden theoretisch zu schärfen, stellt der Band insgesamt programmatisch, aber eben auch unfreiwillig die Tatsache heraus, dass trotz oder gerade wegen Diskursanalyse und New Historicism noch viel methodologische Arbeit zu leisten bleibt, wenn es der Literaturwissenschaft ernst damit ist, Kontextualisierung theoretisch fundiert zu betreiben.

 
 

Anmerkungen

Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. (KULI Studien und Texte zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Literatur 1) Tübingen, Basel: Francke 2005.   zurück
Michel Foucault: Archäologie des Wissens. (stw 356) Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, S. 156.   zurück