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Die üblichen Verdächtigen? Nicht ganz!

  • James Phelan / Peter J. Rabinowitz (Hg.): A Companion to Narrative Theory. (Blackwell Companions to Literature and Culture 33) Malden, MA u.a.: Blackwell 2005. 592 S. 9 Abb. Gebunden. GBP 95,00.
    ISBN: 978-1-405-11476-9.
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In Zeiten immer neuer Plädoyers für eine Neuausrichtung der Narratologie, deren publikationsgewaltige Repräsentanten wie Ansgar Nünning, Monika Fludernik oder David Herman für eine Expansion der Disziplin werben, darf man gespannt sein, was ein voluminöser Band mit fünfunddreißig Aufsätzen zu bieten hat, der laut Reihenbeschreibung des Verlags neue Perspektiven auf aktuelle Probleme der Erzähltheorie einnehmen soll 1 (und in dem natürlich die genannten Autoren nicht fehlen). Wo ist die Erzähltheorie zu verorten? Wie reflektiert der Band die Interdisziplinarität, die der Narratologie gegenwärtig immer wieder als Perspektive versprochen wird?

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Wenigstens die institutionelle Anbindung der Autoren macht deutlich, wohin die Erzähltheorie allen Erweiterungsversuchen zum Trotz immer noch gehört: in die Literaturwissenschaft. Mit Ausnahme des Musikwissenschaftlers Fred Everett Maus nämlich sind alle Beitragenden Anglisten oder Komparatisten, vorwiegend aus den USA, aber auch aus Deutschland und Israel. Antworten auf die oben gestellten Fragen sind also nicht von den Spezialisten anderer Disziplinen zu erwarten … Und um es gleich vorweg zu sagen: Einen klärenden Überblick über das unübersichtliche Terrain der Erzähltheorie darf man auch nicht erwarten. Trotzdem lässt sich

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Ein erster Überblick

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über den Band geben. Ordnung wird darin hergestellt durch die Einteilung in vier Hauptteile, die umrahmt werden von einem Prolog und einem Epilog. Im Prolog sind drei Aufsätze vereint, die sich der Geschichte der Erzähltheorie annehmen (von Herman, Fludernik und Brian McHale, der nicht nur die mangelnde Einheit der Erzähltheorie diagnostiziert, sondern auch überhaupt die Möglichkeit dieser Einheit anzweifelt). Der folgende erste Teil ist überschrieben mit »New Light on Stubborn Problems« und macht den Anspruch auf Aktualität ebenso deutlich wie der zweite Teil mit dem Titel »Revisions and Innovations«. Der dritte Teil beschäftigt sich mit »Narrative Form and its Relationship to History, Politics, and Ethics«, während der vierte »Beyond Literary Narrative« betitelt ist. Der Epilog schließlich umfasst zwei Aufsätze (von Marie-Laure Ryan und H. Porter Abbott), die der Zukunft des Erzählens im Zusammenhang mit neuen Medien gewidmet sind. Ergänzt werden die Aufsätze von einem Glossar, in dem die narratologische Nomenklatur erläutert wird, und einem ausführlichen Index mit Personennamen und Sachbezeichnungen.

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Die Einteilung folgt demnach nicht systematischen Gesichtspunkten, denen sich die Autoren haben unterwerfen müssen. Stattdessen entsteht der Eindruck, dass sich die Einteilung eher an den Themen und Vorschlägen der Autoren orientiert, denen die Herausgeber irgendwie ein Gerüst verleihen mussten. Verantwortlich für

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Neues Licht
auf halsstarrige Probleme

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zeichnen sechs Autorinnen und Autoren, angeführt vom inzwischen verstorbenen Doyen der amerikanischen Literaturwissenschaft Wayne C. Booth, der die Wiederauferstehung des von ihm vor bald einem halben Jahrhundert geprägten Begriffs des implied author feststellt und rechtfertigt. 2 Mit Booths Konzept hängt ein zweiter ebenfalls von ihm geprägter Begriff zusammen: der des unzuverlässigen Erzählens, dem die beiden folgenden Aufsätze von A. Nünning und Tamar Yacobi nachgehen. Nünning, der im Sinne eines kognitiven Ansatzes erzählerische Unzuverlässigkeit mit der Diskrepanz zwischen Erzählerrede und rezipientenseitigem Normen- und Weltverständnis erklärt, referiert verschiedene Positionen – auch Gegenpositionen – und versucht am Ende, alle in einer einzigen zu integrieren. Auch Yacobi ist eine gestandene Spezialistin in Sachen Unzuverlässigkeit. Sie illustriert ihr Modell, wonach Unzuverlässigkeit als Interpretationshypothese aufzufassen ist und Widersprüche in fünf prinzipiell gleichberechtigten Hinsichten normalisiert werden können, anhand von Lev Tolstojs Kreutzersonate. Dabei stellt sie divergierende Interpretationen der Erzählung vor und macht kenntlich, wie sie mit den von ihr zuvor namhaft gemachten Normalisierungsstrategien zusammenhängen.

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Neues Licht auf den Fokalisierungsbegriff verspricht ein weiterer Senior: J. Hillis Miller, der zwar nicht gerade als Erzähltheoretiker bekannt geworden ist, hier aber eine Interpretation des Romans The Awkward Age von Henry James liefert, in der er zu zeigen beabsichtigt, dass die Unterscheidung zwischen Form und Inhalt untragbar sei. Den ersten Teil beschließen zwei Essays von Dan Shen und Richard Walsh, die das Verhältnis von Erzähltheorie und Stilistik beziehungsweise Fiktionalitätstheorie beleuchten.

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Dass der zweite Teil mit dem Titel

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Revisionen und Innovationen

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etwas grundsätzlich anderes verspricht als der erste Teil, lässt sich aus dem Titel nicht unbedingt erschließen. Auch die Herausgeber formulieren einen Satz zur Beschreibung dieses Teils, der auf den ersten Teil genauso gut passen würde. 3 Dennoch lässt sich vorausschicken, dass das Gros der folgenden Aufsätze weniger an traditionelle Begriffe anknüpft, als sich der Aufgabe widmet, neue Begriffe zu prägen und auf Erzähltexte exemplarisch anzuwenden. Brian Richardson wendet sich gegen die landläufigen plot-Auffassungen, die Geschichten als Abfolgen von Ereignissen definieren. Stattdessen plädiert er aufgrund von kurzen Beispielanalysen dafür, den Ereignisbegriff durch den der narrativen Progression zu ersetzen, worunter er verschiedene Abfolgetypen auf der Diskursebene versteht. So weist er auf das spezielle Arrangement in Ulysses hin, in dem der traditionelle plot hinter ein Geflecht von Versatzstücken aus der Odyssee zurücktritt. Darüber hinaus macht er auf Beispiele (Proust, Tolstoj) aufmerksam, in denen der Ablauf der Geschichte sich weniger an den erzählten Ereignissen orientiere als an Motiven oder auch an arithmetischen Ordnungen. Ähnlich ereignisresistent sei auch der nouveau roman, in dem die Geschichte durch die Wörter generiert werde.

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Peter J. Rabinowitz verbindet eine Analyse von Raymond Chandlers The Long Goodbye mit der Präsentation eines Begriffs, path, der das Duo von Geschichte und Diskurs ergänzen soll. Gemeint ist damit der kognitive Weg, den Figuren nehmen, wenn sie die Ereignisfolge wahrnehmen. Erzählungen seien nicht nur durch den chronologischen Ablauf der Geschichte und deren Anordnung im Diskurs bestimmt, sondern auch durch den Weg, auf dem die Figuren von der Geschichte oder von einem ihrer Abschnitte erfahren. Indem er die Wege nachzeichnet, wie Marlowe, Menendez und weitere Figuren einen Abschnitt am Ende der Geschichte je erfahren, kommt Rabinowitz zu dem Schluss, dass seine Deutung der traditionellen Interpretation des Romans, wonach er ein Buch über die Unmöglichkeit von Freundschaft ist, entgegengesetzt sei. Wenngleich er nicht behauptet, dass man nur mit dem Begriff path zu dieser alternativen Interpretation kommen könne, so erleichtere er sie doch.

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Weitere Aufsätze in diesem Teil gelten den Themen ›Raum‹ (Susan Friedman am Beispiel von Arundhati Roys The God of Small Things), ›Selbst-Bewusstsein‹ (Meir Sternberg) und dem ›Unerzählbaren‹ (the Unnarratable) in Literatur und Film, das Robyn Warhol in vier Hinsichten differenziert: in subnarratable (Princes nonnarratable, also das, was normal ist und zu uninteressant, um es zu erzählen); in supranarratable (das, was unaussprechlich oder – im Falle des Films – nicht visualisierbar ist); in antinarratable (das, worüber aus sozialen Gründen nicht gesprochen wird, also was tabuisiert ist); und in paranarratable (das, was gegen literarische Konventionen einer Gattung oder Epoche verstößt). So verdienstvoll die Absicht ist, begriffliche Differenzierungen vorzunehmen, so zweifelhaft ist in diesem Fall der Erfolg. Wer zum Beispiel beurteilt anhand welcher Kriterien, was subnarratable ist? Warhol zitiert eine Passage aus einem viktorianischen Roman von Anthony Trollope, deren Detailreichtum angeblich unnötig ist. (Möglicherweise sind, so drängt sich einem da plötzlich auf, alle Romane unnötig!) Vielleicht aber fehlt es Warhol auch nur an dem für viktorianische Sitten und Gebräuche und ihre spezielle Ästhetik erforderlichen Interesse. – Gehen wir lieber rasch weiter, bevor wir diesen Versuch komplett auseinandernehmen!

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Wie Warhol ist auch Susan Lanser als Exponentin einer strukturalismuskritischen so genannten feministischen Narratologie hervorgetreten. In ihrem Beitrag verknüpft sie die Strukturalismuskritik mit einer Differenzierung von Textgattungen im Hinblick auf die Autor-Erzähler-Relation. Leitend ist für sie dabei die Frage, warum man bei manchen Texten eher als bei anderen geneigt ist, sie für (partiell) autobiographisch zu halten. Ihre Kritik am Strukturalismus besteht wie schon vor mehr als 20 Jahren darin, dass die narratologische Enthaltsamkeit gegenüber dem Autor das tatsächliche Verhalten der Rezipienten nicht angemessen abbilde, die nach Lanser Texte durchaus immer mit Blick auf den Autor lesen. Wer wollte das bestreiten? Aber war die Narratologie jemals eine Theorie über die Gewohnheiten von Lesern?

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Im zweiten Teil findet man auch Emma Kafalenos’ in diesem Band überraschende, strukturalistisch inspirierte Untersuchung von E. A. Poes The Oval Portrait, in der sie zeigt, dass der Schlusssatz (»She was dead!«) der die Gesamterzählung beschließenden intradiegetischen Erzählung anders zu interpretieren sei, wenn es sich um eine selbständige, abgeschlossene Erzählung handelte. Dazu zerlegt sie Poes kurze Erzählung in Funktionen, die sie an den Begriffen Gleichgewicht und Ungleichgewicht orientiert. Die intradiegetische Erzählung, isoliert betrachtet, berichtet vom Tod der Heldin und endet ohne Wiederherstellung des anfänglichen Gleichgewichts; im Rahmen der Gesamterzählung ist der im Schlusssatz berichtete Tod der Heldin jedoch die Erklärung für ein vor der intradiegetischen Erzählung zum Ausdruck gekommenes Rätsel und zugleich die Erlangung eines Gleichgewichts. Dies zeige, so Kafalenos, dass die bloße Anordnung von Teilen der Erzählung verschiedene Interpretationen zur Folge habe; denn nur weil das Ende der Gesamterzählung und der intradiegetischen Erzählung in eins fallen, werde eine Kausalkette etabliert, die es erlaube, den letzten Satz als Wiederherstellung eines Gleichgewichts zu deuten.

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Gerald Prince hat einmal festgestellt, dass

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[narratology’s] influence has been considerable, so much so that critical and theoretical work dealing with narrative corpuses is often called narratological even if it does not focus on traits that are narrative-specific and even when it has few links with or little regard of the narratologist’s methods. 4
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Dies gilt sicherlich für den Band im Allgemeinen und im Besonderen für den dritten Teil, in dem das

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Verhältnis von Erzählformen
zu Geschichte, Politik und Moral

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beleuchtet wird. Darin ist derselbe Gerald Prince mit einem Aufsatz über postkoloniale Narratologie vertreten, in dem er versucht, die spezielle Thematik, die postkoloniale Literatur mit sich bringt, auf das ursprüngliche Projekt der Narratologie zu beziehen und sie als mögliche Bereicherung für die Kategorienbildung zu sehen. Er begreift die neuen Formen der postkolonialen Literatur als Chance und möchte nicht über Bezeichnungen streiten. Sofern die Standards gewahrt werden, möge man von »tausend Narratologien« reden. 5

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Weitere Beiträge dieses Teils untersuchen die Bibel (David H. Richter), gender (Alison Case am Bespiel von Romanen von Dickens) und »narrative Urteile« (James Phelan mit einer Interpretation von Ian McEwans Roman Atonement). Daneben gibt es aber auch Untersuchungsgegenstände, die im Rahmen der Erzähltheorie weniger traditionell sind. Alison Booth geht anhand von Darstellungen, die repräsentativ für die US-amerikanische Geschichte sind (zum Beispiel Mount Rushmore), der Frage nach, inwiefern nationales Erbe und Prosopographien (kollektive Biographien) zusammenhängen und wie bestimmte Darstellungen ihre Repräsentativität erlangen. Das Autorenduo Sidonie Smith und Julia Watson beschäftigt sich mit einer verwandten Thematik und problematisiert die Verlässlichkeit von Autobiographien in vier Hinsichten: Funktion von Scherzen; Spiel mit Fiktion in faktualen Texten; Individuum versus Kollektiv (am Beispiel von Menschenrechtsverletzungen); multi-mediale Selbstinszenierungen. Der Aufsatz von Melba Cuddy-Keane schließlich ist der Darstellung von Tönen und Geräuschen in literarischen Erzählungen gewidmet, für deren Untersuchungen sie in Analogie zu den auf visuellen Metaphern gründenden narratologischen Begriffen wie Fokalisierung »auditive« Begriffe prägt und an Texten von Virgina Woolf vorführt.

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Dem Zusammenhang von narrativen Strategien und moralischen Fragen (»ethical questions«) geht Shlomith Rimmon-Kenan, auch eine altbekannte Narratologin, in ihrem Essay über das autobiographische Buch von Jürgen Nieraad und Ilana Hammerman mit dem ursprünglich hebräischen Titel Under the Sign of Cancer: A Journey of No Return nach. 6 Darin berichten die beiden Autoren in getrennten Teilen über die letzten Lebensmonate des Literaturwissenschaftlers Nieraad. Rimmon-Kenans Untersuchung beginnt mit einer narratologischen Bestandsaufnahme der Erzählverfahren, um dann zu einer Diskussion der moralischen Fragen überzugehen. Diese Erörterung ist sehr sensibel, wie es das Thema auch verlangt. Über den Zusammenhang zwischen Erzählverfahren und den moralischen Fragen lernt man indes nicht allzu viel. Rimmon-Kenan hält fest, dass Hammermans Teil von ihrer »Stimme« dominiert werde (S. 405). Auch wenn sie bemüht sei, ihren Ehemann zu seinem Recht des anderen zu verhelfen, ordne sie ihn in ihrem Diskurs unter. Die größtmögliche Freiheit des anderen äußere sich, so Rimmon-Kenan, im wörtlichen Zitat. Aber ausgerechnet wörtliche Zitate suche man in Hammermans Teil vergeblich. Also sei die Stimme des Ehemanns im Teil seiner Frau unterrepräsentiert und (dies bleibt freilich nur angedeutet) der Diskurs der Frau moralisch verdächtig. Diese Argumentation lässt sich jedoch genauso gut umdrehen: Hammerman prätendiert nicht, ihren Mann für sich sprechen zu lassen, weil sie das gar nicht könnte. Zudem spricht er ja in dem von ihm verfassten Teil für sich. Also verhält sie sich moralisch einwandfrei. 7 Man sieht: Einen Erzähler aufgrund narrativer Eigenschaften seines Textes moralisch zu beurteilen, ist selbst nicht einwandfrei, sondern beruht auf Zusatzannahmen, die nicht narratologischer Natur sind. Von Implikationen kann also nicht einmal in einem stark abgeschwächten Sinne der logischen Beziehung die Rede sein. Dennoch macht die Untersuchung zweierlei auf exemplarische Weise deutlich: dass eine narratologische Beschreibung den Zugang zu einem Erzähltext erleichtert und diesen transparent macht und dass sie für Vergleiche mit anderen Texten sensibilisiert – wie insbesondere die Analyse der Leserreaktion eines der an dem Krankenhaus beschäftigten und von Hammerman kollektiv kritisierten Ärzte beweist, der in seinem Kommentar rhetorische Mittel benutzt, die all jene Vorwürfe Hammermans bestätigen.

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Bleibt nun noch die Frage, was der Band

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Jenseits literarischer Erzählungen

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zu bieten hat. Peter Brooks untersucht die Bedeutung von Erzählungen für die Jurisprudenz und meint, dass die Juristen sie immer unterschätzt hätten. Unabhängig von vielen interessanten Beobachtungen, ist Brooks Auffassung ein erneutes Beispiel dafür, wie stark der Begriff des Erzählens beziehungsweise des englischen »narrative« gedehnt wird: »The imposition of narrative form on life is a necessary human activity; we could not make sense of the world without it« (S. 425). Diese Meinung wird heutzutage von nicht wenigen vertreten. Und es ist ein leichtes, im nächsten Schritt auf die universale Bedeutung der Erzähltheorie (und damit des eigenen Spezialgebietes) für die ganze Menschheit zu schließen. Dabei ist es doch eher ein ganzes Bündel von Praktiken (wie zum Beispiel Hypothesenbildung über Kausalzusammenhänge), das zum Verstehen der Welt beiträgt und nur häufig, aber nicht notwendigerweise in Erzählungen zum Ausdruck kommt.

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Die restlichen Beiträge haben aber wieder künstlerische Darstellungen zum Gegenstand (darunter Alan Nadel über Film, Linda und Michael Hutcheon über Oper, Royal S. Brown über Filmmusik und Peggy Phelan über Jackson Pollocks action painting). Catherine Gunther Kodat geht der Figur des Spartacus in verschiedenen Medien nach. Die Beiträge sind wie auch F. E. Maus’ über Instrumentalmusik problemorientiert. Maus diskutiert nach einer kurzen Erörterung der Andersartigkeit von Musik und Erzählungen drei Versuche, Instrumentalmusik als Erzählform aufzufassen. Daraus leitet er zwei unterschiedliche Funktionen von Erzählungen im Hinblick auf Musik ab: » […] one that uses narrative to communicate a personal experience of music, and one that offers hermeneutic and historical claims about the meanings of musical works« (S. 473). Maus legt den Schluss nahe, dass es bei der Thematik nicht so sehr um die Narrativität von musikalischen Werken gehe, sondern um die Narrativität musikwissenschaftlicher Beschreibungen. Im Anschluss daran erweitert er den Problemkreis durch eine Erörterung des Zusammenhangs zwischen Narrativität und Aufführungspraxis und stellt die These auf, dass die rezipientenseitige Übersetzung der Musik in eine Erzählung (also das, was in Hörern vor sich geht, wenn sie Musik hören und dazu eine Geschichte assoziieren) von der jeweiligen Aufführung beeinflusst werde. Dabei bleibt er sich aber auch hier der Grenzen der Fragestellung bewusst, die er so leidenschaftslos wie seriös als eine von mehreren Möglichkeiten auffasst, sich bestimmten Rezeptionserfahrungen von Musik zu nähern.

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Damit zeigt sich der Band eher reserviert gegenüber dem eingangs erwähnten Trend, der auf eine Ausweitung der Erzähltheorie zielt. Dies machen auch die Herausgeber in ihrer Einführung deutlich (S. 13). Die theoretische Verortung wird nicht explizit vorgenommen, sondern implizit durch die Auswahl von moderaten Aufsätzen dieses vierten Teils, die dem Trend eher verhalten begegnen.

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Damit wären wir nun bei einem

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Fazit

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dieser Besprechung eines umfangreichen Sammelbandes angekommen, der die ganze Vielfalt erzähltheoretischer Bemühungen in der und um die Literaturwissenschaft ideenreich abbildet und geradezu verkörpert. Was freilich fehlt, ist die Einheit in der Vielfalt. Es wird keine fertige Theorie geliefert, sondern, wie es sich vielleicht für eine pluralistische Zeit gehört, ein – wenn man so sagen kann – vielstimmiges Konzert mit freier Themenwahl. Darin findet sich so mancher inspirierender Einfall. Aber nicht nur das. Es werden viele kenntnisreiche und seriöse Interpretationen vorzugsweise englischsprachiger Erzählliteratur dargeboten, die das Kompendium besonders dem Anglisten empfehlen lassen.

 
 

Anmerkungen

»Extensive volumes provide new perspectives and positions on contexts and on canonical and post-canonical texts, orientating the beginning student in new fields of study and providing the experienced undergraduate and new graduate with current and new directions, as pioneered and developed by leading scholars in the field.« URL: http://www.blackwellpublishing.com/seriesbyseries.asp?ref=BCLC [Datum des Zugriffs: 4.7.2007].   zurück
Wer oder was hier halsstarrig ist, muss nicht unbedingt das Problem sein. Vgl. Tom Kindt / Hans-Harald Müller: The Implied Author. Concept and Controversy. Berlin, New York 2006.   zurück
»Part II […] groups together essays that offer significantly new views [new light] of some basic concepts [on stubborn problems] in narrative theory« (S. 5), Ergänzungen von mir, M.A.   zurück
Gerald Prince: Narratology. In: Johns Hopkins Guide to Literary Theory and Criticism. Hg. von Michael Groden and Martin Kreiswirth. Baltimore 1994, S. 524–528, hier: S. 528.   zurück
»[…] let a thousand narratologies bloom!« (S. 379).   zurück
Inzwischen ist das Buch auch auf Deutsch erschienen, vgl. Ilana Hammerman / Jürgen Nieraad: Ich wollte, daß du lebst. Eine Liebe im Schatten des Todes. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Berlin 2005.   zurück
Da aber Nieraads Teil von ihm auf Deutsch verfasst wurde und das Buch auf Hebräisch mit dem Teil in ihrer Übersetzung erschien, meint Rimmon-Kenan auch hier eine Unterordnung zu erkennen. Dieses Argument ist im Falle der deutschen Publikation hinfällig (es sei denn, Nieraads Teil wäre aus der hebräischen Übersetzung ins Deutsche rückübertragen worden).   zurück