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Texte sind auch nur Menschen

Katja Mellmann über emotionale Attrappen und
deren kulturelle Evolution

  • Katja Mellmann: Emotionalisierung - Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Analyse der Literatur der Aufklärungsepoche. (Poetogenesis - Studien zur empirischen Anthropologie der Literatur 4) Paderborn: mentis 2007. 479 S. Broschiert. EUR (D) 68,00.
    ISBN: 978-3-89785-4.
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Die kulturelle Natur des Menschen

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Menschen sind »Fische im Wasser der Kultur« 1 . Die ökologische Nische, an die sich die Gattung evolutionär angepasst hat, ist die menschliche Gemeinschaft; ihre kognitiven Fähigkeiten sind sozialer Natur und das, was genetisch angelegt ist, bedarf der Kultur, um in lernsensiblen Phasen der individuellen Entwicklung entpackt und feinjustiert zu werden. 2 Die Kultur des Menschen formt seine Natur in dem Maße, in dem sich die Formen der Kultur bewähren, weil sie ihre Möglichkeiten und Grenzen in der Natur des Menschen finden. Eine Anthropologie, die der Komplexität dieses wechselseitigen Bedingungsverhältnisses von Natur und Kultur gerecht werden möchte, hat es daher immer auch mit der Schnittstelle von biologischer und kultureller Evolution zu tun. Und umgekehrt wird, wer sich mit kulturellen Phänomenen beschäftigt, nicht umhin können, sich Fragen nach ihrer Genese zu stellen, d.h. evolutionstheoretisch zu argumentieren.

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Katja Mellmanns Buch folgt diesem Programm. Es widmet sich der heiklen Frage nach der emotionalen Wirkung von Literatur und versucht, das unproduktive Gegeneinander von Natur und Kultur in ein komplexes Ineinander von evolutionären Dispositionen und kulturellen Evolutionen zu übersetzen. Mellmanns Projekt lässt sich als Aufklärung der Literaturwissenschaft über die anthropologischen Basisphänomene verstehen, ohne die empirische Leser nicht in der Lage wären, sich das emotionale Potential literarischer Texte zu erschließen. Doch damit nicht genug. Die Studie macht sich nicht nur zur Aufgabe, Erkenntnisse der psychologischen, ethologischen und humanbiologischen Wissenschaften zu einer komplexen Literaturpsychologie auszuarbeiten, sie beansprucht auch, einen eigenständigen Beitrag zur Aufklärungsforschung zu leisten, indem sie die im systematischen Teil gewonnenen Orientierungen an einem historischen Modellfall, der Literatur der Aufklärungsepoche, erprobt. Teil eins (»Emotionalität und Literatur«) entwirft das »literaturpsychologische Instrumentarium«, Teil zwei rekonstruiert die Geschichte der Literatur »von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund« als Prozess der »Emotionalisierung«. Beide Teile – die systematische Grundlegung wie die historische Entfaltung – erfordern und verdienen gesonderte Darstellung und Diskussion.

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Reiz und Wirkung:
Literatur als emotionale Attrappe

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Wenn in literaturwissenschaftlichen Kontexten von Emotionen gesprochen wird, dann ist von den »Emotionen des Textes« oder seinem Emotionspotential die Rede, davon auch, wie literarische Texte Emotionen darstellen, selten von den Emotionen, die literarische Texte auslösen. 3 Mellmanns Literaturpsychologie geht es nicht um die Präsentation von Emotionen in literarischen Texten (mimetisch nennt sie diese theoretische Option), sondern um die emotionalen Wirkungen eines Textes auf einen »anthropologischen Modell-Leser« (S. 21), dessen psychische Grundfunktionen sie im Detail rekonstruiert. Mellmann versteht Emotionen als komplexe kognitive Programme, die – im Gegensatz zu Reflexen – Reiz und Reaktion entkoppeln. 4 Sie werden zwar von einem reflexartigen und invariablen Auslösemechanismus in Gang gesetzt, besitzen dann aber eine so hohe Verlaufsvariabilität, dass sie es dem Organismus ermöglichen, auf spezifische Situationen bestmöglich, d.h. auf phylogenetisch bewährte Weise zu reagieren. 5 Aus evolutionsbiologischer Sicht dienen solche Makroprogramme dazu, eine Vielzahl situationsrelevanter Suchimpulse zu koordinieren. Insofern lassen sich Emotionen als gestalthafte Ensembles perzeptiver, physischer und kognitiver Submechanismen charakterisieren (vgl. S. 31).

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Die Wirkung der Literatur besteht in der unwillkürlichen »emotionalen Reaktion auf sprachlich präsentierte Attrappen« (S. 42). Ihre kognitiven Reize setzen emotionale Prozesse in Gang und sie tun dies umso zwangsläufiger, je präziser und detaillierter es dem Text gelingt, das angeborene Auslöseschema zu aktivieren. Mit anderen Worten: Die emotionale Qualität einer sprachlichen Attrappe bemisst sich am Grad ihrer »Schemakongruenz«, d.h. an der »Übereinstimmung der Reizdarbietung mit einem emotionsauslösenden mentalen Schema« (S. 52). Es ist also nicht die Illusionswirkung (oder der Realitätseffekt), sondern der emotionsspezifische Relevanzaspekt der Darstellung, der einen Text lebendig macht. Man könnte auch sagen: Anmutungsqualitäten gewinnen literarische Texte, wenn sie dem, was sie darstellen, komplexe Prägnanz verleihen.

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Die Unterscheidung zwischen der unwillkürlichen Reaktion eines Auslöseschemas auf eine sprachlich induzierte Imagination und dem Verlaufsmuster des ausgelösten Emotionsprogramms ist Mellmanns Antwort auf die Frage, weshalb uns das Schicksal von literarischen Figuren rührt, obwohl wir doch wissen, dass sie nicht wirklich existieren: »weil der Auslösemechanismus des reagierenden Emotionsprogramms dies nicht weiß« (S. 75). Deshalb hält sie es für »ratsam, die geisteswissenschaftliche Primärunterscheidung von ›realen‹ und ›fiktionalen‹ Stimuli fallen zu lassen« (S. 62) und danach zu fragen, wie die pragmatische Relevanz des sprachlichen Stimulus überprüft wird, nachdem etwas in uns reagiert hat. Der Relevanztest lässt sich dann entweder als Submechanismus eines Emotionsprogramms (vgl. S. 63) oder als Gültigkeitsindizierung einer Anschlusskognition (vgl. S. 75) begreifen, aber nicht schon als Aspekt des Stimulus selbst.

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Emotionales Textverstehen: Einfühlung revisited

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Nachdem Mellmann das emotionspsychologische Modell vorgestellt, seine literaturwissenschaftliche Relevanz expliziert und Anschlussstellen für kulturgeschichtliche Forschungsperspektiven markiert hat, kommt sie zur Frage, wie es möglich ist, dass Leser aus Sätzen Personen machen. Ihre Theorie des »emotionalen Textverstehens« beginnt bei der Rekonstruktion von vier »hermeneutischen Basisprozessen«, mit deren Hilfe die Verfasserin das Konzept der Einfühlung reformuliert: psychopoetische Effekte (S. 99–104), Imagination (S. 105–108), Theory of mind (S. 108–111) und Empathie (S. 115–124). Diese psychischen Mechanismen stellen jene »imaginäre ›Attrappe‹« (S. 105) her, auf die der anthropologische Modell-Leser emotional reagiert. Es handelt sich also nicht selbst schon um emotionale Phänomene, sondern um Kategorien, die den Prozess der Vorstellungsbildung rekonstruieren.

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Unter einem psychopoetischen Effekt versteht Mellmann einen »reflexhaften Basisprozess« (S. 103), der dafür verantwortlich ist, dass wir Satzfolgen Instanzen wie Autor, Erzähler und Figur zuschreiben, d.h. ein »pseudopersonales Gegenüber« (S. 102) konstruieren. Wir folgen dabei einem intentionalen Algorithmus, der besagt: »Denke dir zu einer Situation einen planenden Verursacher dieser Situation!« (S. 99 f.) Imagination konzipiert Mellmann als sprachlich vermittelte »Perspektivenübernahme« (S. 105), als eine Form der »›Stellvertreter-Erfahrung‹ (vicarious experience)« (S. 106), die sich dann einstellt, wenn die sprachliche Darstellung von Informationen an eine »anthropomorphe Wahrnehmungsinstanz« (S. 108) gebunden wird. Mit dieser imaginativen Perspektivenübernahme ist zumeist auch die Aktivität verknüpft, Vorstellungen über die Kenntnisse, Absichten und Motive der imaginierten Personen, also eine Theory of mind, die Theorie eines fremden Bewusstseinszustandes, aufzubauen; wird zudem der »›innere‹ Zustand« (S. 115) einer anderen Person mental repräsentiert, spricht Mellmann von Empathie. Empathie ist nicht mit Gefühlsansteckung zu verwechseln – dieses Phänomen ist an »Emotionen mit starker visuell-auditiver Display-Funktion« (S. 122), vorrangig an Emotionssignale wie Lachen und Weinen, gebunden; sie ist Mellmann zufolge überhaupt nicht als Emotion zu verstehen, weil sie sich »nicht sinnvoll als Initialisierung körpereigener Emotionsprogramme konzeptualisieren« (S. 203) lässt. Immer dann aber, wenn eine empathische Vorstellung zum »Auslöser einer Emotion« (S. 124) wird, betritt man das Feld der für die Literatur besonders relevanten »soziale[n] Emotionsprogramme« (S. 125).

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Zu diesen tatsächlich emotionalen Prozessen des Textverstehens zählt Mellmann Planungsemotionen (S. 112–115), Mitleid (S. 124–128), Rührung (S. 128–134), Sympathie (S. 134–143) und Bewunderung (S. 143–155). Die Kapitel, in denen diese Programme vorgestellt und literaturtheoretisch bedacht werden, gehören zu den inspirierendsten Abschnitten des Buches. Hatte Mellmann zunächst vermieden, von Einfühlung zu sprechen, so vermeidet sie nun den Begriff der Identifikation. Sie muss dies schon deshalb tun, weil es ihr darum geht, zwischen Text, Vorstellungsbildung und emotionaler Reaktion auf diese Vorstellungen konsequent zu unterscheiden. Wenn wir uns personale Wahrnehmungen (Perspektivenübernahme / Imagination), ein quasipersonales Alter Ego (psychopoetischer Effekt), die Pläne und Absichten (Theory of mind) oder die Gemütszustände einer Figur (Empathie) vorstellen, dann ist unsere gefühlsmäßige Reaktion auf diese Vorstellungen mit den Gefühlen der Figuren nicht notwendigerweise identisch (vgl. S. 112 f.). Abgesehen davon, dass jede Form der Einfühlung darauf angewiesen ist, dass wir ein fremdes Erleben in uns nachbilden, ohne es mit unserem eigenen Erleben zu verwechseln, ist von Identifikation zu sprechen auch deshalb irreführend, weil soziale Emotionen »phylogenetisch meist komplementär, nicht kongruent zueinander entwickelt worden sind« (S. 113).

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Wenn wir mit dem, was literarische Figuren wünschen und befürchten, mithoffen und mitbangen, dann wirkt unsere Vorstellung ihrer Pläne und Absichten auf unsere eigenen Planungsemotionen, das sind zielorientierte Emotionen wie Sehnsucht, Enttäuschung, Bedauern, Verzweiflung etc. Während man in solchen Fällen noch davon sprechen kann, dass wir im Prozess der Lektüre die »Präferenzschemata« (S. 115) von Figuren übernehmen, der Begriff der Identifikation also eine gewisse Plausibilität besitzt, reagieren wir im Falle des Mitleids auf vorgestelltes Leid, ohne dieselbe Form des Leides zu empfinden: »Der Bemitleidete fühlt (leidet, weint) in bezug auf die leidvolle Situation, in der er sich befindet. Der Mitleidige fühlt in bezug auf das soziale Gegenüber« (S. 125). Mitleid – so Mellmanns Paraphrase der einschlägigen Überlegungen Lessings – stellt sich ein, wenn die Situationsdetektoren »›Verdienst‹ und ›Unglück‹« (S. 126) einer Figur zugleich wahrnehmen, die Schemakongruenz des literarischen Triggers also optimiert wird.

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Den Effekt der Rührung, das »weinende Mitleid« (Lessing), reformuliert Mellmann als eine »Kapitulationsrespons«, die die Muskeln erschlaffen und die Tränen fließen lässt. Wenn wir aus Mitleid weinen, weinen wir, weil wir emotional überfordert sind. Weinen ist eine Form der »supplikativen Bewältigung von Überforderungssituationen und Situationen nicht parierbarer Bedrohung« (S. 131), die darauf abzielt, beim Gegenüber selbst Mitleid zu wecken. Der Filmwissenschaftler Ed Tan und der Emotionspsychologe Nico Frijda 6 , auf deren Thesen Mellmann sich stützt, haben das Erlebnis, von den eigenen Emotionen überwältigt zu sein, auf Situationen zurückgeführt, die »existentielle menschliche Bedürfnisse« (S. 133) berühren: Wir weinen, wenn es um Gerechtigkeit, Selbsterhaltung oder soziale Bindung geht – wie immer (gut oder schlecht) es im konkreten Fall auch ausgehen mag.

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Das komplexe Phänomen der Identifikation mit dem Helden, das begrifflich diffus genug ist, um den Gedanken zu provozieren, dass identifikatorische Lektüre Fiktion und Wirklichkeit verwechselt, strukturiert Mellmann neu, indem sie verschiedene Grade der Sympathie mit dem Helden unterscheidet: die Minimalform des Verständnisses, die darauf beruht, dass wir jemanden als Artgenossen, als »psychisch homolog zu uns verfasstes Wesen« (S. 138), wahrnehmen; die ethisch begründete Parteinahme für Personen, deren »Werthaltungen« (S. 139) wir teilen und die in diesem Sinne zu Identifikationsfiguren werden; die emotionale Familiarität, d.h. die Bindung an Personen, die uns so ans Herz gewachsen sind, dass es uns schwer fällt, uns am Ende eines Buches von ihnen zu trennen; schließlich das Gefühl tiefer Verbundenheit, das mit der Vorstellung verknüpft ist, im Buch einer verwandten Seele zu begegnen (vgl. S. 141).

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Auch Bewunderung gehört – in Form der »admirativen Identifikation« (Jauß) – zum traditionellen Spektrum des Identifikationsbegriffs. Mellmann konzipiert sie als eigene Emotion mit einem eigenen adaptiven Wert: Sie disponiert zur »Nachahmung von aktuell erfolgreichem Verhalten« (S. 143) und stimuliert damit soziales Lernen. Mellmanns detaillierte Rekonstruktion der Begriffsgeschichte mündet in die Beobachtung, dass der Rezeptionsaffekt der Bewunderung sich seit dem Ende der traditionellen heroischen Genres vorrangig auf das Kunstwerk als Ganzes bzw. den Künstler bezieht, eine Feststellung, der eine fundamentalere Bedeutung zukommt, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Ed Tan, auf den Mellmann verweist, hat zwischen »F-Emotions« – Emotionen, die sich auf Elemente der fiktionalen Welt beziehen – und »A-Emotions« – Emotionen, die sich auf das Kunstwerk als Artefakt beziehen – unterschieden. 7 Vermutlich ist dies der eigentliche Sinn der Unterscheidung zwischen einer identifikatorischen (naiven) und einer distanzierten (reflektierten) Lektüre: Naiv ist eine Lektüre, die emotional ganz bei den dargestellten Personen ist, reflektiert eine Lektüre, die auch die Darstellung der Personen zu genießen versteht. Für die Reflexion der ästhetischen Erfahrung wäre dies gesondert in Rechnung zu stellen.

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Literaturtheorie wider Willen

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Der erste Teil des Buches ist darauf angelegt, »eine leistungsfähige moderne Literaturpsychologie« (S. 14 f.) zu entwickeln. Dabei bleibt allerdings offen, wie sich diese Literaturpsychologie zur Literaturtheorie insgesamt verhält. Denn auch wenn man darauf beharren will, dass es hier nur um die Formulierung einer evolutionsbiologisch inspirierten Literaturpsychologie geht, so bemisst sich die Leistungsfähigkeit dieser Psychologie doch daran, welche Antwort sie auf allgemeine literaturwissenschaftliche Fragen zu geben vermag. Zunächst hat es den Anschein, als ginge es nur darum, literaturtheoretische Fragestellungen um traditionell vernachlässigte Aspekte zu erweitern. Tatsächlich werden dabei aber ganz wesentliche literaturtheoretische Konzepte revidiert und Alternativen zur Diskussion gestellt.

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Schon die Frage nach der Wirkung der Literatur ist dezidiert literaturtheoretisch motiviert. Denn es liegt auf der Hand, dass es nicht phänomengerecht wäre, nach der emotionalen Wirkung einer wissenschaftlichen Abhandlung oder einer unübersichtlichen Gebrauchsanweisung zu fragen, während es doch geradezu phänomenblind ist, die emotionale Wirkung poetischer Texte nicht zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen. Dass die Literaturwissenschaft in dieser Hinsicht partiell tatsächlich phänomenblind ist, hat mit ihrer unreflektierten Schriftfixiertheit zu tun. Der anthropologische Normalfall, das, was alle Menschen aller Kulturen wohl immer schon gemacht haben und immer noch tun, kommt ganz ohne Schrift aus: Personen bringen anderen Personen sprechend und intonierend zu Gehör und stellen ihnen mimisch-gestisch agierend vor Augen, was sie oder dritte Personen erlebt und erlitten haben. Poesie ist primär Rede; ihr ursprünglicher Sitz im Leben war und ist die leibhaftige Interaktion und sie ist – auch in ihrer geschriebenen Form – darauf angelegt, in Imagination übersetzt und leiblich aufgeführt zu werden, d.h. als Anleitung zur Imaginationsbildung wahrgenommen zu werden.

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Dass der Text im Bewusstsein des Lesers entsteht, war die zentrale Intuition der Rezeptionsästhetik, die Katja Mellmann mit den Mitteln der Evolutionsbiologie und der Kognitionswissenschaften fortsetzt, und auf dieser Einsicht beruht auch der Reiz der Metapher von Literatur als emotionaler Attrappe. Diese Metapher gibt aber auch zu erkennen, dass sich die hier entwickelte Literaturpsychologie immer schon an schriftlichen, material vergegenständlichten Texten 8 orientiert, sich z.B. genötigt sieht, literarische Figuren als »Fehlattributionen« (S. 102) aufzufassen, die Personen entstehen lassen, wo es streng genommen nur »Buchstaben« (S. 102) gibt. Tatsächlich verbirgt sich hinter derlei Überlegungen eine zentrale literaturtheoretische Wahrheit, die als solche nicht zur Geltung gebracht wird: Die Darstellung von Personen (und von Personalität) ist für poetische Texte schlechterdings konstitutiv. Nur wenn man sich auf diese schlichte Evidenz besinnt, wird verständlich, wie sich die Theorie der sprachlichen Attrappe, die Katja Mellmann zunächst entwickelt, zu der Theorie des emotionalen Textverstehens verhält, mit der sie Konzepte wie Einfühlung und Identifikation reformuliert. Im ersten Anlauf hatte sie eine Theorie der Vorstellungsbildung mehr vorausgesetzt als ausgearbeitet. Im zweiten Anlauf zeigt sich, dass der zentrale Aspekt der Konstitution einer imaginären Attrappe darin besteht, dass wir uns fühlende, planende, sprechende, handelnde, interagierende Personen, kurz: bewusstseinsfähige Wesen vorstellen und uns von dieser Vorstellung emotional affizieren lassen. Mellmanns anthropologischer Modell-Leser, der sich zunächst noch vor Spinnen, Schlangen und Gewittern fürchtet (vgl. S. 54 f.), entpuppt sich als Wesen mit primär sozialen Emotionsprogrammen. Weil es Personen sind, an deren Leben, Erleben und Handeln empfindungsfähige Leserinnen und Leser Anteil nehmen, und weil schriftlich induzierte Personenvorstellung auf besondere Weise darauf angewiesen ist, dass ein personales Erleben sprachlich vergegenwärtigt wird, muss man sich nicht darauf festlegen, zwischen einer mimetischen und einer empirischen Literaturpsychologie zu unterscheiden – zumindest dann nicht, wenn man Mimesis nicht einfach als Formel für den Wirklichkeitsbezug der Dichtung versteht, sondern – dem ursprünglichen Wortsinn folgend – als wirkungsmächtige, d.h. Lachen und Weinen erzeugende Darstellung von Personen durch Personen oder: als Formel für die Anmutungsqualitäten der sprachlichen Artikulation.

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Emotionalisierung der Literatur

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Im zweiten Teil des Buches widmet sich Katja Mellmann dem Emotionalisierungsschub, den die deutsche Literatur im 18. Jahrhundert erfährt. Dabei geht es ihr nicht um die Geschichte der poetologischen Programmatik, sondern um die Evolution emotionalistischer Darstellungstechniken. Auch in diesem Teil des Buches argumentiert die Verfasserin evolutionstheoretisch: Sie beschreibt (1) dichtungsgeschichtliche Innovationen, belegt (2) ihre Stabilisierung und erläutert (3) die emotionale Wirkung der jeweiligen Textmerkmale. Evolutionstheoretisch im eigentlichen Sinn ist dieses Verfahren insofern, als es Veränderung nach dem Grundprinzip von Mutation und Selektion wahrnimmt. Vollständig ist dieses Erklärungsmuster daher erst dann, wenn es anzugeben vermag, in welchem »environment of evolutionary adaptedness« (S. 17), d.h. hier »aufgrund welcher sozial- und wissensgeschichtlichen Bedingungen« (S. 161) einzelne Emotionalisierungsbausteine sich bewähren und in einem kumulativen Effekt den »emotionalisierten Dichtungstypus« (S. 159) entstehen lassen konnten. Deshalb braucht Katja Mellmann (4) ein historisches Bezugsproblem, an das die literarischen Emotionalisierungsstrategien funktional angepasst sind. In einem letzten Schritt (5) werden die Beobachtungen mit der Selbstwahrnehmung der Zeitgenossen verglichen und so Anschlüsse an den diskursgeschichtlichen Forschungsstand hergestellt.

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Auch die Wahl des Textcorpus ist gewissermaßen evolutionstheoretisch inspiriert: Im Bereich der »Nebenstundenpoesie«, abseits der poetologisch verwalteten Gattungen Epos und Drama, die dem »Druck« ausgesetzt waren, »eine deutsche Nationalliteratur zu begründen«, konnten sich, so die etwas verblüffende Vermutung, die Veränderungen ereignen, die für die Literatur dann folgenreich werden sollten (S. 162). Die Interpretationen, an denen Mellmann ihre Thesen im Detail entwickelt, widmen sich Brockes’ neunbändiger Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott, Albrecht Hallers Versuch Schweizerischer Gedichte und dem Gedichtwerk Friedrich von Hagedorns (Versuch einiger Gedichte; Oden und Lieder). Es ist hier nicht der Raum, die textnahen Ausführungen und die bis in die Fußnoten gelehrte Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Literatur im Einzelnen zu diskutieren. Ich beschränke mich auf die Rekonstruktion einiger zentraler Thesen und die damit verbundene Erweiterung des emotionspsychologischen Instrumentariums.

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Literarische Basisinnovationen und
basale Emotionskomplexe

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Zu den drei Basisinnovationen zählt Mellmann die »Ausdifferenzierung der lyrischen Wahrnehmungsfunktion« (S. 164–230), die Entdeckung des Erhabenen (»Aversive Reizsetzung«, S. 231–263) und die Entwicklung einer literarischen Scherzrede (»Das Formprinzip des Witzes und appetitive Reizsetzung«, S. 264–352).

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An Gedichten von Brockes identifiziert sie eine »reziproke Dynamisierung von Wahrnehmung und Stimme« (S. 168). Die Gedichte gestalten einen Wahrnehmungsprozess und ein verbales Verhalten zu dieser Wahrnehmung. Dabei entsteht nicht nur eine »erfahrungsähnlich ›formatierte‹« (S. 218), d.h. erlebnishaft gestaltete Welt – Mellmann spricht von »Quasi-Empirie« (S. 190) –, sondern auch ein darauf reagierendes Subjekt im Hier und Jetzt seines Sprechens.

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Die »Ausdifferenzierung einer lyrischen Wahrnehmungsfunktion« betrifft eine (vielleicht nicht notwendigerweise lyrisch zu nennende) Darstellungstechnik, die als solche noch keine eigene emotionale Qualität besitzt – sieht man davon ab, dass sie die personalen Qualitäten des Wahrnehmens und des Sprechens zur Geltung bringt. Anders im Fall des Motivbereichs, den das Erhabene erschließt. Diesen Motivkomplex (wie dann auch den Aspekt des Scherzens) reformuliert Mellmann dezidiert emotionspsychologisch. Konzeptionell stützt sie sich auf die Arbeiten des Neuropsychologen Jeffrey A. Gray, der drei basale »Emotionskomplexe« – Annäherung (Behavioral Activation System, BAS), Kampf / Flucht (Fight / Flight System, FFS) und Verhaltenshemmung (Behavioral Inhibition System, BIS) – unterscheidet 9 , die Mellmann ihrerseits als Submechanismen von Emotionsprogrammen identifiziert (vgl. S. 246). Mit diesen drei Emotionskomplexen reagieren wir auf Reize, die entweder zielgerichtete Handlungen (appetitive oder Appetenzreize) oder ungerichtete Handlungen und Passivität (aversive bzw. Unterbrechungsreize) begünstigen.

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Der Motivkomplex des Erhabenen, der auf aversiver Reizsetzung beruht, stellt im strengen Sinne kein basales Emotionsprogramm dar, sondern »eine vom Verhaltenseffekt her lose zusammengestellte Gruppe von dysfunktionalen Programmverläufen jeweils unterschiedlicher Emotions- und Wahrnehmungsprogramme« (S. 232). Dysfunktional sind Objekte, die alles menschliche Maß übersteigen, sei es perzeptiv, motorisch, vegetativ, d.h. im Sinne einer lebensfeindlichen und unwirtlichen Natur, oder soziointegrativ. 10 Das »›klassische Erhabene‹« der Frühaufklärung kennzeichnet Mellmann als »relativ stereotype kognitive Copingstrategie«, die eine »distinkte ›komplexe Emotion‹« etabliert (S. 232). Die Gedichte gestalten ein typisiertes Motivrepertoire von Angstreizen – das Firmament (Brockes), Gewitterstürme, Fluten, Feuersbrünste, die Alpen (Haller) usw. – und demonstrieren ihre kognitive Bewältigung: »Vorgeführt wird in den betreffenden Gedichten eine Verarbeitung furchterregender aversiver Reize, die auf demütiges Vertrauen als emotionales Erkenntnisziel ausgelegt ist.« (S. 257) Wir haben es also mit einer Art »Reiz-Semantisierung« (S. 92) zu tun, in deren Verlauf sich – zunächst literarisch, dann auch lebensweltlich (vgl. S. 256) – eine komplexe emotionale Reaktion auf Naturphänomene ausbildet, die zwar von Furchtemotionen abgeleitet ist, sich aber nicht als evolutionsbiologische Adaptation ausweisen lässt. Mit anderen Worten: Das Erhabene ist eine kognitive Bewältigungsstrategie für Stressemotionen und beruht auf kultureller Konditionierung.

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Das historische Bezugsproblem der beiden Innovationen sieht Mellmann in der Notwendigkeit, die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaften und die Weltdeutungsmuster der Religion aufeinander abzustimmen (vgl. S. 226 f.). Brockes’ Strategie, in seinen Gedichten Wahrnehmungsprozesse und die Reaktion auf diese Wahrnehmungsprozesse zu gestalten, deutet sie als Versuch, den »Transformationsprozess von Wahrnehmung in Wissen transparent zu machen« (S. 227) und so eine »konsensuelle Erfahrungswirklichkeit« (S. 227) auszuarbeiten. Die kulturelle Erfindung des Erhabenen führt dies weiter, indem sie »Symbole für das Göttliche« (S. 259) artikuliert, die mit dem naturwissenschaftlichen Weltwissen vereinbar sind. Es handelt sich also (im Sinne Luhmanns) um ein Problem der kulturellen Semantik: »Analogische Gottesbilder gelten nun als naiv; die Gottes-Metaphern der Frühaufklärung sind gewissermaßen periphrastische Konstruktionen, die den Umweg über das ›Gefühl‹, die unbegriffliche sinnliche Erkenntnis nehmen müssen.« (S. 259)

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Die dritte Innovation vollzieht sich im Bereich des Heiteren: in der Entwicklung einer scherzhaften Sprechhaltung (exemplarisch dargestellt an Hagedorns Ode Der Wein), die in den Gedichten Gleims zu einem syntaktisch schlichteren, »geschmeidigen« Stil (vgl. S. 312 f.) ausgearbeitet und um motivische Aspekte einer »appetitiven Reizsetzung« – Bilder fröhlicher Bewegtheit und scherzhafter Ausgelassenheit jugendlicher Liebender (vgl. S. 309 f.) – erweitert wird.

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Möglich wird die scherzhafte Sprechhaltung, weil die sprachtheoretische Unterscheidung zwischen Gesagtem und Gemeintem (vgl. S. 269), die sich in der Frühaufklärung etabliert, dem Dichter einen Spielraum für witzige Einfälle, d.h. »unschwerwiegende Fehler« (S. 272) eröffnet, die zum Lachen reizen. Wir lachen immer dann, so lautet die vom Filmwissenschaftler Dirk Eitzen 11 formulierte Faustregel, wenn der soziale Zusammenhalt oder die eigene soziale Integration »in Situationen unschwerwiegenden sozialen Stresses […] gefährdet, aber noch zu retten sind« (S. 333). Mellmann sieht in diesem »unschwerwiegenden Fehler« des scherzhaften Sprechens jenen Auslösereiz, der den Leser in Stress versetzt und ihn, wenn sich der Fehler im Verstehen als unschwerwiegend erweist, aus der Stresssituation befreit.

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Lachen trägt dazu bei, den sozialen Kontakt aufrecht zu erhalten. Bereits die Zeitgenossen nehmen wahr, dass die scherzhafte Dichtung das gegebene Medium ist, die selbstzweckhafte Geselligkeit zu stimulieren. Mellmann setzt die Entstehung der Rokokopoesie mit der »Entwicklung eines neuen medizinischen Menschenbildes und einer neuen diätetischen Heilpraktik« (S. 344) in Parallele und deutet die Dichtungen eines Gleim, Uz, Kleist als Reaktion auf den Professionalisierungsschub der Wissenschaften und eine »zunehmend dem Stresspotential einer überfordernden professionalisierten Wissensfülle ausgesetzten Lebenspraxis« (S. 349): Sie gewährt gesellige Erholung und sorgt für seelisches Wohlbefinden.

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Emotionalisierte Literatur und Exklusionsindividualität

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Im letzten Abschnitt ihres Buches wendet sich Mellmann den »Rekombinationen und neue[n] Funktionen« derjenigen Basisinnovationen zu, die sich in der kulturellen Nische der Nebenstundenpoesie ereignen und im literarischen Genpool etablieren konnten. Dazu zählen die Nachahmung »aufgeregte[n] Sprechen[s]« (S. 360) und die Entwicklung eines zeitdeckenden, d. h. »wahrnehmungsmimetischen Erzählstils« (S. 363) in Klopstocks Odensprache und die Erfindung des lyrischen Ich – Formen des Schreibens, die sich dem Sprechen nähern, weil sich im Sprechen das Erleben ungleich suggestiver zur Geltung bringt als in der schriftlichen Reduktion der Mitteilung auf ihren Informationsgehalt.

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Die parallel verlaufende Entwicklung einer emotionalisierten »Ausdruckshaltung in der Prosasprache« deutet Mellmann als »Übertragung« (S. 374) genuin lyrischer Artikulationsformen auf die Figurensprache des Romans und des Dramas, die sich ihrerseits auf keine entsprechenden Traditionen stützen konnten (vgl. S. 374 f.). Mit gleichem Recht könnte man freilich behaupten, dass sich die beschriebenen Innovationen nicht nur in der lyrischen Nebenstundenpoesie entwickelten, sondern auch in dem außerliterarischen, aber poesienahen Bereich der zeitgenössischen Briefkultur. Genereller formuliert: Erlebnisnahe und erlebnishafte Artikulationsformen entwickelten sich in und außerhalb der Dichtung, weil das Schreiben und das Dichten lernte, sich an Verbalisierungsstrategien expressiver Mündlichkeit zu orientieren und die Prozesshaftigkeit des Sprechens (siehe Laokoon) als sein mediales Apriori zu begreifen (vgl. S. 363 u. S. 375). Ob in Form enthusiastischer Aufgeregtheit oder als »Teichoskopie der Innerlichkeit« (S. 376) mit supplikativen Qualitäten – stets handelt es sich um eine Mimesis des emotionalisierten Sprechens, in der der Prozess der Artikulation selbst sinn- und imaginationsbildend ist.

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Mellmann sieht die Ausdifferenzierung des lyrischen Ich primär dort verwirklicht, wo es als »psychisch autonome[s] Sprechersubjekt« (S. 367) aus einer Stressemotion heraus spricht – als Beispiel dient ihr Goethes Willkomm und Abschied (vgl. S. 368 f.) –, und sie sieht sich deshalb vor die Frage gestellt, wie sich diese »verbreitete Vorliebe für stressintensive Dichtung ohne Zweckbindung« (S. 371) erklären lässt. Nun ist es meines Erachtens zwar keineswegs zwingend, das enthusiastisch aufgeregte Sprechen generell als stressinduziert aufzufassen – aversive Reize wird man etwa im Mayfest vergeblich suchen –, doch lässt sich auch an diesem Gedicht eine gesteigerte Emotionalität und jener »Stimulus der Totalität« (S. 370) wahrnehmen, den Mellmann dann auch im Schicksalskonzept des Sturm und Drang-Dramas als zur Plotstruktur generalisierte Stresssituation wiederfindet (vgl. S. 389 f.).

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Mellmann deutet die Aufgeregtheit des Sturm und Drang als Versuch, dem neuzeitlichen Individuum, das in einer funktional differenzierten Gesellschaft keine identitätsstiftende Orientierung mehr findet und seine soziale Exklusion kognitiv verwalten muss, die Möglichkeit zu geben, sich bei der Lektüre selbst wahrzunehmen, »d.h. über die physischen Begleiterscheinungen emotionaler Affiziertheit eine sinnliche Basis des Ich zu vergegenwärtigen, die auch außerhalb von sozialen Kontexten, nämlich im Raum des Imaginären, eingesetzt werden kann« (S. 372 f.). Das Buch bietet sich dem Leser als Freund an, der ihm Trost spendet und ihn so in seiner Exklusionsindividualität bestärkt (vgl. S. 403 f.).

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Das Problem mit dem Problem und die
Evolution der Evolution

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Evolutionsbiologische Erklärungen brauchen typische Szenarien, die den Selektionswert einer Errungenschaft verständlich machen; sie argumentieren nicht historisch, sondern formulieren plausible Vermutungen. 12 Das gilt mutatis mutandis für die Erklärung der kulturellen Evolution. Im historischen Teil ihrer Arbeit wechselt Mellmann die Begründungsebene: Hatte sie zunächst den psychischen Apparat eines anthropologischen Modell-Lesers im Blick, so betrachtet sie nun die Erfahrungen historischer Subjekte. Sie fragt nach einem kulturellen EEA. Undiskutiert bleibt dabei, weshalb es überhaupt eines historischen Bezugsproblems bedarf, um die literarischen Innovationen des 18. Jahrhunderts zu erklären, wenn man doch zuvor plausibel gemacht hat, dass sie auf anthropologischen Dispositionen beruhen. Das wäre so, als wollte man, nachdem man erklärt hat, weshalb wir Fettes und Süßes mögen, nach einem historischen Bezugsproblem suchen, um zu erklären, weshalb unsere Lebensmittelindustrie Fettes und Süßes massenhaft herstellt. Sie kann es einfach.

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Ähnliches lässt sich von den Innovationen behaupten, die Mellmanns detaillierte Lektüren als historisch signifikant herausstellen: Nicht die Bedürfnisse haben sich geändert, sondern die kommunikationstechnischen Möglichkeiten ihrer Befriedigung. Eine schriftliche Scherzkultur etabliert sich, weil das Scherzen zu unserem anthropologischen Erbe gehört und in der Schriftkultur des 18. Jahrhunderts einen neuen kulturellen Lebensraum findet. Gescherzt, gelacht, gesungen wurde (und wird) primär nicht im Buch, sondern in der geselligen Interaktion, bei Bier und Wein, dort also, wo andere Drogen zum Lachen, Scherzen und Singen reizen und wo das Lachen, weil es ansteckend ist, nicht notwendigerweise auf elaborierte Formen der Scherzrede angewiesen ist. Und auch die medial vermittelte emotionale Selbstwahrnehmung scheint mir als solche nicht begründungspflichtig zu sein. Alle Kulturen haben Bewusstseinsdrogen, die dazu dienen, das Erleben zu stimulieren und gekonnt zu manipulieren, und auch Kulturen, die keineswegs im Verdacht stehen, funktional differenziert zu sein, ist die Maxime »Ich fühle mich! Ich bin!« 13 als Meditationspraxis ganz voraussetzungslos verständlich.

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Eine Anthropologie der Literatur, die von einem anthropologischen Modell-Leser ausgeht, sollte es nicht nötig haben, sich wechselnde historische Bedürfnislagen von naturwissenschaftlich aufgeklärten, professionell überlasteten oder in ihrer Lebensorientierung kognitiv überforderten Individuen auszudenken, um sich die Entstehung der modernen Literatur im Kontext der kulturellen Evolution verständlich zu machen. Niklas Luhmann hat die Sattelzeit des 18. Jahrhunderts nicht nur als Übergang von einem primär stratifikatorischen zu einem primär funktionalen Prinzip der Gesellschaftsdifferenzierung beschrieben, sondern diesen Strukturwandel auch medientheoretisch perspektiviert, d.h. auf die »evolutionäre Errungenschaft« des Buchdrucks zurückgeführt. 14 Was sich unter dem Gesichtspunkt der historischen Semantik sehr abstrakt als Exklusionsindividualität beschreiben lässt, erscheint in mediengeschichtlicher Hinsicht sehr viel konkreter als Folge der umfassenden Verschriftlichung der gesellschaftlichen Wissens- und Kommunikationsformen. Gesellschaft ist – im Unterschied zu Familie und Gemeinschaft – nur erfahrbar, wenn sie sich interaktionsfrei, d.h. massenmedial vermittelt konstituiert. Exklusionsindividualität ist, so betrachtet, nur eine Formel für die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts alltäglich gewordene Erfahrung, dass die soziale Kommunikation den Horizont der personalen Interaktionen überschreitet, und sie ist deshalb im Kern mit der Erfahrung identisch, sich bei der Lektüre aus der Interaktion zurückzuziehen, um »im Raum des Imaginären« (S. 373) an sozialer Kommunikation zu partizipieren.

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Eine Literaturwissenschaft, die die Erkenntnisse der Evolutionsbiologie produktiv nutzt, müsste auch über eine gegenstandsadäquate Theorie der kulturellen Evolution verfügen. Man wird den Übergang von der biologischen zur kulturellen Evolution wohl als »Evolution der Evolution« 15 bezeichnen dürfen. Dies trifft auch auf den Übergang von einer interaktionsgestützten zu einer medienvermittelten Erlebniskultur zu, der sich im 18. Jahrhundert mit der Entwicklung des Buchdrucks zum echten Massenmedium vollzieht. Weil Gesellschaft Kommunikation ist, stellt die Geschichte der Medien vielleicht jenes Missing Link dar, das Literatur- und Gesellschaftsgeschichte miteinander korrelieren könnte. 16

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Fazit

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Katja Mellmann hat zwei Bücher geschrieben, die man auch getrennt voneinander lesen kann: Das erste entwirft nur eine moderne Literaturpsychologie, das zweite rekonstruiert nur die Entstehung der modernen Literatur. Beide Bücher beeindrucken durch ihre konzeptionelle Energie und eine ebenso entschiedene wie facettenreiche Argumentation. Ob sich die detaillierte Geschichte der literarischen Evolution als Beitrag zur Aufklärungsforschung etablieren wird, wird sich zeigen. Wer aber in Zukunft von der emotionalen Wirkung literarischer Texte handeln möchte, wird dies guten Gewissens nur tun können, wenn er Katja Mellmann gelesen hat.

 
 

Anmerkungen

Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Aus dem Engl. von Jürgen Schröder. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 249. Zur Erläuterung der Formel vgl. ebd., S. 97.   zurück
Vgl. Karl Eibl: Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie (Poetogenesis 1). Paderborn: mentis 2004, S. 88–91.   zurück
Vgl. als Überblick Thomas Anz: Kulturtechniken der Emotionalisierung. Beobachtungen, Reflexionen und Vorschläge zur literaturwissenschaftlichen Gefühlsforschung. In: Karl Eibl / Katja Mellmann / Rüdiger Zymner (Hg.): Im Rücken der Kulturen (Poetogenesis 5). Paderborn: mentis 2007, S. 207–240. Mellmanns Buch lässt sich als Gegenprogramm zu Simone Winkos Studie über »Kodierte Gefühle« lesen. Vgl. S. W.: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900 (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften 7). Berlin: Schmidt 2003.   zurück
Vgl. Klaus Scherer: Emotion Serves to Decouple Stimulus and Response. In: Paul Ekman / Richard J. Davidson (Hg.): The Nature of Emotion. Fundamental Questions. New York, Oxford: Oxford University Press 1994, S. 127–130.   zurück
Mellmann beruft sich auf Leda Cosmides / John Tooby: Evolutionary Psychology and the Emotions. In: Michael Lewis / Jeannette M. Haviland-Jones (Hg.): Handbook of Emotions. 2. Aufl. New York, London: The Guilford Press 2000, S. 91–115.   zurück
Ed S. H. Tan / Nico H. Frijda: Sentiment in Film Viewing. In: Carl Plantinga / Greg M. Smith (Hg.): Passionate Views. Film, Cognition and Emotion. Baltimore, London: Johns Hopkins University Press 1999, S. 48–64 und S. 261–262.   zurück
Vgl. Ed S. H. Tan: Film–induced Affect as a Witness Emotion. In: Poetics 23 (1994), S. 7–32, hier S. 13.   zurück
Für einen Textbegriff, der die Überlieferbarkeit einer Mitteilung betont, ohne diese Überlieferbarkeit mit der Schriftlichkeit der Mitteilung zu identifizieren, vgl. Konrad Ehlich: Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung. In: Aleida und Jan Assmann / Christof Hardmeier (Hg.): Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. München: Fink 1983, S. 24–43.   zurück
Jeffrey A. Gray: Three Fundamental Emotion Systems. In: Paul Ekman / Richard J. Davidson (Hg.): The Nature of Emotion. Fundamental Questions. New York, Oxford: Oxford University Press 1994, S. 243–247.   zurück
10 
Die perzeptive Dysfunktionalität des Erhabenen entspricht Kants Begriff des mathematisch Erhabenen; die motorische Dysfunktionalität seinem Begriff des dynamisch Erhabenen. Die vegetative und die soziointegrative Dysfunktionalität des Erhabenen (das ist die Angst vor sozialem Ausschluss aufgrund der eigenen menschlichen Unzulänglichkeit angesichts utopischer moralischer Maßstäbe, vgl. S. 252) sind kategoriale Neubestimmungen.   zurück
11 
Dirk Eitzen: The Emotional Basis of Film Comedy. In: Carl Plantinga / Greg M. Smith (Hg.): Passionate Views. Film, Cognition and Emotion. Baltimore, London: Johns Hopkins University Press 1999, S. 84–99 und S. 265–268.   zurück
12 
Rudi Keller spricht von »Conjectural History« (Dugald Stewart) oder von einer »Erklärung-im-Prinzip«. Vgl. Rudi Keller: Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache. 2., überarb. und erw. Auf. (UTB 1567) Tübingen, Basel: Francke 1994, S. 57–61 und S. 214.   zurück
13 
Vgl. Katja Mellmann: »Ich fühle mich! Ich bin!« Zur literarischen Anthropologie des Sturm und Drang. In: Aufklärung 14 (2002), S. 49–74.   zurück
14 
Vgl. etwa Niklas Luhmann: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie. In: Hans Ulrich Gumbrecht / Ursula Link-Heer (Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie (stw 486) Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 11–33, v.a. S. 20 f.   zurück
15 
In Anlehnung an Niklas Luhmann: Geschichte als Prozess und die Theorie sozio-kultureller Evolution. In: N.L.: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1981, S. 178–197, hier S. 187.   zurück
16 
Vgl. Karl Eibl: Literaturgeschichte, Ideengeschichte, Gesellschaftsgeschichte – und »Das Warum der Entwicklung«. In: IASL 21 (1996), H. 2, S. 1–26. Eibl argumentiert zwar systemtheoretisch, lässt Luhmanns medientheoretische Perspektive aber unbeachtet.   zurück