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Vom Nutzen und Nachteil
eines vagen Utopiebegriffs für das
Verständnis der Gegenwart

  • Árpád Bernáth / Endre Hárs / Peter Plener (Hg.): Vom Zweck des Systems. Beiträge zur Geschichte literarischer Utopien. Tübingen: Francke 2006. IX, 230 S. Kartoniert. EUR (D) 46,00.
    ISBN: 3-7720-8120-7.
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Bandkonzeption und Aufbau

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Dem vorliegenden Band ging eine internationale Tagung im Oktober 2003 voraus, die im Rahmen des »Sonderprogramms zur Förderung des regionalen Wissenschaftsdialogs in Südosteuropa« mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung in Szeged (Ungarn) organisiert wurde. Vereint sind darin Beiträge von Wissenschaftlern aus Bulgarien, Deutschland, Österreich, Rumänien und Ungarn.

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Es erstaunt, dass sich trotz des internationalen Charakters der Tagung die überwiegende Mehrzahl der Beiträge mit dem Phänomen des Utopischen in der deutschsprachigen Literatur befasst. Dies lässt einiges erwarten, gehören doch literarische Utopien in deutscher Sprache zu den eher selten thematisierten Gegenständen der Utopie-Forschung. Insofern artikuliert schon der erste Beitrag, der Aufsatz von Tünde Katona, dass dem Band ein ungewöhnliches Quellenkorpus zugrunde liegt, wenn er im Titel rechtfertigend fragt: »Utopische Literatur – warum nicht auf Deutsch?« (»Utopische Literatur – warum nicht auf Deutsch? Johann Valentin Andreaes ›Christenburg‹ und Heinrich Nolles ›Parergi Philosophici Speculum‹«, S. 1–9).

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Die Hoffnung, die Untertitel und Index wecken, nämlich einige solide literaturhistorische Beiträge zur Gattungsgeschichte der literarischen Utopie erwarten zu dürfen, wird im Vorwort allerdings enttäuscht. Mit der Behauptung, utopisches Denken und Schreiben besitze ein unvermindertes Potential in der Gegenwart, habe sich aber verlagert in Vorstellungen wie die Europäische Union und ihre Erweiterung oder die Globalisierung, ebnen die Herausgeber alle nennenswerten Unterschiede zwischen Utopie als literarischer Gattung und Utopie als nicht-literarischem, abstraktem Allgemeinbegriff schon am Anfang ein.

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Dieser Versuch, mithilfe des vagen und assoziationsreichen, umgangssprachlichen Verständnisses von Utopie den Aktualitätsbezug des Tagungsbandes zu erzwingen und damit eine einigende Klammer um die zahlreichen Beiträge zu ziehen, geht sehr stark auf Kosten der Analysetauglichkeit des Utopie-Begriffs. Der Band droht an der Masse der Zielstellungen, die im Vorwort angedeutet werden, zu zerreißen. So soll über die gegenwärtigen Optionen des ›Möglichkeitsdenkens‹ aus der Sicht der Literaturwissenschaft nachgedacht werden, allerdings unter der Maßgabe, dass Literatur schon immer eine Art ›Grenzgängertum‹ (S. VIII) gewesen sei. Ziel ist es, die »intellektuelle Praxis« dieses literarischen/utopischen Grenzganges »vor zunehmender Pragmatisierung« (ebd.) zu schützen.

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Mit diesen Formulierungen verbindet sich die böse Vorahnung, dass mit der Rede von der literarischen Utopie im Untertitel eigentlich behauptet werden soll, Literatur sei letztlich Utopie. In der Tat entspricht dies auch dem Erkenntnisinteresse nicht weniger Beiträge des Bandes. Ein solcher auf Literatur insgesamt ausgedehnter, globaler Utopie-Begriff erlaubt es allerdings nicht mehr, überhaupt noch von Utopie als literarischer Gattung zu reden. Der Band bietet insofern sehr divergierenden Utopie-Begriffen Raum, ohne sich damit auseinander zu setzen, dass nach einer verschlungenen, fast 500-jährigen Begriffsgeschichte des Kunstwortes ›Utopie‹ gänzlich unterschiedliche Bedeutungsfelder entstanden sind, die außer der Bezeichnung kaum mehr etwas miteinander gemeinsam haben.

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Die historischen Studien am Anfang des Bandes, die sich mit literarischen Texten von der Frühen Neuzeit bis zu Gegenwart befassen, werden von drei theoretischen Beiträgen ergänzt, die laut Vorwort »im Sinne eines Resümees« (S. IX) zu verstehen sind. Diese Quintessenz-Qualität lässt sich allerdings lediglich dem letzten Beitrag, dem Aufsatz von Wilhelm Voßkamp, attestieren, der konkrete poetische Prinzipien der literarischen Utopie formuliert und aus ihrer Transformation im 18. Jahrhundert die neuzeitliche Dialektik von Utopie und Utopiekritik ableitet.

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Literarische Utopie und Robinsonade

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Andreas Blödorn (»Erzählen als Erziehen. Die Subjektivierung der Utopie und die Selbstreflexion der Aufklärung in den Robinsonaden Defoes, Campes und Wezels«, S. 27–51) widmet sich zunächst einem alten Problem der literaturwissenschaftlichen Utopie-Forschung, nämlich der gattungsgeschichtlichen Unterscheidung von ›literarischer Utopie‹ und ›Robinsonade‹. Sehr präzise arbeitet er heraus, weshalb Robinsonaden nach dem Defoeschen Muster nicht der literarischen Utopie subsumiert werden können. Mit dem Inselraum wird in der Robinsonade nicht eine raumsemantische Gegenweltlichkeit kreiert, sondern »Robinsons Insel stellt vielmehr den als real gesetzten bloßen Extremraum innerhalb einer Welt dar, in der mit Robinsons Ankunft nur noch ein Normensystem – nämlich das mitgebrachte europäische – herrscht« (S. 33). Robinsonaden, so könnte man auch sagen, basieren eben nicht auf einer utopischen Axiomatik bzw. einem Axiomenwechsel, weil das (europäische) Festland und der extreme Inselraum nicht als zwei auf fundamental verschiedenen Axiomen basierende Welten inszeniert werden.

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Blödorns äußerst brauchbare Merkmalsdistinktion dürfte sich für die gattungsgeschichtlich orientierte Utopie-Forschung als unentbehrlicher Zugewinn erweisen. Für ihn ist sie jedoch nur ein hinführendes Argument, mithilfe dessen er zeigen will, dass Robinsonaden sich »im denklogischen Vorfeld der Utopie positionieren« (S. 28), dass sich die Robinsonade aufgrund ihrer narrativen Vermittlung als ›pädagogische Utopie‹ (S. 35) verstehen lasse. Blödorn verlässt dabei, ohne dies kenntlich zu machen, den gattungsgeschichtlichen Utopie-Begriff und wechselt über zum intentionalen Utopie-Begriff. 1 Sein Ergebnis ist, dass das Utopische bei den sehr unterschiedlichen Robinsonaden von Defoe, Campe und Wezel jeweils »nicht in der Fabel, sondern im Erzählen der Fabel« (S. 37) steckt.

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Was Blödorn als die ›utopische Erzählfunktion‹ (S. 51) der aufklärerischen Robinsonade beschreibt, meint letztlich ihre pädagogische Wirkungsintention, da sie beim Leser einen Reflexionsprozess in Gang bringen will. Die Utopie, auf die die Robinsonaden abzielen, wäre somit die Gemeinschaft der durch die Lektüre erzogenen Leser. Ein solcher utopischer Entwurf, das muss man hier anmerken, findet sich allerdings höchstens in Joachim Heinrich Campes Robinson der Jüngere, wo die im Sinne der philanthropischen Pädagogik ideale Erziehungssituation im Text auch dargestellt wird, nämlich als Dialog zwischen dem aufgeklärten Vater und seinen Kindern.

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Die literarische Utopie
zwischen Spätaufklärung und Frühromantik

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Judit Szabó (»Der ›Ardinghello‹ oder die Utopie des Widerstreits«, S. 11–25) versucht in ihrem Beitrag, die Insel-Utopie am Schluss von Wilhelm Heinses berüchtigtem Roman Ardinghello und die glückseligen Inseln für eine dekonstruktivistische Lektüre fruchtbar zu machen. Im Unterschied zur platonischen Republik tritt im Ardinghello-Staat auf Paros und Naxos das Primat des Individuums an die Stelle des Primats der Gemeinschaft. Signifikant ist dabei, dass Heinses Insel-Utopie dennoch an der Staatsidee festhält. Die rudimentären Staatsstrukturen, die allerdings nicht auf eine Institutionalisierung von Konsens, sondern von Wettbewerb hinauslaufen, dienen nach Szabó dazu, das »quälende Problem der Gerechtigkeit« (S. 23), den eigentlichen Leitgedanken von Platons Politeia, zu kaschieren.

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Heinses Integration des ikarischen Individuums Ardinghello in staatliche Strukturen deutet Szabó als Versuch, im Unterschied zur totalen Harmonie des platonischen Idealstaats den intersubjektiven Widerstreit zu institutionalisieren »und dadurch für eine offene und plurale Gesellschaft [zu] plädieren« (S. 23). Einer solchen Indienstnahme für postmoderne Gesellschaftsideale hält aber der Ardinghello m. E. nicht stand. Damit wird nämlich die naturmetaphysische Kosmogonie unterschlagen, der Heinse in seinem Roman einen langen philosophischen Dialog einräumt, und auf dessen Basis seine religiös-anthropologischen und sozial-ethischen Konzepte erst zu verstehen sind. 2

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Der Beitrag von Endre Hárs (»Revolutionspoetik. Benjamin Noldmanns Beitrag zum literarischen Werk Adolph Freiherrn Knigges«, S. 53–76) setzt sich mit den literarischen Formen der Utopiereflexion in Adolph Freiherrn Knigges Roman Benjamin Noldmann’s Geschichte der Aufklärung in Abyssinien (1791) auseinander.

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Márta Gaál-Baróti (»Der ›poetische Staat‹ von Novalis«, S. 77–87) versucht aus dem Blickwinkel der Gattungstradition Novalis’ frühromantische Fragmentsammlung Glauben und Liebe oder Der König und die Königin als literarische Utopie zu lesen. Wie Judit Szabó unterstellt Gaál-Baróti dem Text dabei ein modernistisches Staatsverständnis: Weder Monarchie noch Republik werden von Novalis als ideale Staatsform konzipiert, sondern die Synthese beider als eine »repräsentative Demokratie« (S. 83).

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Gaál-Baróti missversteht hier den Begriff der ›repräsentativen Demokratie‹ aus den Glauben und Liebe-Fragmenten Nr. 63 und 66 in seiner Rolle für den gesamten Text, weil sie die Dialogstruktur der letzten Fragmente nicht durchschaut. 3 Ihre Deutung unterschlägt, dass der ›ewige Frieden‹ als Synthese von Monarchie und Republik bei Novalis auf einem spezifisch anthropologischen Axiom beruht, nämlich dem Ideal des ›Indifferentisten‹, dem sowohl der König als auch die Staatsbürger entsprechen sollen.

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Der Indifferentist, Novalis nennt ihn auch den ›ächten Cyniker‹, ist allen relativen Reizen gegenüber unempfindlich und nur durch den absoluten Reiz, die absolute Liebe, erregbar. Erst diese anthropologische Kondition legt die Grundlage für eine Synthese von Republik und Monarchie, weil in einer Gemeinschaft ächter Cyniker »alle Regierungsformen einerlei sein« (Glauben und Liebe-Fragment Nr. 67) würden: »Der ächte König wird Republik, die ächte Republik König seyn« (Glauben und Liebe-Fragment Nr. 22). Repräsentative Demokratie ist damit aber keineswegs gemeint, diese wird im Glauben und Liebe-Fragment Nr. 67 sogar deutlich kritisiert.

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Man muss Gaál-Baróti dennoch zu Gute halten, dass sie Glauben und Liebe plausibel in den Kontext der literarischen Utopie-Tradition einordnet und die Fragmentsammlung als eine Art »Ermöglichungsutopie« (S. 87) versteht, die auch über die Zeitutopie hinausgeht, gerade weil sie das Mögliche im Wirklichen, nämlich der preußischen Monarchie, entdeckt.

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Nach Ervin Török (»Zeit und Referenz. Über Heinrich von Kleists ›Das Erdbeben in Chili‹«, S. 89–106) können Utopien schließlich »als die paradigmatische Form der literarischen Rede überhaupt aufgefasst werden« (S. 89). Mit Kants Begründung der Autonomieästhetik verschreibt sich das Ästhetische zwar prima vista einer tendenzlosen Nicht-Referenzialität, dabei handelt es sich aber um eine »in die Zukunft aufgeschobene Referenz« (S. 91). Diesen zeitlichen Index ästhetischer Referenzialität versteht Török als einen Import des Utopischen in die Ästhetik. Utopien positionieren sich in der Als-ob-Rolle des prophetischen Orakelspruchs, wobei das Vorausgesagte aber nicht unabhängig vom Akt des Heraufbeschwörens ist, und besitzen deshalb eine »gespenstische Referenzialität« (S. 93).

[21] 

In einem zweiten Analyseschritt geht Török der Frage nach, wie sich diese kulturelle Logik der Utopien in Heinrich von Kleists Das Erdbeben in Chili artikuliert. Dabei macht er auf Kleists häufige Verwendung der Partikelverbindung ›als ob‹ aufmerksam, was allerdings bei Kleists Texten und insbesondere beim Erdbeben inzwischen schon zu den wenig spektakulären Standardbeobachtungen gehört. So verstanden, evoziert die Denkfigur des Utopischen für Török eine »ethisch[e] Interpretierbarkeit der erhabenen Ereignisse« (S. 105). In Kleists Erzählung werde aber das Gelingen dieser Interpretierbarkeit als äußert fragwürdig inszeniert und die Denkfigur des Utopischen damit letztlich »defiguriert«.

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Dystopie und Utopieverlust nach
der Epochenwende

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Zwei Studien thematisieren die Entstehung dystopischen und die Resignation utopischen Denkens in der Literatur nach ereignisgeschichtlichen Epochenumbrüchen, konkret nach dem Untergang der Habsburger-Monarchie und nach der Oktoberrevolution: Wolfgang Müller-Funk (»Dystopien im Kontext des Habsburgischen Mythos: Joseph Roth, Ludwig Winder«, S. 107–124) geht der Frage nach, unter welchen Prämissen sich die Romane Hotel Savoy von Joseph Roth und Die nachgeholten Freuden von Ludwig Winder als Dystopien verstehen lassen.

[24] 

Annegret Middeke (»Polylog der Utopien und Utopieverlust in Anrej Platonovs ›Kotlovan‹ [›Die Baugrube‹]«, S. 125–137) zeigt, wie Andrej Platonov in seinem Roman Die Baugrube durch das Fehlen einer auktorialen Erzählerstimme einen »literarische[n] Polylog verschiedener Utopie-Stimmen« (S. 128) inszeniert, die sich gegenseitig entkräften und demontieren. Sie versteht den Roman mithin als »Parabel auf den Utopieverschleiß bzw. Utopieverlust nach der Oktoberevolution« (S. 136).

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Utopie als Spiel,
Grenzgang und virtuelle Welt

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Vier Beiträge unternehmen an literarischen Beispielen den Versuch, die utopische Denkoperation auf den Begriff zu bringen: Anhand des Glasperlenspiels und Ernst Jüngers Mantrana arbeitet Mihaela Zaharia (»Utopische Spiele – Hermann Hesse und Ernst Jünger«, S. 139–144) die Gemeinsamkeit von Spiel und Utopie heraus. Die Analogie dieser Darstellungsformen ergibt sich über das beiden inhärente Verfahren der Konstruktion einer anderen Welt mit eigenen Regeln. Über diesen Abstraktionsschritt gelangt auch Zaharia zu der problematischen These, dass Literatur schon immer Utopie gewesen sei. Für Géza Horváth (»Utopie der geistigen Elite in Hermann Hesses Roman ›Das Glasperlenspiel‹«, S. 145–153) hingegen manifestiert sich der Utopie-Charakter von Hesses Kulturvision im Glasperlenspiel in deren Potential, die Idee reiner Geistigkeit zu institutionalisieren.

[27] 

Edgar Wibeau, den Protagonisten von Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W., will Márta Harmat (»Eine Prometheus-Utopie im 20. Jahrhundert: ›Die neuen Leiden des jungen W.‹ von Ulrich Plenzdorf«, S. 163–170) im Kontext der ideologischen und kunstpolitischen Veränderungen in der DDR der 1970er Jahre als Prometheus-Utopie, als ›gescheiterten Grenzübergänger‹ (S. 170) lesen.

[28] 

Schließlich konstatiert Andrea Gál (»Utopistische Züge der virtuellen Welten in den Werken von William Gibson, Herbert W. Franke und Jake Smiles«, S. 171–181) eine »utopistische Modalität virtueller Welten« (S. 171). Wie schon bei Mihaela Zaharias Analogiebildung zwischen Spiel und Utopie ergibt sich auch für Gál der Nexus zwischen Utopie und Virtualität über die Konstruktion einer alternativen Struktur.

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Vom Gattungsbegriff
zum utopischen Bewusstsein?

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Im Vorwort als theoretische Beiträge angekündigt, die den historischen Studien als Resümee beigegeben wurden, thematisieren mindestens drei Aufsätze Utopie und das Utopische als abstrakten Allgemeinbegriff: Árpád Bernáths Beitrag (»Entwurf eine ›utopischen‹ Literaturwissenschaft oder Was für Romane hätte Heinrich Böll geschrieben, wäre Hitler nicht an die Macht gekommen?«, S. 155–162) beschäftigt sich zwar mit einem literaturhistorischen Gegenstand, verfolgt aber kein primär gattungsgeschichtliches Erkenntnisinteresse mehr. Heinrich Böll hatte in einem Interview behauptet, einige seiner Romane wären auch ohne die historische Erfahrung von Krieg und Nationalsozialismus entstanden. Bernáth gelangt darüber zu der Frage, ob sich bei Literatur werkimmanent das Notwendige vom Zufälligen der historischen Erfahrung, die in sie eingeht, trennen lasse.

[31] 

Für einige Werke Bölls stellt Bernáth dies tatsächlich in Aussicht und entwickelt darüber die Theorieskizze einer ›utopischen Literaturwissenschaft‹, deren Gegenstand das Werk als »›Verkleidung‹ einer Variante eines Systems abgeschlossener Handlungen«, als ›System möglicher Welten‹ (S. 161) sein soll. Der Utopie-Begriff besitzt dabei jedoch kein eigenes analytisches Profil mehr, sondern fungiert nur als austauschbarer Aufhänger für Bernáths Theorie basaler Handlungsmodelle, auf die sich Literatur reduzieren lasse, wenn man sie vom Dekor kontingenter historischer Einflüsse befreit.

[32] 

Bei Klaus Vondungs Aufsatz (»›Wunschräume und Wunschzeiten‹. Einige wissenschaftsgeschichtliche Erinnerungen«, S. 183–190) handelt es sich eigentlich um einen Beitrag zur Zeitgeschichte. Gegenstand ist die Krise des utopischen Denkens nach der politischen Wende von 1989 und ihre ambivalente publizistische Reflexion.

[33] 

Peter Pleners Beitrag (»Wider das Nichts des Spießerglücks. Zu Begriffen, Theorien und Kennzeichen [nicht nur] literarischer Utopien«, S. 191–214) zerfällt in zwei Teile, um deren Zusammenhang es ihm eigentlich geht, denn er will Entsprechungsmomente zwischen den literarischen Darstellungen utopischer Entwürfe und dem davon unterschiedenen intentionalen Utopie-Begriff thematisieren (S. 195).

[34] 

Eine plausible Relation zwischen utopischem Bewusstsein und historischer Gattung artikuliert Plener aber m. E. nicht. Vielmehr beschränkt er sich auf einen ideengeschichtlichen Abriss des utopischen Denkens im 20. Jahrhundert, dem er im zweiten Kapitel einen Block von 17 Merkmalen literarischer Utopien beigibt, die aber allesamt sekundäre und keineswegs universelle Kennzeichen utopischer Entwürfe beschreiben (etwa ihre räumliche Symmetrie) und zudem nicht erklären, welche genuin poetischen Textstrukturen die literarische Utopie als literarische Gattung auszeichnen.

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Utopie und Utopiekritik

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Am Schluss des Bandes widmet sich ein Beitrag schließlich einer genuin gattungsgeschichtlichen Fragestellung: Wilhelm Voßkamp (»Narrative Inszenierung von Bild und Gegenbild. Zur Poetik literarischer Utopien«, S. 215–226), Nestor der literaturwissenschaftlichen Utopie-Forschung, geht in seinem Aufsatz der Poetik literarischer Utopien und ihrer Abhängigkeit vom historischen Kontext nach.

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Entscheidend für die Institutionalisierung einer Gattung ist für Voßkamp der kommunikative Erfolg, den diese erzielt, indem sie auf bestimmte historische Bedürfniskonstellationen reagiert. Nach Voßkamp rückt so mit dem Wandel des Subjektkonzepts beim Übergang von der ständischen zur funktionsorientierten Gesellschaft neben »die kritisch-konstruktive Negation und Ordnungsstiftung« (S. 220) die Antizipation als dominantes Funktionsprinzip literarischer Utopien. Auf den nun formulierten Glücksanspruch des Einzelnen konnten diese plausibler mit Vervollkommnungs- als mit Vollkommenheitsidealen reagieren.

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Voßkamp macht aber zugleich auf die entscheidende Antinomie aufmerksam, die dieser Funktionswandel produziert. Die dabei neu entstandene Zeitutopie bzw. der Zukunftsroman können auf die veränderte Bedürfniskonstellation eigentlich nur sehr unzureichend antworten, da jede ideale Verbildlichung eines Ideellen, ob nun räumlich oder zeitlich projiziert, doch gezwungen ist, mit statischer Vollkommenheit, also mit der Darstellung von Stillstand zu operieren. Aus dieser Gattungskrise entsteht die für die literarische Utopie bis in die Gegenwart konstitutive Verbindung von utopischem Entwurf und Utopiekritik. Voßkamp nennt dies die »Autopoiesis der Utopie« (S. 226).

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Mit seiner begriffsstrengen Konzentration auf die Gattungsgeschichte fällt Voßkamps Beitrag stark aus dem Rahmen des Tagungsbandes. An seinen Überlegungen wird deutlich, dass die primär wirklichkeitskritische Funktion der literarischen Utopie, die sich in der Neuzeit als Dialektik von Utopie und Utopiekritik artikuliert, mit der nicht-literarischen Bewusstseinshaltung einer utopischen Intention, verstanden als Möglichkeitsdenken, Zukunftshoffnung oder Vision einer machbaren Zukunftsgesellschaft, nicht identifiziert werden kann, ohne gravierende Bedeutungsverluste zu riskieren.

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Fazit

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Man darf von einem Tagungsband sicher nicht die gleiche konzeptionelle Geschlossenheit erwarten wie von einem Herausgeberband. Da der vorliegende Fall allerdings einige äußerst aufschlussreiche Studien enthält (insbesondere die Aufsätze von Andreas Blödorn und Wilhelm Voßkamp), ist es schade, dass deren Erkenntnispotential Gefahr läuft, brach zu liegen, weil die Beiträge nicht in ein umklammerndes und präzise formuliertes Erkenntnisinteresse eingeordnet wurden.

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Grundsätzlich sehe ich bei vorliegendem Band drei Hauptprobleme:

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1. Mit der fehlenden Begriffsklärung im Vorwort und der teils frei assoziierenden Begriffsverwendung in den einzelnen Beiträgen lebt eine alte Begriffsverwirrung wieder auf, gegen die von literaturwissenschaftlicher Seite schon vor mehr als 30 Jahren zu intervenieren versucht worden ist. Wenn man einen allgemeinen Utopie-Begriff unreflektiert auf die literarische Utopie als historische Gattung überträgt, droht den analysierten Texten eine sie verstümmelnde Enthistorisierung. Außerdem übersieht man dabei schnell das Faktum, dass die utopischen Entwürfe meist in relativierende poetische Textstrukturen implementiert sind, man also keineswegs einfach unterstellen kann, dass der Autor die Wirklichkeit im Sinne des utopischen Bildes verändern wollte.

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2. Neben der unreflektierten Übertragung des intentionalen Utopie-Begriffs auf die literarische Utopie weiten einige Beiträge den Utopie-Begriff auch gleich auf Literatur insgesamt aus. Derlei Versuche, das Utopische als ästhetische Kategorie zu verstehen, produzieren kaum analytisch verwertbares Wissen, sondern führen dazu, den Erkenntnismodus utopischen Denkens mit dem von Literatur in für beide Begriffe problematischer Weise gleichzusetzen.

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3. Dem nach 1989 viel beschworenen ›Ende der Utopie‹ wollen die Herausgeber eine ›Renaissance der Utopie‹ entgegensetzen und suchen den konzeptionellen Anschluss an eine 2004 erschienene, gleichnamige populärwissenschaftliche Essaysammlung. 4 Fraglich ist allerdings, wieso sich ein seinen Beiträgen nach an historischen und literarischen Phänomenen interessierter Tagungsband zugleich der Rettung des utopischen Denkens annimmt. Der Kompetenzbereich von Literaturwissenschaft, dem ja die Mehrzahl der Beiträger zugehört, wird dabei sehr schmerzlich überschritten. Abgesehen davon, ist die Form des utopischen Denkens, die schemenhaft im Vorwort skizziert wird, keineswegs unbedenklich, da sie sich sehr deutlich der Philosophie Ernst Blochs verpflichtet: Für Bloch besitzt die Wirklichkeit eine ›utopische Tendenz‹, also die Eigenschaft, im Sinne der ›utopischen Intention‹ modifizierbar zu sein – das ›utopische Totum‹ ist für Bloch realisierbarer Endpunkt der Geschichte. Die Grundprinzipien dieser ›materialistischen Metaphysik‹ 5 scheinen auch die Herausgeber zu teilen, wenn sie behaupten: »Solange es Geschichte(n) gibt, sind auch Utopien mit dabei, das Ende der Geschichte ist selbst offenbar als Utopie in den Gang der Welt rückgebunden« (S. VII). – Im Grunde wird damit für eine Reaktivierung geschichtsmetaphysischen Denkens plädiert.

 
 

Anmerkungen

Zum Begriff der ›utopischen Intention‹ und seiner Abgrenzung von der literarischen Utopie als historischer Gattung vgl. ausführlich Ludwig Stockinger: Ficta Respublica. Gattungsgeschichtliche Untersuchungen zur utopischen Erzählung in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 1981, S. 15–99.   zurück
Schlichtweg falsch ist Szabós Behauptung, der Ich-Erzähler des Romans sei ein »namenlose[r] Venetianer« (S. 19). Der Interpretin entgeht ganz offenbar, dass Ardinghello den Ich-Erzähler auf S. 49 der von ihr benutzten Kritischen Studienausgabe mit Benedikt anspricht – ein Faktum, über das Szabó schon eine aufmerksame Lektüre von Max L. Baeumers Nachwort zur Studienausgabe in Kenntnis gesetzt hätte: Hier wird auf S. 670 unmissverständlich der Venetianer Benedikt als erzählendes Ich genannt (Wilhelm Heinse: Ardinghello und die glückseligen Inseln. Kritische Studienausgabe. Hg. von Max L. Baeumer. Stuttgart: Reclam 1975).   zurück
Vgl. Hermann Kurzke: Romantik und Konservatismus. Das »politische« Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte. München: Fink 1983, S. 185–191.   zurück
Rudolf Maresch / Florian Rötzer (Hg.): Renaissance der Utopie. Zukunftsfiguren des 21. Jahrhunderts. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004.   zurück
Vgl. dazu Stockinger (wie Anm. 1), S. 32–41.   zurück