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Vom pietistischen Pneuma zum
glossolalischen Genie:
Goethes hermeneutischer Umweg 1772-1775

  • Thomas Tillmann: Hermeneutik und Bibelexegese beim jungen Goethe. (Historia Hermeneutica. Series Studia 2) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2006. XII, 286 S. Gebunden. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 3-11-019068-0.
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Das »vermessene Vorhaben einer Goethe-Dissertation«, an das sich Thomas Tillmann nach eigenen Aussagen gewagt hat (S. VII), erscheint umso eindrücklicher, wenn man sich seine zweitwichtigste Quelle bei diesem Unternehmen vor Augen führt: Verglichen mit der Forschungsgeschichte der Bibel erscheint die Goethe-Philologie geradezu überschaubar. Glücklicherweise hat sich Tillmann von keinem von beiden abschrecken lassen; was bei diesem »Vorhaben« herausgekommen ist, liegt nun als zweiter Band der Series Studia in Lutz Dannebergs Reihe Historia Hermeneutica vor.

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Unter dem so nüchternen wie erfrischend altmodischen Titel Hermeneutik und Bibelexegese beim jungen Goethe wendet sich die Untersuchung sieben Goethe-Texten zu, die allesamt zwischen 1772 und 1775 entstanden sind und von der Forschung mehrheitlich als opera minores gehandelt werden. Bei wohltuendem Verzicht auf name-dropping und literaturwissenschaftlichen Jargon kann Tillmann auf knapp 250 durchweg klar gegliederten, luzide formulierten und durchgehend ertragreichen Seiten überzeugend nachweisen, wie gerade die Vernachlässigung der juvenilia dazu geführt hat, dass bislang ein entscheidender Schritt auf Goethes Weg zur Genieästhetik übersehen wurde. Es ging nämlich nicht, wie allgemein angenommen wird, durch produktive Aufnahme und schöpferische Transformation geradewegs vom ›Religiösen‹ zum ›Genialen‹; vielmehr entwerfe Goethe auf der Grundlage bestimmter exegetischer Konventionen zunächst eine ›säkulare‹ Hermeneutik, um erst von dort aus zu jener Form der Produktionsästhetik zu finden, die Tillmann »pneumatisch[ ]« nennt (S. 158).

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Fragestellung

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Wie im Titel angekündigt und wie auch das Literaturverzeichnis deutlich erkennen lässt, bewegt sich Tillmanns Arbeit durchgehend innerhalb der Grenzen der unmittelbaren Goethe-, genauer noch: der ›Jungen-Goethe‹-Forschung. Was auf den ersten Blick ein wenig eng gefasst erscheinen mag, erweist sich auf den zweiten als eine so konsequente wie pragmatische Beschränkung des eigenen Arbeitsfeldes, und damit wohl nicht zuletzt als ein Beitrag zur Bewältigung des »vermessene[n] Vorhaben[s]« insgesamt. Die Untersuchung wird ihrem eigenen, gleich in der Einleitung in wünschenswerter Klarheit formulierten Anspruch durchgängig gerecht; sie will nicht mehr und nicht weniger als schlicht zeigen,

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wie Goethes intensive Auseinandersetzung mit bibelexegetischen Fragen auf die hermeneutischen Vorstellungen ausstrahlt, die viele seiner frühen Texte durchziehen und zu einem wesentlichen Ausgangspunkt seiner Genieästhetik werden (S. 1).
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In diesem Sinne ist auch die vielleicht etwas altertümelnde Rede vom »jungen Goethe«, die die Arbeit im Titel führt und die auch sonst – neben der ebenfalls etwas aus der Mode gekommenen Berufsbezeichnung des »Dichters« – durchgängig gebraucht wird, programmatisch zu verstehen. Tillmanns Untersuchung ist dezidiert »Dichter«-zentriert, auf eine frühe Werkphase eingegrenzt und dabei – gut Goethe’sch – auf die ›Entwicklung‹ angelegt, die sich in dieser kurzen Frist erkennen lässt. Ganz folgerichtig werden daher die Ergebnisse der Studie vorwiegend lebens-, werk- und forschungsgeschichtlich eingeordnet.

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Diese klare Eingrenzung des Arbeitsgebietes sowie die nüchterne Einschätzung seines Ertrags sind so redlich wie sympathisch unaufgeregt und bescheiden – und dennoch an den Stellen bedauerlich, an denen sich Blicke über die vergleichsweise engen Grenzen der Goethe-Philologie hinaus fast aufzudrängen scheinen. So gilt etwa, was Tillmann gleich im ersten Satz der Einleitung nur für die (Junge‑)Goethe-Forschung feststellt, natürlich für die Literaturwissenschaft insgesamt: »[I]n den vergangenen Jahren« ist sicherlich nicht nur »verstärkt das Augenmerk auf die Bedeutung der Religion für die Entfaltung der literarischen Individualität des jungen Goethe gerichtet worden« (S. 1), sondern auf die »Bedeutung der Religion« für Literatur und Kultur überhaupt. Bereits ein flüchtiger Blick in ein Verzeichnis literaturwissenschaftlicher Neuerscheinungen lässt erkennen, dass die Goethe-Forschung hier sicher keinen Anspruch auf Originalität erheben kann; vielmehr haben sich just »in den vergangenen Jahren« ›Literatur und Theologie‹, ›Literatur und Religion‹ oder ›Bibel und Literatur‹ zu geradezu boomenden Forschungszweigen entwickelt, an die Tillmanns Untersuchung nicht nur sinnvoll anschließen könnte, sondern zu denen sie auch einiges beizutragen hätte. 1 Dass sie sich stattdessen von Anfang an auf ›reine‹ Goethe-Philologie festlegt, wirkt sich am Ende für beide Seiten ungünstig aus: Als Beitrag allein zur Goethe-Forschung deklariert, bleibt Tillmanns fundierte Studie von anderen, weniger autorzentrierten Forschungsbereichen möglicherweise unbemerkt; andersherum hätte sich bei weniger Berührungsängsten mit übergreifenden Fragestellungen die Relevanz der Analysen auch jenseits der Goethe-Gemeinde im Sinne eines Fallbeispiels herausstellen lassen.

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Methodenabstinenz

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Allerdings erscheint auch innerhalb seines genau abgesteckten Rahmens Tillmanns gleich zu Beginn der Studie programmatisch verkündete Weigerung, seine Vorgehensweise zu reflektieren, ausgesprochen befremdlich. Die Entscheidung, auf jegliche Methodendiskussion zu verzichten, sei, so das Vorwort, Tillmanns eigenem »Unwillen« geschuldet, den er »bei der Lektüre ermüdend langer methodologischer Einführungstraktate anderer Arbeiten« empfunden habe. Er wolle stattdessen in der Nachfolge Albrecht Schönes nur »ein wenig handwerklich gestimmte Germanistik« betreiben (S. VII).

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Mit diesem etwas altväterlich wirkenden Vorsatz nimmt sich die Arbeit nun ganz explizit die Möglichkeit, an aktuellen autor-, gattungs- und vor allem genau den disziplinübergreifenden Forschungsdiskussionen teilzunehmen, für die sie ihrer Fragestellung nach an sich prädestiniert wäre. Gleichzeitig scheint sich Tillmann mit dieser Abstinenz die Sicht auf manche naheliegenden, und wenn auch nicht streng germanistischen, so doch »handwerklich« eigentlich unverzichtbaren Differenzierungsmöglichkeiten zu verstellen. Dass er sich etwa bei der Definition des für die Untersuchung zentralen Begriffs der Säkularisation auf denselben Albrecht Schöne und dessen zwar wegweisende, inzwischen allerdings ein halbes Jahrhundert alte Studie zu Säkularisation als sprachbildender Kraft verlässt, 2 stellt doch eigentlich einen ersten Verstoß gegen die germanistische Handwerksehre dar; dass diese Begriffsklärung zudem in eine Fußnote verbannt wird (vgl. S. 1, Anm. 3), zeigt erst recht, dass dieses alles andere als unproblematische Konzept jeglicher Diskussion entzogen werden soll. »[E]in wenig« begriffs- oder sozialgeschichtlich, systemtheoretisch oder ›ideenpolitisch‹ »gestimmte« Propädeutik, etwa von Hans Blumenberg, Herbert Lehmann, Niklas Luhmann oder Hermann Lübbe inspiriert, 3 hätte die Studie auf ein sichereres Fundament gestellt und dabei wiederum inner- wie außerhalb der Germanistik deutlich anschlussfähiger gemacht.

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Aufbau

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Ausgehend von der These, dass sich der »junge Goethe« eben nicht nur produktiv ›aneignend‹ und ›umwandelnd‹ mit der Bibelexegese im 18. Jahrhundert beschäftigt hat, dass sich aus seinen Jugendwerken vielmehr eine eigene Hermeneutik destillieren lasse, weist Tillmann deren nachhaltige Prägung vor allem durch den Pietismus nach. Dessen ›pneumatische‹, ›gnadengewirkte‹ und »›erlebnisorientierte[ ]‹ Exegese« und »Affekthermeneutik« (S. 32) stehen zunächst für eine hermeneutische Theorie Pate, die die Möglichkeit eines ähnlich anfallartigen ästhetischen Verstehens auf profanem Gebiet postuliert. So wird die

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pietistische Deutung des Pfingstwunders […] zum Paradigma eines Dichtungsverständnisses des jungen Goethe erhoben, das sich durch die Doppelbewegung einer Säkularisation theologischer und einer Sakralisierung literarischer Muster konstituiert (S. 93).
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Eben diese Goethe’sche »Doppelbewegung« wird nun schrittweise entfaltet, wobei den eigentlichen Textanalysen ein rund 60-seitiger Überblick über »Hermeneutische Grundpositionen der Bibelexegese im 18. Jahrhundert« vorangestellt ist. Der Hauptteil der Studie ist dann in drei Unterkapitel gegliedert, die insgesamt sieben Einzeltextanalysen umfassen. Unter der Überschrift »Die Bibelexegese in der satirischen Kritik des jungen Goethe« werden zunächst der Prolog zu den neuesten Offenbahrungen Gottes Verteutscht durch Dr. Carl Friedrich Bahrdt (1774) und das Jahrmarktsfest zu Plundersweilen (1773/74) behandelt. Anschließend fasst Tillmann die vier Texte Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** (1773), Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen (1773), Von Deutscher Baukunst (1772) sowie die »Wagnerszene im Faust (frühe Fassung)« (entstanden 1773/74) unter dem Zwischentitel »Entwicklung pneumatischer Hermeneutik und Produktionsästhetik« zusammen. Der letzte Abschnitt des analytischen Teils widmet sich dem »Hohelied Salomons in der Bearbeitung Goethes« (entstanden 1775).

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Auf eine knappe Zusammenfassung der Ergebnisse (S. 235–237) folgen schließlich noch zwei Anhänge, die vor allem für die Untersuchung der Hohelied-Bearbeitungen wichtig sind: Tillmanns verdienstvolle Edition der nur fragmentarisch überlieferten Hohelied-Nachdichtung der ›schönen Seele‹ Susanna Katharina von Klettenberg sowie ein Wiederabdruck von Goethes eigener, in keine seiner zu Lebzeiten erschienenen Werkausgaben aufgenommener Übertragung desselben Bibeltextes, der hier zur Erleichterung eines Vergleichs erstmals nicht durchlaufend, sondern in ›biblischer‹ Form mit Kapitel- und Versstruktur gesetzt ist und dem aus demselben Grund die Lutherische Übersetzung von 1545 synoptisch gegenübergestellt wird.

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Einleitender Überblick:
Bibelexegese im 18. Jahrhundert

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Der dem analytischen Teil vorgeschaltete Überblick über die Exegesekonventionen des 18. Jahrhunderts reicht von der lutherischen Orthodoxie über die pietistischen Positionen Philipp Jakob Speners und August Hermann Franckes bis zur Bibelkritik der Aufklärungstheologie, für die Spinoza, gemäßigte Neologen wie Johann Salomo Semler sowie radikalere Bibelkritiker wie der in der deutschen Literaturgeschichte durch Lessing zu einiger Berühmtheit gelangte Hermann Samuel Reimarus stehen. Zwei offenbar nur schwer zu kategorisierende Theologen schließen den Parforceritt ab: Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder, auf deren Bibelexegese vor allem im Zusammenhang mit Goethes Hohelied-Adaption, aber auch im Zuge der Analyse des satirischen Prologs zu Bahrdts Bibelübersetzung wieder zurückgegriffen wird.

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Diese rund ein Viertel der gesamten Studie umfassende Einleitung ist insgesamt dicht, präzise und auf die Fragestellung zugespitzt, so dass man sich bei den Querverbindungen, die die Studie anschließend herausarbeitet, im Großen und Ganzen durchaus vorbereitet fühlt. Dennoch hinterlassen manche Verkürzungen, die angesichts der gebotenen Knappheit natürlich nur schwer zu vermeiden sind, zuweilen ein ungutes Gefühl, so dass sich die Frage stellt, ob eine solche Entkoppelung von nötigem Vorwissen und eigentlicher Textanalyse methodisch sinnvoll ist. Auf rund zehn Seiten ist die »Lutherisch-orthodoxe Bibelexegese« schlicht nicht darzustellen, sofern man wenigstens rudimentäre Differenzierungen vornehmen will; so aber bleibt notgedrungen diffus, was Luther selbst von der lutherischen »Orthodoxie« und was diese wiederum von anderen, unorthodoxen Spielarten des Luthertums im 18. Jahrhundert unterscheiden soll, die sich nicht unter die Schlagworte ›Pietismus‹ oder ›Aufklärungstheologie‹ rubrizieren lassen, deren »zahlreiche Verwebungen« Tillmann selbst aber sinnvollerweise gleich vorausgeschickt hatte (S. 6). Und ob man wirklich auf einer einzigen Seite dem diffizilen Fall des weniger »konfessions-« als vielmehr religions-»übergreifend[en] […] Ketzer[s]« Baruch Spinoza (S. 35, Anm. 136) auch nur im Rahmen des eigenen Schwerpunkts gerecht werden kann, ist ebenso fraglich wie der Versuch, die »Lehre des mehrfachen Schriftsinns« im Rahmen einer ausgedehnten Anmerkung darzulegen, die für den insgesamt nur knapp dreiseitigen Abschnitt zu Luthers »Rückkehr zum ›einfachen Sinn‹ und Ablehnung der Allegorese« (S. 16–19) doch eigentlich Grundlage und Voraussetzung wäre. Ob Hamann nicht ausnahmsweise etwas mehr Aufmerksamkeit verdient haben könnte als den üblichen Bruchteil der Seiten, die Herder zukommen, bleibe schließlich ebenso dahingestellt wie die Frage, ob einer solchen denkbar knappen Einführung, die sich ja gerade als Überblick kaum an theologische Experten richtet, mit zahlreichen lateinischen Blockzitaten ohne Übersetzung wirklich gedient ist. Für die dann folgenden Textanalysen ist philologische Exaktheit im Blick auf die Originalsprache nirgendwo vonnöten, so dass der Lesefluss durch diese Einschübe – optimistisch ausgedrückt – zumindest unnötig verlangsamt werden könnte.

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›Sakrileg‹ und ›Satire‹

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Anders als andere Kritiker der kurz zuvor erschienenen Übersetzung des Neuen Testaments von Carl Friedrich Bahrdt nimmt Goethes »dramatische Farce« (S. 65) Prolog zu den neuesten Offenbahrungen Gottes den Gießener Theologen weniger theologisch als sprachlich aufs Korn. Was Bahrdt stilistisch glätten und modernisieren will, empfinde Goethe, so Tillmann, im Sinne der Kondeszendenztheorie, also der nicht zuletzt sprachlichen Herablassung Gottes, als Entwürdigung der spezifischen »Überlieferungsform der Bibel« (S. 76). Entscheidend sei dabei aber vor allem, so die scharfsinnige Beobachtung, dass unklar bleibe, ob Goethe die Bibel hier als ›heilige Schrift‹ oder als gute, d.h. originäre ›Dichtung‹ in Schutz nehme. Für Goethes erst hermeneutische, dann produktionsästhetische ›Säkularisierungen‹ sei eben diese Unbestimmtheit symptomatisch: Zwar mag der Vorwurf des Sakrilegs noch deutlich mitschwingen, die ästhetische Grundlage, auf der Goethes Satire fußt, ist ganz offenkundig nicht mehr auf Sakrales eingeschränkt.

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Ähnlich oszillierend erscheint nach Tillmann die implizite hermeneutische Theorie des Jahrmarktfests zu Plundersweilen. Zwar trifft hier die Persiflage Pietisten wie Aufklärer gleichermaßen, deutlich schärfer falle jedoch der Angriff auf die radikalen Bibelkritiker aufklärerischer Prägung aus. Nimmt man Goethes eigene Respektlosigkeiten im Umgang mit der Bibel hinzu – etwa die Darstellung der Evangelisten im Prolog – entstehe jedoch, so Tillmann weiter, eine gewisse »Inkohärenz«; diese sei mit dem »sich konstituierende[n] Selbstverständnis des Dichters als Genie« zu erklären, »das sich in seiner Auserwähltheit größere Freiheiten zugesteht, als es anderen zuzubilligen bereit ist« (S. 92).

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Ob dieses eher allgemein-menschliche Laster – das Messen mit zweierlei Maß – eine solche Schlussfolgerung für die Herausbildung des Dichters als Genie tatsächlich zulässt, bleibe dahingestellt; Tillmanns eigene zu Beginn des Kapitels formulierte Prämissen weisen an sich in eine andere methodische Richtung: Goethe selbst wolle er aus der folgenden Analyse eher heraushalten, da die »spielerische[ ] Experimentalität« der »beiden dramatischen Texte nicht geeignet [sei], direkt auf eigene Positionen des heranwachsenden Dichters zu schließen« (S. 65). Hier scheint sich Tillmanns Methodenabstinenz nun deutlich zu rächen: Was die spezifische »spielerische Experimentalität« gerade dieser beiden Texte sein soll und in welchen Fällen er demgegenüber tatsächlich »direkt auf eigene Positionen« Goethes meint schließen zu dürfen, bleibt unklar. Und was dieser Einwurf wiederum für die offenbar weniger ›experimentellen‹ Texte implizit bedeutet, die in den nachfolgenden Kapiteln zur Sprache kommen, ist methodisch vor allem dann nicht minder problematisch, wenn die besondere Experimentalität, die die einen von den anderen unterscheiden soll, eben nirgends fassbar wird.

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Hermeneutik und ›Glossolalie‹

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Dass es zum Glück aber auch Tillmann selbst kaum nur um das direkte Schließen auf Goethes »eigene Positionen« gehen kann, zeigt bereits das folgende Kapitel, in dem schon deutlich mehr in den Texten offengelegt wird, als der »Dichter« selbst bewusst hineingeschrieben haben dürfte. Um Goethes Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** als Dokument des Übergangs auszuweisen, hebt Tillmann die ironischen Brüche, parodistischen Überzeichnungen sowie die Tradition des Pfarrerspiegels hervor, in die sich Goethes offensiv seine eigene Fiktionalität anzeigender Brief stellt, die die meisten Deutungen dieses Dokuments jedoch übersehen haben. Gerade in dieser Ambivalenz erkennt Tillmann im Brief das »Zeugnis der sich dialektisch vollziehenden Verabschiedung Goethes von pietistischen Vorstellungen und ihrer sprachlichen Ästhetik« (S. 118).

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Wohl nicht zufällig gibt Goethe auch seiner zweiten theologischen Jugendschrift die Form eines fingierten Briefs, in dem er in der Maske eines pietistischen Landgeistlichen Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen zur Debatte stellt: die Frage nach dem auf den ersten, von Moses im Zorn zerstörten Bundestafeln geschriebenen Gesetz und die Frage nach dem Status der ›Zungenrede‹, d.h. des ›pneumatischen‹ Sprechens und der Glossolalie, die die alttestamentliche Prophetenrede im Neuen Testament ersetzt zu haben scheinen. Vor allem mit der zweiten Frage wird Goethes Übergang von Hermeneutik zu Produktionsästhetik für Tillmann manifest: Während das prophetische Sprechen als Sprechen der allgemeinen Verkündigung dient, »konstitutiert sich im funktionsenthobenen Lallen gleichermaßen religiöse wie ästhetische Individualität« (S. 156). Als ›heißer‹ Kern, als »Inneres« und »Eigentliches« des religiösen wie des künstlerischen Ausdrucks, der auf Kommunikabilität zugunsten von Individualität verzichtet, erscheint das reine Zungenreden als das ureigenste Produktionsgesetz auch des Genies, das sich glossolalisch vorwiegend nur selbst ›erbaut‹ (vgl. S. 156).

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Die implizite Antwort auf die naheliegende Frage, warum Goethe dann nicht zum Dichter des Grossen Lalula (Christian Morgenstern) geworden ist, bleibt ein wenig unbefriedigend. Es sei ihm eben, so Tillmanns Analyse der »Programmschrift« der »Genielehre des jungen Goethe« (S. 93) Von Deutscher Baukunst, nur um die »Pose des Lallens«, nicht aber um dessen »Semantik« gegangen. Goethe habe nur »mit einer getriebenen, sich überschlagenden Ästhetik« kokettiert, »die sich auch da noch dem Regelsystem der Sprache unterwirft, wo sie sich im Gestus der verzückten Normvergessenheit gefällt« (S. 174). Goethes späte Selbsterklärung dieses frühen Texts, die er 1823 unter denselben Titel Von Deutscher Baukunst stellt, erwähnt Tillmann seltsamerweise nicht, obwohl Goethe darin ebenfalls einen gleichsam glossolalischen Stil für sich in Anspruch nimmt: Wenn jener frühere »Aufsatz etwas Amphigurisches in seinem Stil bemerken läßt, so möchte es wohl zu verzeihen sein, da wo etwas Unaussprechliches auszusprechen ist.« 4

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Im Zuge dieses spannendsten Kapitels der Untersuchung, in dem gleichsam die Gelenkstelle zwischen pietistischem Pneuma und glossolalischem Genie freigelegt wird, hätte man über einige Randbemerkungen gerne etwas mehr erfahren. Dass sich etwa Goethes Thesen zum Inhalt der ersten Gebote mit der »späteren Pentateuchforschung« decken sollen (S. 136), wird hinsichtlich des Zeitpunkts wie der Stoßrichtung dieser »späteren« Forschung nicht näher ausgeführt, obwohl diese theologischen Querverbindungen auch im engeren Rahmen der Fragestellung durchaus von Interesse gewesen wären. Skurriler ist die Anekdote, dass die Kunde von Goethes Thesen bis zu John Adams, dem zweiten Präsidenten der Vereinigten Staaten, gedrungen sein soll, woraufhin sich dieser bei seinem Nachfolger Thomas Jefferson nach jenem »book by Johann Wolfgang Goethe« erkundigt habe (S. 135 f.). Wie dies zustande kam und was daraus geworden ist, erfährt man leider nicht und wird nur auf den Textkommentar zu den Zwo Briefen in der Gedenkausgabe verwiesen (vgl. S. 136, Anm. 196). So fällt auch potenziell Unterhaltsames Tillmanns teils allzu sehr auf den Dichter und seine Erforschung verengtem Blick gelegentlich etwas frühzeitig zum Opfer.

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Goethes Hohes Volkslied

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Das letzte Kapitel der Arbeit folgt schließlich einem etwas anderen Aufbau als die vorangegangenen Analysen, indem der Beschäftigung mit dem eigentlichen Goethe-Text zwei vorbereitenden Abschnitte zu allgemeineren Aspekten der Rezeptions- und Forschungsgeschichte des Hohenlieds vorausgehen. Möglicherweise ist dieser Einschub einer der interessantesten, obzwar etwas versteckt formulierten Thesen der Studie geschuldet, die ausnahmsweise explizit über die unmittelbare Goethe-Forschung hinausweist: »Die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts könnte«, so Tillmann in der auch hier wieder vorbildlich klaren Einleitung des Kapitels, »en miniature als Literaturgeschichte der Hoheliedübersetzungen geschrieben werden« (S. 185). Dieser faszinierenden Idee geht er dann zumindest in der Form nach, dass er zunächst die »Grundprobleme der Auslegungstradition« des Hohenliedes zusammenfasst (S. 187–193), die sich vor allem an der Möglichkeit eines literalen Verständnisses gegenüber einem allegorischen entzünden, aber auch mit dem Streit um die Kanonizität des Buches sowie mit der Frage nach seiner form- und gattungsgeschichtlichen Einordnung zusammenhängen. Im Sinne seiner These stellt Tillmann anschließend einige »zeitgenössische Übersetzungen und Deutungen« exemplarisch vor (S. 193–216), darunter auch diejenige der mit Goethe natürlich besonders verbundenen Susanna Katharina von Klettenberg, deren Hohelied-Bearbeitung im Anhang erstmals abgedruckt ist. Vor dem Hintergrund der interpretatorischen Spannweite, die von der streng allegorisch-›bereinigenden‹ Lesart der Orthodoxie über die Betonung der Sinnlichkeit bei den Pietistinnen und Pietisten bis zu Herders und noch mehr Hamanns philologischem und theologischem »Literalismus« (S. 228) reicht, lässt sich Goethes Tendenz zur ›Verallgemeinerung‹ und ›Enthistorisierung‹ des Bibeltextes zum überzeitlichen ›Volkslied‹ umso klarer profilieren (vgl. S. 229 f.).

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Die Entwicklung des »jungen Goethe«, wie sie bis hierhin beschrieben wurde, gleichsam nachvollziehend, betrachtet Tillmann in seinem letzten interpretierenden Teil die »Goethefassung des Hohenliedes […] als autonomes poetisches Gebilde […], dessen Charakteristika sich nicht in Anlehnung und Abgrenzung gegenüber anderen Fassungen erschöpfen« (S. 218). Für die Analyse werden damit nicht nur die »anderen Fassungen« – allen voran diejenige Herders – als übliche Referenztexte verabschiedet, sondern auch die biblische Vorlage selbst, die Goethe wegen mangelnder Hebräischkenntnisse wahrscheinlich ja doch vor allem in der Lutherübersetzung benutzen musste (vgl. S. 217). So steht am Ende der Untersuchung ein ›autonomer‹ literarischer Text, der die Begegnung zweier Liebenden, also das literarische Thema schlechthin, ins gänzlich Allgemeine entrückt. So wie nach Tillmanns Analyse beim »jungen Goethe« überhaupt »aus der Umschmelzung bibelhermeneutischer Muster« schließlich »eine hermeneutische ›Grundmeinung‹« hervorgegangen ist, »deren Geltungsbereich über die Bibelexegese hinaus geht« (S. 231), so ist in Goethes Hohelied-Bearbeitung aus einem konkreten, räumlich und zeitlich verankerten Bibeltext ein allgemeines Volkslied geworden, das sich für sämtliche Grundgeschichten der Liebe als adaptionsfähig erweist.

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Der ›andere‹ Ausgang, der fehlt: Werther

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In Anbetracht der Entstehungsjahre sämtlicher hier behandelter Texte springt das Fehlen eines Titels im Korpus sofort ins Auge. Denn in den von Tillmann behandelten drei Jahren 1772–1775 wird schließlich auch derjenige Text publiziert, den man wohl zuallererst mit dem »jungen Goethe« und den frühen 1770er Jahren verbindet und der außerdem zur Fragestellung der Studie durchaus gepasst hätte. Auch Werther (1774) kreist schließlich gleichsam um die Gretchenfrage nach der Religion, um fromme wie um profane Hermeneutik, um Individualität, Produktivität und um genialische Ausdrucksmöglichkeiten des Subjekts. In seiner Form als Briefroman macht Werther zudem von jenem Masken- und Zitatenspiel ausgiebig Gebrauch, das Tillmann als eine Form der »experimentierenden Aneignung« exegetischer und hermeneutischer Positionen beim »jungen Goethe« erkennt (S. 65). Schließlich weist auch die fruchtbare Aufnahme des einzigen wahrhaft kanonischen Texts in das Untersuchungskorpus auf dieselbe Lücke hin: In die Reihe der Gegenüberstellungen, die, so Tillmann, »in den vorgeblichen Brieftraktaten pietistischer Geistlicher grundgelegt sind« (S. 175) und dann in »der Kontrastierung von Faust und Wagner, Genie und Gelehrtem, […] pneumatisch Inspiriertem und ›theologische[m] Kameralisten‹« wiederkehren (S. 183 f.), ließen sich Werther und sein gleichfalls ›kameralistischer‹ Briefpartner Wilhelm mühelos einfügen.

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Gerade weil Tillmanns sieben Textanalysen insgesamt so akribisch wie ertragreich waren, wüsste man nun gerne, was er wohl aus Werther gemacht hätte. Über die Frage, warum er gerade diesen prominentesten Goethe-Text der fraglichen Jahre weggelassen hat, lässt sich leider nur spekulieren; genaue Gründe für seine Textauswahl nennt er insgesamt nicht. So wirkt die auffällige Leere sozusagen im Zentrum des Textkorpus’ ein wenig gespenstisch – und gerade dadurch auf eine Weise mit Tillmanns Thesen zur Herausbildung des Genies wieder ganz und gar kongruent. Denn aus dem »zentralen hermeneutischen Dilemma[ ] […], das sich aus dem allein subjektiven Wesen religiöser Erkenntnis und der auf intersubjektive Verständlichkeit bedachten Sprache ergibt«, wählt der quasi-religiös verliebte Werther bekanntlich den ›anderen‹ Ausgang: »Das Lallen der Glossolalie« ist »die eine Lösung eines Dilemmas, dessen andere Lösung nur Schweigen sein könnte« (S. 155 f.). Während der »junge Goethe« selbst also zur ›göttlichen‹ Genieästhetik vorstößt, hat den Selbstmord eines ebenfalls aus dem Geist des Pietismus geborenen Ästheten am Ende »[k]ein Geistlicher […] begleitet«. 5

 
 

Anmerkungen

Vgl. z.B. Georg Langenhorst: Theologie und Literatur. Ein Handbuch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005; Steffen Martus / Andrea Polaschegg (Hg.): Das Buch der Bücher – gelesen. Lesarten der Bibel in den Wissenschaften und Künsten. Bern [u.a.]: Lang 2006; Ulrich Wergin / Karol Sauerland (Hg.): Literatur und Theologie. Schreibprozesse zwischen biblischer Überlieferung und geschichtlicher Erfahrung. Würzburg: Königshausen und Neumann 2005.    zurück
Vgl. Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrerssöhne. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1958.   zurück
Vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S.11–134 [»Säkularisierung – Kritik einer Kategorie des geschichtlichen Unrechts«]; Hartmut Lehmann: Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion. Göttingen: Wallenstein 2004, vor allem S.144–156 [»Jenseits der Säkularisierungsthese«]; Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 278–319 [»Säkularisierung«]; Hermann Lübbe: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs. Freiburg i. Br. / München: Alber 32003.   zurück
Johann Wolfgang Goethe: Von Deutscher Baukunst (1823). In: J.W.G.: Werke (Hamburger Ausgabe), Hg. v. Erich Trunz u.a. München, Bd. 12: Schriften zur Kunst und Literatur. Maximen und Reflexionen, dtv 1998, S. 182.   zurück
Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther. In: J.W.G.: Werke (Hamburger Ausgabe). Hg. von Erich Trunz u.a. München 1998. Bd. 6: Romane und Novellen I. dtv, S. 124.   zurück