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Science of the particular:
Literarische Kulturmodelle

  • Jutta Heinz: Narrative Kulturkonzepte. Wielands »Aristipp« und Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre«. (Ereignis Weimar - Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen 13) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2006. XIV, 551 S. Gebunden. EUR (D) 63,00.
    ISBN: 3-8253-5135-1.
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Literatur als Kulturtheorie

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Der Titel der Untersuchung – Narrative Kulturkonzepte – verspricht eine Öffnung der germanistischen Philologie zu kulturwissenschaftlichen Ansätzen, lässt also vermuten, dass am Beispiel der beiden epischen Großtexte – Wielands Aristipp und Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre – kulturwissenschaftliche Theoreme methodisch umgesetzt werden, zum Beispiel durch diskursanalytische Kontextualisierungen. Tatsächlich aber hat Jutta Heinz anderes im Sinn: Ihr geht es darum, fachwissenschaftlich ausdifferenzierte kulturtheoretische Modelle (aus der Philosophie, Anthropologie, Soziologie etc.) in literarischen Texten zu konkretisieren bzw. mit den immanenten Kulturkonzepten der Romane zu vergleichen, und zwar mithilfe eines hermeneutischen Verfahrens. Die Studie versucht, »aus literarischen Einzeltexten Kulturmodelle als Theorien mit reduziertem Verallgemeinerungsanspruch zu gewinnen; diese sollten dann allgemeineren kulturtheoretischen Fragestellungen zugänglich sein, indem sie eine anschlußfähige Terminologie und eine kulturwissenschaftliche Topologie aufweisen« (S. 14). Die Leitparadigmen, auf die die literarischen Analysen wiederholt zulaufen und die entgegen gesetzte Varianten kultureller Entwicklung beschreiben, sind einerseits die »Tragödie der Kultur«, also der kristallisierte Dualismus von Objekt und Subjekt, wie ihn Georg Simmel in seinem berühmten Essay beklagt, andererseits das dynamische Konzept Ernst Cassirers, das die Adaptionsleistungen des Ich betont und deshalb die »Lebendigkeit« der Kultur gewahrt sieht – dieser Begriff scheint ein geheimes Zentrum der vorliegenden Untersuchung.

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Poetik als Kultur

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Die Studie von Heinz versucht also Theorie und Geschichte zu vermitteln, indem die theoretischen Entwürfe von Ernst Cassirer, Georg Simmel, Heinrich Rickert und anderen, die im ersten Teil der Arbeit historisiert werden, im Verlauf der Textanalyse ihre historische Signatur weitgehend verlieren, um so mit dem Literarischen ins Gespräch zu kommen. Wielands Bildungskonzeption und sein ethisches Programm der Mäßigung beispielsweise werden wie folgt mit den kulturphilosophischen Ideen der vorletzten Jahrhundertwende verglichen: »Wieland steht insofern Cassirer näher als Simmel: Die Welt ist nicht zerrissen zwischen Subjekt und Objekt, Seele und Geist, sondern das Subjekt ist von vornherein ausgerichtet auf den anderen Menschen, das Gegenüber, den Gesprächspartner.« (S. 306) Die Untersuchung wählt mithin einen ganz anderen Weg als der New Historicism, die Kulturpoetik, die Diskursanalyse etc., denn es geht nicht um Kontextualisierungen, sondern um (eher ahistorisch behandelte) Kulturmodelle, wie sie die Wissenschaften, aber auch literarische Texte entwerfen – Heinz suspendiert mithin, aktuellen Tendenzen entsprechend, die Grenze zwischen Wissen und Ästhetik. Die Stoßrichtung der Studie zeigt sich auch dann, wenn die Autorin im Schlusskapitel zentrale Theoreme der kulturwissenschaftlichen Forschung geradezu umkehrt. Das Konzept der Kulturpoetik, wie es Michel Foucault und Stephen Greenblatt entwickelt haben und das sich für kulturwissenschaftliche Studien als überaus ergiebig erwiesen hat, wird zu einer »Poetik als Kultur« umgeschrieben, der linguistic turn zu »Text als Kultur«.

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Kultur und ihre fachwissenschaftlichen Disziplinen

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Die recht umfängliche Arbeit gliedert sich in zwei klar voneinander abgetrennte Teile. Der erste Abschnitt rekapituliert die Begriffsgeschichte von ›Kultur‹ – unter Berücksichtigung des oppositorischen Terminus ›Zivilisation‹ – sowie die historische Entwicklung der Kulturgeschichte, -philosophie, -soziologie und ‑anthropologie, um so der fachwissenschaftlichen Differenzierung des Kulturbegriffs Rechnung zu tragen. Diese erste Hälfte der Studie bemüht sich erklärtermaßen um eine systematisierende Zusammenstellung bekannter Theoreme, exponiert jedoch bestimmte Modelle, die für die sich anschließenden Textanalysen einschlägig sind, wie die Debatte um die »Tragödie der Kultur«. An die Stelle eines monolithischen (und damit undefinierbaren) Kulturbegriffs treten diverse historische Positionen und fachwissenschaftliche Diskurse, so dass die Komplexitätsreduktion, die Niklas Luhmann dem Kulturbegriff vorgeworfen hatte, 1 in gewisser Weise zurückgenommen wird und verschiedene Modelle (mit mittlerem Abstraktionsgrad) entwickelt werden, die den polyphonen Romanen genuin sein wollen. Die »Kombination verschiedener Perspektiven und Fragestellungen zur Kultur [bietet] eine Art komplexe und flexible Matrix, die auf sehr unterschiedliche literarische Texte projiziert werden kann« (S. 19). Allerdings laufen die Lektüren zu Aristipp und den Wanderjahren, die im zweiten Teil der Studie vorgestellt werden, dann doch an manchen Stellen auf Einheitskategorien und die phantasmatische Vision der Ganzheit zu – für den Altersroman von Goethe orientiert sich Heinz an dem »Einen Sinn«, von dem Goethe sprach, an der »innere[n] Einheit des Erlebten« (S. 318).

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Kultur als antielitärer Habitus

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Heinz strebt mit ihrer Kulturstudie eine Öffnung der exklusiven Literaturwissenschaft an, wie sie die hermetische Dekonstruktion verhindere – von diesem Ansatz grenzt sie sich dezidiert ab, um sich auf dem literaturwissenschaftlichen Feld zu positionieren. Zu bedenken sei, »daß die Floskeln vom ›Tod des Autors‹ oder dem ›Machtanspruch der Diskurse‹ oder der ›Selbstreproduktion der Systeme‹ auch einmal auf die wissenschaftlichen Diskurse selbst angewandt werden müßten – wo sich gemeinhin sehr lebendige Individuen damit beschäftigen, den eigenen wissenschaftlichen Diskurs auktorial durch maximale Unverständlichkeit abzuschotten, um sich dadurch die Macht in ihrem eigenen Wissenschafts-Subsystem zu sichern« (S. 21). Die Beschäftigung mit Kultur ermögliche hingegen das Verlassen des (literaturwissenschaftlichen) Elfenbeinturms, denn Kultur sei öffentlich und beziehe sich auf eine Gemeinschaft (vgl. S. 168). Kultur wird mithin die gleiche vereinheitlichende Kraft zugesprochen wie ehemals Bildung, doch lässt sich heute die in Milieus ausdifferenzierte Gesellschaft sicherlich nicht mehr als Gesamtheit begreifen, und auch die kulturwissenschaftliche »Wende« scheint doch eher eine wissenschaftsinterne (und -politische) Diskussion als den Ausbruch der Akademie aus ihrem Spezialdiskurs zu bedeuten.

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Kultur und Zivilisation

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Heinz beginnt ihren ersten Teil mit den Begriffsbildungen seit der Antike und ergänzt die Geschichte der cultura (agri und animi) durch den Zivilisationsbegriff als Antithese, die sich um 1900 zuspitzen wird (u.a. in der Opposition von Gemeinschaft und Gesellschaft). Es folgt eine umfassende Darstellung der Disziplinengeschichte, zunächst mit dem Fokus auf die Kulturgeschichte – referiert werden die Ansätze von Johann Gottfried Herder und Johann Christian Adelungs aufklärerischer Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts, der von der grundsätzlichen Perfektibilität der Menschheit ausgeht. Heinz beschreibt die rückläufige Entwicklung der Kulturgeschichte im 19. Jahrhundert, profiliert die Sonderstellung Jacob Burckhardts, die Entstehung der Annales und verfolgt den in den 1980er Jahren einsetzenden narrative turn in der historischen Forschung (Hayden White). Ausführlich referiert werden dann die kulturphilosophischen Strömungen um 1900, wobei Cassirers Theorie der symbolischen Formen und Rickerts Natur-Kultur-Differenz erst im nächsten Kapitel als Beispiele für synthetisierende Kulturmodelle folgen. Die Darstellung bleibt auch hier recht immanent, bündelt also vornehmlich die Argumentationen der Einzeltexte, so dass der Zusammenhang von Kulturphilosophie und Modernitätserfahrung, wie ihn unter anderen Klaus Lichtblau untersucht hat 2 und wie er in Simmels Analysen der Flüchtigkeit, des Ephemeren aufscheint, nicht in den Blick gerät. Historische Kontexte werden – und diese Tendenz gilt auch für die Lektüren – eher ausgeblendet, denn allein auf diese Weise lassen sich die diversen Kulturmodelle aus unterschiedlichen Epochen vergleichen.

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Kultur als Gewebe und Detail

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Die Kultursoziologie um 1900, die sich an dem Dualismus Kultur / Zivilisation abarbeitet, zeichnet sich dadurch aus, dass die Opposition von Subjekt und Objekt, von Individuum und Gesellschaft einerseits radikalisiert, andererseits aber aufgelöst wird. Norbert Elias beispielsweise entwickelt den Begriff der Figuration, der das Ineinander von psychologischen und öffentlich-institutionellen Vorgängen, von individueller Affektkontrolle und Staatenbildung beschreibt und das interaktive Geflecht von Menschen untereinander sowie mit Institutionen freilegt. Diese Interdependenzen folgen ästhetischen Prinzipien – Elias beschreibt den unaufhebbaren Zusammenhang von Strukturen und ihren Akteuren über die Metapher des Tanzes. Aus diesem Ansatz lässt sich ein attraktives Kulturmodell gewinnen, das durchaus auf die untersuchten Romane applizierbar ist, denn in Goethes Roman zum Beispiel geht es an prominenter Stelle um Mitteilungen, um die Balance von Meinungen, wie Heinz unterstreicht, ebenso um Gemeinschaften und Kollektive. Die Kulturphilosophie und -soziologie um 1900 forcieren also die Dynamisierung des Kulturellen, unter anderem durch ihre Gewebemetaphern, die das Ineinander von Strukturen und Akteuren umschreiben, zudem durch eine Partikularisierung des Wissens, durch eine science of the particular, 3 wie sie die Kulturwissenschaften gegenwärtig diskutieren und wie sie auch literarische Texte produzieren, so Heinz.

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An das Konzept von Norbert Elias, der den Wandel der Figurationen als systemische Differenzierung beschreibt, schließt sich die Darstellung von Luhmanns Kulturbegriff als Gedächtnis an, wobei seine massive Kritik an dem generalisierenden Konzept eher ausgespart bleibt. Besonderen Wert legt Heinz im Anschluss an den Systemtheoretiker auf die Reflexivität des Kulturellen: Kultur übernimmt nach Luhmann im 18. Jahrhundert die Funktion der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung und partizipiert an der grundlegenden Bewegung der Moderne, dass sich nämlich jedes System als reflektiertes beschreibt, Kultur mithin reflektierte Kultur ist und die Erfahrung von Kontingenz und Relativität mit sich bringt. Heinz hebt in ihren wiederholten Analogisierungen von Kunst und Kultur diese Reflexivität besonders hervor (vgl. S. 9, 120).

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Kultur als Synthese

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Die Übersicht über die Disziplinen und ihre Kulturbegriffe – abgeschlossen wird mit Ausführungen zur Geschichte der Ethnologie, zur Writing Culture und dem Konzept dichter Beschreibung von Clifford Geertz – ist hilfreich, lässt sich als Einführung in die unterschiedlichen Strömungen gut lesen und erklärt unter anderem, warum es nicht sinnvoll ist, einen holistischen Begriff von Kultur zu definieren. Gleichwohl könne dieser Begriff herangezogen werden, um Ausdifferenzierungen zu synthetisieren. »Kultur«, so das Fazit von Heinz, werde immer dann zu einer zentralen Kategorie, »wenn man nach einem Begriff sucht, der nach einer Phase der Ausdifferenzierung und Spezialisierung sowie als Reaktion auf ein außerordentliches Anwachsen des gesicherten Wissens wieder Zusammenführungen, Synthesen und Orientierungsleistungen verspricht« (S. 120 f.). Kann Kultur also fachspezifisch ausdifferenziert werden, so kommt ihr im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontext gleichwohl synthetisierende Funktion zu. Diese Janusköpfigkeit von Analyse und Synthese wird in den Lektüren zu Wieland und Goethe wiederkehren.

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Das letzte Kapitel des grundsätzlichen Teils beschäftigt sich mit der möglichen Physiognomie der Disziplin Kulturwissenschaft (im Singular oder Plural) und rekapituliert die einschlägigen Debatten – von der Kontroverse im Schiller-Jahrbuch 1998 über Hartmut Böhmes weites Konzept (als Baustelle und Verschaltung diverser fachwissenschaftlicher Befunde) bis zu Jörg Schönerts Plädoyer für eine Medienkulturwissenschaft. Auch an dieser Stelle gibt die Untersuchung einen schlüssigen Überblick über Alternativen und Kontroversen.

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Kultur als Inhalt und Form literarischer Texte

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Hält Heinz fest, dass es bislang kaum »praktische« Ergebnisse im Bereich der Kulturwissenschaften (als Literaturwissenschaft) gebe (S. 150), so erwartet man zu Beginn des zweiten Teils methodische Überlegungen bzw. eine Skizze dessen, wie die diversen Kulturtheorien, die die Darstellung entwickelt hat, für den interpretatorischen Teil genutzt werden können. Gleichwohl setzt die Analyse von Wielands Aristipp recht unvermittelt ein, und zwar mit einem Forschungsüberblick, der die Kontroverse um den Antikenbezug des Romans in seinem Verhältnis zum Realitätsgehalt rekapituliert. Wird diese Forschung als kulturwissenschaftliche qualifiziert (also scheint es doch zu geben, was zuvor eingefordert wurde) und in die vier Kategorien untergliedert (kulturgeschichtliche, -anthropologische, -soziologische, -philosophische Ansätze), so zeigt sich auch hier, dass Heinz unter kulturwissenschaftlichen Positionen solche versteht, die sich (auf hermeneutische Weise) mit dem Inhalt ›Kultur‹ beschäftigen, also Aussagen über Kultur in literarischen Texten rekonstruieren – durchaus unter Berücksichtigung der Form. Denn beispielsweise die Dialogizität als kulturstiftender Habitus kann bestimmte formale Eigenheiten eines Textes generieren, wie in Goethes Spätwerk unübersehbar wird.

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Die Lektüren: Diversifizierung und Einheit

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Wie die Studie von Heinz im Einzelnen mit den literarischen Texten verfährt, soll im Folgenden mit Blick auf die Analyse von Goethes Wanderjahren genauer vorgestellt werden. Ringt jede Untersuchung dieses komplexen Altersromans mit der eigenen Form – sollte die Grenzziehung Novelle / Rahmen reproduziert oder sollten thematische Schwerpunkte verfolgt werden etc.? –, so findet Heinz eine recht originelle Lösung: Sie liest thematisch und quer zu den narrativen Formen, und zwar gemäß ihrer vier Schwerpunkte (Kulturgeschichte, -soziologie etc.), stellt also beispielsweise alle Äußerungen des Gesamtromans zur Kunst zusammen. So folgt auf den lyrischen Liebesdialog aus Der Mann von funfzig Jahren die strenge Kunstdoktrin der Pädagogischen Provinz, die sich am antiken Begriff des Kanons orientiert. Tatsächlich werden auf diese Weise neue Schneisen durch den Text gelegt; ein Problem scheint mir jedoch, dass die isolierten Partien jenseits ihrer narrativen (und auch historischen) Kontexte zusammengestellt werden, zudem nicht ganz unwichtige Erkenntnisse der Forschung ausgespart bleiben (zum Beispiel der Hinweis auf den ästhetischen Eklektizismus der Pädagogischen Provinz). Und die Dispersion bzw. Vielgestaltigkeit des Romans, die zu Beginn der Lektüre meist im Vordergrund steht, wird im Verlauf der Analyse eher ausgeblendet. Die Zusammenfassungen profilieren vornehmlich gemeinsame Merkmale wie die strengen Maßstäbe (die für die eruptive Kunst Flavios und die imitatio des zweiten Joseph nicht gelten), die Aufkündigung des Geniegedankens, die therapeutische Wirkung der Kunst und ihre kollektivierende Funktion (die allerdings durch starke Ironiesignale verunsichert wird). Nach Heinz ermöglichen Kunstwerke in den Wanderjahren »die exemplarische Erfahrung von Ganzheit, sowohl in der Gestaltungsleistung des Kunst- oder Handwerks als auch in deren vielfältigen Wirkungen« (S. 349). 4 Die Widersprüchlichkeit des Goetheschen Romans, die die Ausführungen zu Beginn noch verdeutlichen – sehr genau rekonstruiert Heinz die Inkohärenzen, die Erzählsprünge und -beschleunigungen –, werden tendenziell zurückgenommen, um dann doch das »Ganze der Kunst« zu entdecken, das bei Goethe morphologische Prinzipien und polare Strukturen zu garantieren scheinen – Jutta Heinz schließt an diejenigen Lektüren an, die die naturwissenschaftlichen Konzepte Goethes auf seine literarischen Texte übertragen. 5

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Im Feld des Wissens, in dem Geologie, Astronomie und auch die Wanderthematik behandelt werden, dominieren entsprechend Polaritäten wie Trennen und Verbinden, wobei der Roman diese Kategorien auch als poetologische Prinzipien und (topologische) Bewegungsmuster der sozialen Interaktion entfaltet. Dieser abstrahierende Zugriff von Heinz hat Einiges für sich, denn der Roman kreist auf diversen Ebenen seines hoch reflexiven Kosmos um Mitteilung, Teilung, Vermittlung, Trennen und Verbinden. Die entgegen gesetzten Pole werden in den Wanderjahren zuweilen vermittelt, zuweilen jedoch radikalisiert. Für die Erzählung Nicht zu weit beispielsweise insistiert Heinz auf der disparaten Erzählführung und der Unvermittelbarkeit der Oppositionen. Die Erzählung sei »eine Art Einübung des Lesers in verbindender und trennender Betrachtung«, doch die »Polaritäten werden noch verschärft statt versöhnt« (S. 371).

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Kultur und Naturwissenschaft

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Besondere Aufmerksamkeit widmet die Analyse dieses semiotischen Romans, in dem alles Meinung und Interpretation ist, der Kommunikation, wobei auch hier entgegen gesetzte Tendenzen auszumachen sind: An manchen Stellen gelingt die gesellige Konversation (wie sie auch Schleiermacher konzipiert hat), an anderen jedoch wird das harsche Misslingen der kommunikativen Balance vorgeführt. Auch hier dominieren Polaritäten wie verbindende Übereinstimmung / trennender Widerspruch oder auch offenbares / geheimes Wissen. Der Roman entwirft insgesamt diverse Kulturmodelle (wie die polaren Aushandlungsprozesse) und wird demgemäß mit den zuvor referierten Kulturtheorien in Beziehung gesetzt – mit Elias’ Konzept der Affektkontrolle, mit Cassirers dynamischem Vermittlungsmodell und Rickerts Wertbegriff. Und lassen sich die Wanderjahre als Kritik an den modernen Tendenzen des 19. Jahrhunderts lesen, so erinnert Heinz an Simmels Essay Die Tragödie der Kultur (was aus einer streng historischen Perspektive nicht ganz unproblematisch ist). Die Zusammenfassungen tendieren zuweilen – ihrem Fokus auf Ganzheit entsprechend – zu recht allgemeinen Ausführungen, wenn es etwa heißt: »Die Mitteilung gerät auch dort an ihre Grenzen, wo es um innere Überzeugungen geht: Die Wahrheiten des eigenen Lebens müssen gelebt und nicht diskutiert werden. Sogar die Art ihres Erwerbs ist letztlich unvermittelbar: Jeder Mensch denkt unhintergehbar auf eine nur ihm eigene Weise« (S. 457) – diese Botschaft verkünde Goethes Roman, der sich damit, Heinz zufolge, modernen biologistischen Auffassungen vom menschlichen Erkenntnisvermögen als Schaltstruktur von Synapsen annähere! Im letzten Abschnitt der Untersuchung wird dieser generalisierende Impetus, wie ihn die synthetisierende Leistung von Kultur zu ermöglichen scheint, ausgeweitet, indem Konzepte aus den Naturwissenschaften und der Biologie herangezogen werden – als Indiz einer »offenen und innovativen Kulturwissenschaft, die erkannt hat, daß es letztlich nur eine einzige Wirklichkeit gibt, sei diese nun konstruiert oder real gegeben« (S. 504). Damit werden die fachwissenschaftlichen Ausdifferenzierungen, die die Studie zu Beginn verfolgt hatte und die die Bedingung kulturwissenschaftlicher (Diskurs-)Analysen sind, vom Tisch gefegt. Diese »einzige Wirklichkeit« bedeutete aber doch wohl das Ende von kulturellen Verhandlungen und dynamischen Selbstauslegungen.

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Schluss

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Einerseits scheint der Preis für eine »Komparatistik« von Kulturmodellen, wie sie die Studie von Jutta Heinz entwickelt, recht hoch: Auf der Ebene abstrakter Kategorien wie Subjekt und Objekt ist Vergleichbarkeit freilich herstellbar, doch riskiert man auf diese Weise nicht ein Maß an Abstraktion, das genau das, was literarische Texte zu dichten Beschreibungen werden lässt, nämlich ihre Historizität, verspielt? Auf der anderen Seite ist der Versuch, literarische Kulturmodelle freizulegen und mit wissenschaftlichen Entwürfen – eventuell synchronen – ins Gespräch zu bringen, überaus vielversprechend und eröffnet einen neuen Fokus im Umgang mit literarischen Texten.

 
 

Anmerkungen

Kultur fixiere Verhaltens- und Wahrnehmungsmöglichkeiten und sei auf Wiederholung, auf Komplexitätsreduktion ausgerichtet. Zudem sei der Begriff zu unscharf, um Aufschluss über selbstreferentielle Prozesse zu geben, wie es in Die Gesellschaft der Gesellschaft heißt. Der Begriff ›Kultur‹ verwischt nach Luhmann notwendige Unterscheidungen, die allein wissenschaftliche Prägnanz ermöglichen; Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt/M. 1997, S. 881 f.   zurück
Klaus Lichtblau rekonstruiert in seiner umfassenden Studie über die Entstehung der Kultursoziologie das tief greifende Krisenbewusstsein, das die Denker antreibt und in ihrer Kulturkritik ebenso zum Ausdruck kommt wie in ihrem ästhetisch-literarischen Moderne-Entwurf; Klaus Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland. Frankfurt/M. 1996.   zurück
Dieser Ausdruck stammt von John Fiske: Cultural Studies and the Culture of Everyday Life. In: Lawrence Grossberg / Cary Nelson / Paula A. Treichler (Hg.): Cultural Studies. New York, London 1992, S. 154–165.   zurück
Die Lago-Maggiore-Szene jedoch wurde bislang als Kritik an der romantischen Kunstkritik und der Wirkästhetik einer seriellen Kunst gelesen, die auch in ihrem Produktionsprozess gegen die ästhetische Regel der Ganzheit verstößt.   zurück
Vgl. zu den Lehrjahren z.B. Volker Zumbrink: Metamorphosen des kranken Königssohns. Die Shakespeare-Rezeption in Goethes Romanen Wilhelm Meisters Theatralische Sendung und Wilhelm Meisters Lehrjahre. Münster 1997.   zurück