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Generationenprojekt und nordeuropäische Literaturgeschichten

  • Jürg Glauser (Hg.): Skandinavische Literaturgeschichte. Stuttgart: J. B. Metzler 2006. 519 S. 280 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 39,95.
    ISBN: 978-3-476-01973-8.
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Einleitung

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Diese Literaturgeschichte ist nichts weniger als ein längst überfälliges Generationenprojekt. 1982 erschien die letzte deutschsprachige Literaturgeschichte Skandinaviens, Grundzüge der skandinavischen Literaturen, herausgegeben von Fritz Paul und geschrieben von deutschsprachigen Skandinavisten. Nach 24 Jahren war diese zu Recht vielbenutzte Übersichtsdarstellung zu den skandinavischen Literaturen ab der Reformation allerdings erkennbar in die Jahre gekommen (und alle damaligen Beiträger haben bezeichnenderweise mittlerweile aus Altersgründen ihre Universitätslaufbahn beendet): Die (Gegenwarts‑)Literatur ab ca. 1980 fehlte naturgemäß ebenso wie die Forschungserkenntnisse u.a. der seitdem in Skandinavien und in den USA erschienenen ›großen‹ nationalliterarischen Literaturgeschichten. Und nicht zuletzt der Theorieschub in der skandinavistischen Literaturwissenschaft ab den 1980ern, der hier nur mit den Stichworten Diskurstheorien, Poststrukturalismus, Genderstudien, Medialitätstheorien und Postkolonialismus angedeutet sein soll, hat zu zahlreichen Umdeutungen und Neubewertungen geführt.

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Eine neue skandinavische Literaturgeschichte war wahrhaftig notwendig – und man muss dem Herausgeber wie den Beiträgern zu diesem Band gratulieren, mit dem dieses eigentlich unmögliche Projekt endlich realisiert worden ist. Denn so unumstritten notwendig Literaturgeschichten für den akademischen Unterricht wie für die schnelle Orientierung im Ozean der Texte sind, so problematisch ist bekanntermaßen die Praxis der Literaturhistoriographie nach dem oben erwähnten Theorieschub geworden. Wie lässt sich heute überhaupt noch Literaturgeschichte schreiben, bzw. wie lässt sich gar eine skandinavische Literaturgeschichte verfassen, zumal in einem Band? Der angesichts solcher Fragen befremdliche Titel der Literaturgeschichte ist glücklicherweise jedoch – vielleicht verlegerischen Gründen geschuldet? – ein Etikettenschwindel. Intendiert wird von den Autoren nämlich

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(eine) Geschichte der skandinavischen Literaturen, wobei der Plural auf die Mehrzahl von nationalen Literaturen in Nordeuropa und auf die unterschiedlichen Literaturen innerhalb dieser selbst abzielt (S. XVI),
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so der Herausgeber Glauser in seinem Vorwort, das sich kundig mit dem Problem der Historiographie der skandinavischen Literaturen in historischer wie theoretischer Perspektive auseinandersetzt. Eigentlich haben wir es also mit Nordeuropäischen Literaturgeschichten unter Einbeziehung der mittelalterlichen Literatur zu tun, zumal durch die erstmalige Berücksichtigung der finnischen, färöischen, saamischen und grönländischen Literatur die traditionelle philologische Definition ›skandinavischer‹ Literatur deutlich transzendiert wird.

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Konkret ist die Skandinavische Literaturgeschichte so aufgebaut, dass in zunächst acht chronologisch organisierten Kapiteln, jedes verfasst von einem oder einer für den jeweiligen Zeitraum ausgewiesenen deutschsprachigen Skandinavisten oder Skandinavistin, synoptisch und komparativ die Entwicklung der im traditionellen Sinne skandinavischen Literaturen seit dem Mittelalter geschildert wird. Die isländische Literatur wird dabei entweder in von Jürg Glauser geschriebenen Unterkapiteln hinzufügend bearbeitet oder aber ist bereits in die ›allgemeinskandinavische‹ Darstellung integriert. Die im Zuge der chronologischen Grundgliederung vorgenommene Periodisierung ist durchweg traditionell. Supplementiert werden diese acht Kapitel durch vier weitere, in denen jeweils ein Abriss der färöischen, finnischen, saamischen und grönländischen Literatur präsentiert wird. Mit Ausnahme von Stefan Moster, der für das Kapitel zur finnischen Literatur verantwortlich zeichnet, sind diese Kapitel nicht von Forschern aus der deutschsprachigen Skandinavistik geschrieben worden.

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Altnordische Textwelt

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Den Auftakt der Darstellung der skandinavischen Literaturen zwischen 800 und 2000 macht Jürg Glauser mit einem Kapitel zum »Mittelalter (800–1500)« (S. 1–50). Ziel dieses Kapitels ist eine Skizze der »altnordische[n] Textwelt« anhand repräsentativer Beispiele. Bewusst verzichtet Glauser dabei auf den ohnehin unerfüllbaren Anspruch auf Vollständigkeit und greift, didaktisch wohlgelungen, exemplarisch einzelne Werke, ja einzelne Motive heraus, um Mentalitäten und Traditionslinien aufzuzeigen. Stets wird in den fünf Unterkapiteln, in die das Kapitel eingeteilt ist, auf einer Metaebene über die Literatur reflektiert, und eine solche Ebene der Reflexion wird auch den Gedanken der mittelalterlichen Autoren zugeschrieben. Die ersten beiden Teile geben einen Überblick über die Einteilung des Altnordischen sowie die literarischen Hauptgattungen, thematisieren Text-Bild-Kontexte und gehen auf die altnordische Schriftüberlieferung von den Runen bis zum Ende des 15. Jahrhunderts ein. Als Aufhänger zu Beginn fungiert der Mythos vom Skaldenmet aus der Snorra-Edda.

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Unter dem Untertitel »Europäisches Mittelalter und skandinavische Literatur« befasst sich Glauser im Folgenden zunächst schwerpunktmäßig mit Birgitta von Schweden, die als »heilige Vermittlerin« (S. 22) betitelt wird. Das Werk dieser herausragenden Gestalt des skandinavischen Mittelalters wird auch dazu genutzt, die Entstehung von Texten nicht nur als Geistes-, sondern auch als materielle Produkte zu skizzieren, indem hier auf das Skriptorium in Vadstena hingewiesen wird. Zudem vermittelt Glauser einen Eindruck von der mittelalterlichen Art des Übersetzens. Damit leitet der Text über zur Tradition von Bibelübersetzungen in Skandinavien, bevor die anderen Gattungen der skandinavischen mittelalterlichen Literatur besprochen werden.

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Erst die beiden letzten Kapitel behandeln ausführlicher Skaldik und Sagaliteratur, wobei ersteres vor allem unter das Thema Literatur und Gewalt gestellt wird, letzteres aus dem Blickwinkel literarischer Erinnerungskultur betrachtet wird. Fast wie ein Ausblick wirkt dann der letzte Abschnitt, der nochmals die bis ins 20. Jahrhundert andauernde handschriftliche Überlieferung isländischer Literatur aufgreift.

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Frühe Neuzeit

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Es schließt sich ein ebenfalls von Jürg Glauser verfasstes Kapitel zur »Frühe[n] Neuzeit (1500–1720)« (S. 51–78) an, das also bewusst auf eine Untergliederung in z.B. Renaissance‑ und Barockliteratur verzichtet. Hier treten zu den bereits im vorangehenden Kapitel beschriebenen Entwicklungen Aspekte des Medienwechsels in Form von Informationen zur Druckgeschichte Skandinaviens hinzu. Die Weiterführung der skaldischen Tradition Islands wird unter dem Einfluss zentraleuropäischer barocker Stillehre betrachtet. Durch ein Aufgreifen von Aspekten der Rhetorik und der Poetik wird das Bild abgerundet. Es wird zudem versucht, Epochengrenzen zu definieren, um – pädagogisch gelungen – im selben Augenblick eben diese Grenzziehungen durch dem Hinweis auf die eigentlich allmählich und nicht abrupt eintretenden Änderungen sowie die Gleichzeitigkeit verschiedener Phänomene des Medialen zu relativieren.

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In den drei Unterkapiteln greift Glauser zunächst den Aspekt der ›neuen Anfänge‹ auf, indem er einen historischen Überblick über den Zeitraum gibt. Als Aufmacher dient ihm hierbei Rudbecks monumentales Werk Atland eller Manheim (1679–1702), mit dem er auch das zweite Unterkapitel zur Rhetorik einleitet. Im dritten Unterkapitel stellt er für das 17. Jahrhundert das »Dichten in der Muttersprache« in das Zentrum seiner Betrachtung; als weiterer Hauptpunkt erhält hier die Diskussion des problematischen Barockbegriffs breiten Raum. Abschließend greift Glauser erneut das Hauptwerk Rudbecks auf und rundet so sein Kapitel zur frühen Neuzeit elegant ab.

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Den von Glauser verfassten Texten ist durchweg anzumerken, dass sein Begriff von Literaturgeschichte vor allem von literatur- und medientheoretischen Überlegungen geprägt ist. Immer wieder gibt er in seinen anregenden Kapiteln Hinweise zur Transmission der Texte und zu konkreten Rezeptions- bzw. Lesesituationen; die Funktionen von Literatur und Paratexten werden ebenfalls thematisiert.

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Drei Aufklärungen in Nordeuropa

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Karin Hoff leitet ihr Kapitel zur »Aufklärung (1720–1800)« (S. 79–122) mit der These ein,

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dass sich die skandinavischen Literaturen unabhängig voneinander mit den Ideen der europäischen Aufklärung auseinandersetzen, dass es also zu Akzentverschiebungen und nur in wenigen Fällen zu parallelen Entwicklungen oder sogar gesamtskandinavischen Ereignissen kommt (S. 80).
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Nicht zuletzt der deutsche Bevölkerungsanteil im dänischen Gesamtstaat und dessen angeblich vornehmlich deutschsprachige Bürokratie (S. 80) führe dort in kultureller Hinsicht zunehmend zu einer Orientierung an deutschen Entwicklungen, während in Schweden Frankreich als kulturelles Paradigma bestehen bleibt. Außerdem bildeten sich seit 1740, so Hoff in Anlehnung an Ole Feldbæks These und die ›Kieler Schule‹ zur bikulturellen dänisch-deutschen Literatur im 18. Jahrhundert, als Antwort auf die kulturelle deutsche Hegemonie »pränationale Diskurse« (S. 81) unter den ›Dänen‹ heraus. Diese hatten keine Entsprechung im schwedisch(‑finnisch)en Reich, selbst wenn auch hier ab der zweiten Jahrhunderthälfte ein nation building-Prozess einsetzte. Neuere historische Untersuchungen wie Erik Gøbels De styrede rigerne. Embedsmændene i den dansk-norske civile centraladministration 1660–1814 (Odense 2000) haben allerdings begründete Zweifel an der Dominanz der Deutschsprachigen in der Gesamtstaatsbürokratie geäußert, und Feldbæks These einer ›verfrühten‹ dänischen Nationswerdung ist keineswegs unumstritten (man vgl. in der Skandinavischen Literaturgeschichte die hiermit schwerlich in Übereinstimmung zu bringenden Einlassungen Klaus Müller-Willes im folgenden Kapitel, S. 173). Aber die grundsätzliche Differenz zwischen der dänisch-norwegischen und der schwedisch(‑finnisch)en Entwicklung sowie die ›deutsche‹ Kultur im Gesamtstaat als Hauptgrund für diese Differenz ist unbestreitbar; obendrein wird sie in der anschließenden Darstellung der Aufklärung in Skandinavien überzeugend produktiv gemacht.

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In Kongruenz mit ihrer Prämisse untergliedert Karin Hoff ihre Darstellung in zwei Unterkapitel, die sich mit der Aufklärung in Dänemark / Norwegen bzw. Schweden beschäftigen. Auf eine einleitende Übersicht zu den wichtigsten Konstituenten und Entwicklungen der jeweiligen Literatur folgen mehr oder weniger autor(inn)enorientierte Abschnitte, die konzis ein Gesamtwerk skizzieren (besonders gelungen: der Abschnitt über Jens Baggesen, S. 100–102) oder zentrale Probleme der zeitgenössischen Literatur anhand eines Einzelwerkes kurz thematisieren. Auch wenn Holberg erwartungsgemäß und nachvollziehbar den größten Raum einnimmt, ist Hoff doch erfolgreich um eine ausgewogene Repräsentation der wichtigsten Autoren der skandinavischen Aufklärungen bemüht, die zugleich immer auch in ihrem europäischen Kontext reflektiert werden.

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Der in Island später einsetzenden aufklärerischen Bewegung (hier datiert auf 1750–1830) trägt die um dreißig Jahre versetzte Periodisierung des von Glauser verfassten Teilkapitels zur isländischen Literatur Rechnung (S. 122–130). An den Beginn dieser Epoche setzt Glauser die Reiseliteratur, einsetzend mit der Reise Eggert Ólafssons und Bjarni Pálssons, die in das Jahr 1750 fiel, deren Beschreibung aber erst 1772 herausgegeben wurde. Eggert gilt als die herausragende Persönlichkeit der isländischen Aufklärung. Als weiteres hervortretendes Ereignis nennt Glauser im weiteren Verlauf des Teilkapitels das Erstarken des isländischen Sprachpurismus; zudem beschreibt er, wie im 18. Jahrhundert die genuin isländische Literatur der Sagas und Rimur zurückgedrängt wurde durch den Einfluss isländischer Geistlicher, die wiederum von Diskursen auf dem Kontinent beeinflusst waren. Wie in seinen anderen Abschnitten thematisiert Glauser auch in diesem Teilkapitel die Bedeutung medialer Entwicklungen im 18. und frühen 19. Jahrhundert auf Island, vor allem die Rolle des Druckerwesens, das bis 1773 in kirchlicher Hand war.

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Romantik poststrukturalistisch gelesen

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Ganz anders als Karin Hoff in ihrem Kapitel zur Aufklärung verfährt Klaus Müller-Wille in seinem Kapitel zu »Romantik – Biedermeier – Poetischer Realismus (1800–1870)« (S. 131–182). Müller-Wille verfolgt in seiner Darstellung ambitioniert einen diskursorientierten Zugang zur Literatur, wenn er in seinen vier Teilkapiteln »Autorinszenierungen«, »Romantische[r] Ironie«, »Den Menschen neu erfinden: Subjekt‑ und Liebeskonzepte[n]« sowie »Imaginierte[n] Nationen, imaginierte[n] Fremdwelten« nachspürt. Seine theoretische Grundlage ist die poststrukturalistisch inspirierte Romantikforschung, die angeblich

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hat zeigen können, dass das Interesse der Literatur dieses Zeitraums in erster Linie der Sprache und ihrer Auswirkung auf das Denken gilt. In den avanciertesten Dichtungen der Epoche wird die strukturbildende Macht der Sprache kritisch reflektiert – ja, Sprache selbst verändert (S. 137).
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Müller-Willes starke (wenn auch ausdrücklich gesagt: nicht ausschließliche) Konzentration auf semiotische Fragestellungen verdankt dieses überaus lesenswerte Kapitel gerade für den Kenner der präsentierten Literatur zahlreiche anregende Beobachtungen und faszinierende neue Perspektiven auf kanonisierte Werke. Aber sein Versuch einer innovativen Literaturgeschichtsschreibung wird da problematisch, wo er seinen streckenweise durchaus pluralistischen Zugang zur analysierten Literatur aufgibt und statt dessen die Möglichkeit einer poststrukturalistisch inspirierten Lektüre eines Textes zum entscheidenden Selektions‑ und Wertungskriterium wird, d.h. wo ein Text idealiter selbstreferentiell, dynamisch und ambivalent sein soll und sich so »nicht auf eine semantische Identität festschreiben lässt, sondern der die Leser zu einer gleichermaßen unabschließbaren wie lustvollen Lektüretätigkeit verführt« (so Müller-Wille in Bezug auf Almqvists Drottningens juvelsmycke (1834), S. 150).

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Aus konstruktivistischer Perspektive ebenso wie angesichts einiger Bewertungen in diesem Kapitel stellt sich indes die Frage, ob man in literarischen Texten nicht notwendig das findet, wonach man mit seinem theoretischen Erkenntnisinteresse sucht (und sei es ein normativer Begriff von Unabschließbarkeit), ohne die Texte dadurch – nicht zuletzt in ihrer historischen Funktion – zu erschöpfen. Denn während der poststrukturalistische Zugang bei manchen Texten wie z.B. bei Livijn oder Stagnelius überzeugend neue Perspektiven eröffnet, funktioniert er bei anderen, z.B. religiös konstituierten, überhaupt nicht. Warum dieser oder jener Autor mit seinem Werk jemals kulturellen Status gewinnen konnte, bleibt in Müller-Willes Darstellung daher mitunter unklar. Hierzu zählt z.B. Oehlenschläger (vgl. z.B. S. 138), aber auch in wenigen Zeilen abgehandelte Autoren wie Grundtvig (vgl. S. 174, wo er mit einem Marginaltitel fehlerhaft dem romantischen Streben nach einer neuen Mythologie subsumiert wird), Tegnér (S. 175) oder Geijer mit seinem Götiska förbundet (ibid.). Auffällig ist auch, dass Autorinnen, deren Interesse weniger dem Selbstbezug der Zeichen als ihrer (Schreib‑)Position in einer patriarchalen Welt galt, schwach vertreten sind (S. 159 f. sowie S. 169–171) – und dies in der ersten gesamtskandinavischen Literaturgeschichte nach dem eigentlichen Beginn der Frauenliteratur-Historiographie in den achtziger Jahren.

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Insgesamt präsentiert Müller-Wille mit seinem Kapitel über die de facto nordeuropäischen statt skandinavischen Literaturen zwischen 1800 und 1870 einen beeindruckend sachkundigen Beitrag, der zugleich aber auch der streitbarste in diesem Band ist. Dass der Aufbau des Kapitels wie seine Selektions‑ und Bewertungskriterien vor allem poststrukturalistischer (Romantik‑)Theorie geschuldet sind, wird zwar redlich herausgestellt, macht den Beitrag deshalb aber nicht weniger angreifbar. Während die anderen Beitragenden explizit oder implizit einer methodenpluralistischen Herangehensweise verpflichtet sind, folgt Müller-Willes Darstellung (wenn auch nicht ausschließlich) einem theoretischen Paradigma, das vor allem in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt worden ist und dessen beste Zeiten wohl schon vorbei sind.

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Europäische frühe Moderne in Skandinavien

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Im Anschluss an Müller-Willes Kapitel zeichnet Annegret Heitmann für das Kapitel »Die Moderne im Durchbruch (1870–1910)« (S. 183–229) verantwortlich. Die in Terminologie wie Periodisierung markierte Differenz zum hier vielleicht erwarteten Begriff des ›Modernen Durchbruchs‹, der traditionell von ca. 1870 bis 1890 angesetzt wird, deutet bereits an, dass Heitmann »die Epoche insgesamt am europäischen Modernitätsparadigma orientiert als ›frühe Moderne‹« (S. 183) verstehen möchte, auch wenn sie die Bedeutung des Einschnittes um 1890, jenes ›besonderen Jahres‹, durchaus reflektiert (vgl. S. 183, 211, 216). Nicht zuletzt der betont internordische Charakter der Literatur löst sich ja rapide nach 1890 auf; die skandinavischen Literaturen desynchronisieren sich wieder. Die (weitgehende) Auflösung der gerade in Skandinavien üblichen Periodisierung zugunsten der Konstruktion einer von der europäischen Literatur inspirierten Phase der »Moderne im Durchbruch« geht einher mit einer neuen Perspektivierung: Der traditionelle sozialhistorische und inhaltsästhetische Zugang zu den Texten tritt zurück zugunsten einer (inter‑)medialen, genderorientierten und im engeren Sinne literaturästhetischen Lektüre – eines der Unterkapitel heißt bezeichnenderweise »Repräsentationsformen des Neuen oder: Wie kommt die Welt in den Text?«. Wie gewinnbringend eine solche Perspektivierung sein kann, wird in dem mit didaktischen Textanalysen durchsetzten Text immer wieder deutlich, so wenn z.B. die Krise der Männlichkeit in der Sittlichkeitsfehde der 1880er Jahre angesprochen wird, literarische Dekadenz und der Diskurs über die Erkundung des arktischen Eises enggeführt oder aber immer wieder überzeugend Bildmedien und Literatur zueinander in Beziehung gesetzt werden, so z.B. bei Bang und Strindberg. Auffällig ist in der Darstellung die Aufwertung Selma Lagerlöfs, die – in Übereinstimmung mit jüngerer Forschung – aus dem folkloristisch-neuromantischen Kontext herausgelöst wird, in die man ihr Werk gerne eingeschrieben hat:

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Durch Lagerlöfs ethischen und machtkritischen Impetus, die implizite (und erst von der Gender-Forschung entdeckte) Kritik am herkömmlichen dichotomischen Geschlechterverhältnis und durch ihre phantasiegeleitete Erkundung der menschlichen Psyche gehört ihr Erzählwerk zur modernen europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts. (S. 224)
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Der Medienverbund der klassischen Moderne

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Auch Frithjof Strauß nimmt in seinem Kapitel über die »Klassische Moderne (1910–40)« (S. 230–264) eine überzeugende Neuperspektivierung der Literatur dieser Zeit vor: Statt des in der Literaturhistoriographie für diesen Zeitraum vorherrschenden literatursoziologischen ›Plots‹ verfolgt er einen medienhistorischen, also wie die Literatur und ihre Öffentlichkeit auf den Umstand reagierte, dass »die bisherige Rolle der Schrift‑ und Buchkultur als qualitativ und quantitativ wichtigstes Mittel der fiktionsgestützten gesellschaftlichen Kommunikation unmaßgeblicher wurde« (S. 232). Dieses mediale embedding, bei dem vor allem auf die Massenmedien Kino, Radio und Schallplatte fokussiert wird, führt dem Leser nicht nur nachdrücklich vor Augen, wie ästhetisch produktiv die Reaktion der ›hohen‹ Literatur auf die Populärkultur generell und z.B. einzelne populärkulturelle Phänomene wie den Jazz war – sei es in Form von manifester Intermedialität, sei es in Form eines funktionalen Differenzierungsprozesses: So liest Strauß z.B. die alltagsrealistische Literatur seit den zwanziger Jahren nicht nur als Gegenbewegung zu expressionistischen Strömungen, sondern auch als Reaktion auf die Eskapismen der Kulturindustrie, die neue Bevölkerungsschichten erschloss (S. 250). Gleichzeitig gelingt es Strauß durch seine medienhistorische Perspektive, üblicherweise marginalisierte Textsorten wie Kabarett‑ und Revuetexte, Kriminal- oder Trivialromane wie des Dänen Morten Korch in seine Darstellung einzubeziehen. Das Kapitel ist nicht zuletzt wegen seiner pointierten Formulierungen, die an einen skandinavischen Stil der Vermittlung von Forschungsergebnissen erinnern, ein intellektuelles Lesevergnügen.

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Ergänzt werden Strauß’ Ausführungen durch gut sechs Seiten mit dem Titel »Europäische Avantgarde – nationale Tradition: das Ringen der isländischen Literatur um Formen und Inhalte« (S. 264–270), geschrieben von Jürg Glauser. Das im Titel umrissene Konfliktfeld wird vor allem anhand der drei Hauptfiguren des isländischen Literaturlebens der Zeit, Sigurður Nordal, Halldór Laxness und Þorbergur Þórðarson, diskutiert. Wie auch in Glausers anderen Teilkapiteln zur isländischen Literatur fehlt nicht der Hinweis darauf, dass ihre Entwicklung im Wesentlichen »durch die Auseinandersetzung zwischen eigenen Traditionsspuren und von außen kommenden Neuerungen bestimmt« (S. 265) sei.

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Literatur der skandinavischen Nachkriegsgesellschaft

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Thomas Seilers Kapitel über den »Modernismus (1940–1980)« (S. 271–319) wird eingeleitet durch eine knappe Übersicht über den behandelten Zeitraum aus ereignisgeschichtlicher, literatursoziologischer und ideengeschichtlicher Perspektive, bevor die Literatur kundig in drei mehr oder weniger chronologisch organisierten Teilabschnitten (»Individuum und Existenz«, »Konfrontation und Engagement« sowie »System und Schrift«) präsentiert wird. Im ersten Teilabschnitt verfolgt Seiler die Reaktion der skandinavischen Literaturen auf Weltkrieg, Besatzung, Holocaust und Nachkriegsumwälzungen in den vierziger und fünfziger Jahren. Unter der Überschrift »Konfrontation und Engagement« werden die ab Beginn der sechziger Jahre beobachtbaren literarischen Reaktionen auf das bis dahin dominante modernistische und / oder existentialistische Schreiben in Form einer zunehmenden Politisierung, Ideologisierung und Veralltäglichung der Literatur präsentiert. Im letzten Teilabschnitt »System und Schrift« geht es schließlich um jene Literaturrichtungen seit Ende der sechziger Jahre, die sich dieser Subsumierbarkeit unter literaturexterne Zwecke programmatisch verweigerten: die Systemdichtung, der Konkretismus, Experimentatoren wie Svend Aage Madsen, Paal-Helge Haugen oder Einar Økland, der Beatpoet Dan Turéll, der Magische Realismus eines Kjartan Fløgstad, schließlich noch die Romane des Literaturjahrganges 1979, die bereits in Richtung postmoderner Literatur weisen: Snöljus von Lars Andersson, Fodboldenglen von Hans-Jørgen Nielsen, Autisterna von Stig Larsson.

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Wie in Strauß’ vorhergehendem Kapitel beschränkt sich Seiler nicht auf die hochkulturelle Belletristik (deren Gegenstandsbereich in den sechziger Jahren ohnehin stark ausgeweitet wurde), sondern beschließt jeden Teilabschnitt mit einer programmatischen Erweiterung: im ersten das Werk Ingmar Bergmans, im zweiten »Jazz & Poetry, Song, Rock und Revue« (S. 307), im dritten die Karnevalisierungsstrategien in Astrid Lindgrens Pippi- und Karlsson-Büchern. Letztere gehören zweifelsohne zur Weltliteratur; ihre Behandlung in einem Absatz am Schluss des ganzen Kapitels wirkt allerdings wie eine Verlegenheitslösung. Diese Herangehensweise drängt gerade erst die Frage auf, warum denn die restliche skandinavische Kinder‑ und Jugendliteratur zwischen 1940 und 1980, deren Bedeutung nicht zuletzt aus komparatistischer Sicht unstrittig ist, ausgelassen wurde. Die ersten beiden ausleitenden ›Erweiterungen‹ deuten die Notwendigkeit einer Situierung von Literatur in einem Medienverbund eher an, als dass sie dies ausführen, und bezeichnenderweise bleibt die analytische Ausrichtung literarisch dominiert. Seilers Interesse gilt ganz klar der Literatur selbst, deren Entwicklung zwischen 1940 und 1980 er übersichtlich und kenntnisreich zu schildern vermag.

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In seinem ergänzenden Abschnitt zur isländischen Nachkriegsliteratur (S. 319–331) resümiert Glauser diese mit den Stichworten Nationalitätsdiskurse, Atomdichtung und modernistische Prosa. Zunächst betrachtet er das Verhältnis isländischer Literatur zur Politik und Geschichte, mit denen sich in den ersten Nachkriegsjahren die Schriftsteller in ihrer Prosa auseinandersetzten. Dann geht er auf die modernistische »Formrevolution« (S. 324) in der isländischen Lyrik ein, die um 1950 anzusetzen ist. Chronologisch schreitet er dann weiter zur Prosa der sechziger und siebziger Jahre, diskutiert den internationalen Einfluss auf die isländischen Autoren und schließt sein Kapitel mit einer detaillierteren Analyse zweier einflussreicher modernistischer Romane ab: Guðbergur Bergssons Tómas Jónsson, metsölubók von 1966 und Laxness’ Kristnihald undir jökli von 1968.

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Gegenwartsliteratur

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Den Abschluss der Darstellung der skandinavischen Literaturen zwischen 800 und 2000 liefert Antje Wischmann mit dem Kapitel »Gegenwart (1980–2000)« (S. 332–378). Über Gegenwartsliteratur historiographisch zu schreiben, ist ein fast unmögliches Unterfangen, und Wischmann nimmt für sich erwartungsgemäß noch einmal explizit in Anspruch, »eine von vielen möglichen rückblickenden ›Geschichten‹« zu schreiben, die »sich voraussichtlich zu einem späteren Zeitpunkt andersartig zusammenfügen wird« (S. 335). Ohne der Zukunft vorausgreifen zu können, ist doch festzuhalten, dass dieses in mancherlei Hinsicht sicherlich schwierigste Kapitel rundum überzeugt. Wischmann gelingt es vor dem Hintergrund einer beeindruckenden Kenntnis der skandinavischen Gegenwartsliteraturen, ein unübersichtliches und bislang literaturhistoriographisch kaum aufgearbeitetes Feld in drei Unterkapitel mit den Titeln »Erweiterter Realismus«, »Neue literarische Tendenzen« und »Literatur intermedial« zu systematisieren und dergestalt zu präsentieren, dass der geneigte Leser zu so mancher Lektüre zur eigenen Weiterbildung angeregt wird. Der einleitenden Charakterisierung der Zeit als ›Spätmoderne‹ entspricht die Deutung des Postmodernismus als »Weiterführung und Radikalisierung des Modernismus« (S. 332), und resümierend schreibt Wischmann über die Literatur ihrer Periode:

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Im Modernismus vernachlässigte Themen werden in den skandinavischen Literaturen seit Ende der 70er Jahre nachgeholt, das in modernistischen Texten erarbeitete formalästhetische Repertoire wird in seiner ganzen Bandbreite zur Anwendung gebracht und erneuert. Die Genres werden durch Kombinationsformen erweitert, aber auch durch die Erschließung populär-kommerzieller oder theoretisch und philosophisch avancierter Themen und Textformen. (S. 332)
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Der gewählte Zugang bei der Präsentation ist, stärker als in den meisten anderen Kapiteln, eine Organisation der literarischen Texte in cluster, in denen jeweils wichtige Themen (wie Urbanität in all ihren Facetten oder das Fremde), ästhetische Formen (wie der neue Dokumentarismus oder Metafiktion) oder intermediale Relationen nachgezeichnet werden. Als Ausblick auf die Literatur der Zukunft fungiert abschließend ein Abschnitt über »Literatur im Netz: Hypertextromane und spielerische Text-Animationen« (S. 375–378), der die Frage nach der Literatur in Zeiten des hypertextuellen und interaktiven Internets stellt.

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Im supplierenden Kapitel »Isländische Gegenwartsliteratur und die neuen Medien« (S. 378–389) verlegt sich Glauser darauf, stärker deskriptiv auf Einzelwerke von Autoren einzugehen. Thematisiert werden zudem der Beginn der queer-Literatur, der Einfluss des Pop und die erfolgreiche isländische Kriminalliteratur. Erst diese jüngste Literatur habe es laut Glauser geschafft,

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sich von der früher als erdrückend wahrgenommenen Tradition zu emanzipieren, [so] dass sie mit dieser Tradition inzwischen ironisierend umgehen kann, ohne sie ganz zu verleugnen (S. 386).
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Nordeuropäische Supplementliteraturen?

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Wie anfangs erwähnt schließen sich an die chronologisch untergliederte Gesamtdarstellung der skandinavischen Literatur im engeren Sinn vier Kapitel an, welche die Entwicklung der färöischen, finnischen, saamischen und grönländischen Literatur skizzieren. Der Einleitungsabschnitt des von Malan Marnersdóttir verfassten Kapitels zu den Färöern (S. 390–408) bietet zunächst Zahlen zu ihrer Besiedelung sowie Kurzinformationen zur Sprach- und Literaturentwicklung. Danach ist der Text vierteilig. Zunächst wird auf Mittelalter und Frühe Neuzeit eingegangen, leider in äußerst knapper Form, so dass kaum mehr als eine Erwähnung der vertretenen Textgattungen und eine Nennung weniger Beispiele geboten wird, und schon ist der Text im 19. Jahrhundert und bei der Nationalromantik angelangt. Der nächste Abschnitt zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fokussiert aus postkolonialistischer Perspektive auf das Verhältnis zwischen der dänischsprachigen und der entstehenden färöischsprachigen Literatur. Erwartungsgemäß erhalten Moderne und Gegenwartsliteratur den meisten Raum in diesem Kapitel, wobei erfreulicherweise auch auf die aktuelle Medienlandschaft eingegangen wird: So erhält der Leser Informationen über färöisches Radio und Fernsehen ebenso wie Zahlenangaben aus dem Druck- und Verlagswesen. Auf diese Weise wird die Darstellung der literarischen Werke und Autoren sinnvoll ergänzt. Neben der in der Bibliographie bereits angegebenen Prosaanthologie, die von Stössinger und Dömling 2006 herausgegeben wurde, sei hier übrigens auf eine weitere Lyrikanthologie verwiesen, die nach Drucklegung der Skandinavischen Literaturgeschichte erschien: Frá Áarstovubrøðrunum til Tórodd – forøysk yrking í hundrað ár. Von Djurhuus bis Poulsen – färöische Dichtung aus 100 Jahren. 1 Sicherlich im Sinne der Überlegungen im Vorwort geht Stefan Moster vor, der in seinem Kapitel zur finnischen (genauer: finnischsprachigen) Literatur (S. 409–446) in den Abschnittsüberschriften auf konkrete Jahreszahlen verzichtet und stattdessen Entwicklungslinien anzeigt. Nach der Einleitung, die sich vorwiegend mit dem Problem der finnisch-schwedischen Zweisprachigkeit beschäftigt, bietet Moster einen chronologisch geordneten Überblick über die Entwicklungen »Von den Anfängen bis zur Entstehung einer literarischen Kultur«, von der mündlichen Volksdichtung über »Bibel und Fibel«, Cajanus und Porthan bis an die Grenze zum 19. Jahrhundert. »Der nationale Umbruch und die neue Funktion der Literatur« geht selbstverständlich auf Kalevala, Kanteletar und die finnische Sprachpolitik ein; »Vom ersten Roman zur modernen Literatur« beginnt erwartungsgemäß mit Aleksis Kivis Roman Seitsemän veljetä (1870, Die sieben Brüder) und beschreibt das Wachstum der finnischen Literatur bis in die 1930er Jahre. Der abschließende Abschnitt »Von der Etablierung des Modernismus zur literarischen Pluralität« spannt äußerst knapp – vielleicht etwas zu kurz gefasst – einen Bogen von den Kriegsjahren bis in die Gegenwart. Schon der Titel verweist hier auf das Problem, diese neueste Literatur zu kategorisieren. Es gelingt Moster allerdings, zumindest knappe Hinweise auf Entwicklungstendenzen zu geben, die wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts beobachten können.

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Das von Vuokko Hirvonen stammende Kapitel zur saamischen Literatur (S. 447–462) ist leider der schwächste Beitrag des Bandes. So fehlen Definitionen der saamischen Literatur sowie Grundinformationen, die der vermutlich wenig vorgebildete Leser gerne gehabt hätte: Eine Verortung der Literatur und der Sprache etwa in der (Dialekt-)Geographie hätte man sich gewünscht, so wie es das folgende Kapitel zur grönländischen Literatur bietet, oder auch eine genauere Definition der Form des typisch saamischen Jojks, die lediglich als ›traditionell‹ (S. 448) beschrieben wird. Was heißt das konkret? Die Nennung vieler Autoren (vgl. z.B. den Katalog auf S. 452) und Werke auf Kosten der gründlicheren Beschreibung weniger herausragender Werke, wie sie sonst in den anderen Kapiteln des Bandes praktiziert wird, vermittelt zwar einen Eindruck von der Vielfalt und dem Ausmaß der saamischen Literaturproduktion, hat ansonsten aber kaum Informationswert für einen des Saamischen nicht mächtigen Lesers. Mit der fehlenden Xenoperspektive auf die beschriebene Literatur mag es zusammenhängen, dass bei Hirvonen Elemente eines theoretisch bedenklichen Kulturessentialismus zu erkennen sind, wie sie leider viel zu häufig in der Forschung zur saamischen Kultur anzutreffen sind.

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Ganz anders hingegen präsentiert sich der der Beitrag von Kirsten Thisted über die derzeit andere emergent literature in Nordeuropa, über die grönländische Literatur (S. 463–477). Einleitend bietet sie einen knappen Überblick über die Einteilung des Grönländischen in verschiedene Dialekte und die Sprecherzahl, so dass man einen Eindruck vom primären Verbreitungsgebiet dieser Literatur erhält. Die eigentliche Darstellung ist dreigeteilt. Informiert wird zunächst über »Traditionelle Formen des Erzählens«; die anderen beiden Teile sind zeitlich aufeinanderfolgend (1910–70, 1970–2000) und bieten zentrale Namen und Daten der grönländischen Literatur, wobei durchweg eine postkolonialistische Perspektive angelegt wird.

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Gliederungsproblematik

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Es kann kein Zweifel daran herrschen, dass die reich illustrierte Skandinavische Literaturgeschichte, welcher der Herausgeber Glauser in seinem Vorwort bescheidenheitstopisch einen »Versuchscharakter« attestiert (S. XVII), für viele Jahre das neue deutschsprachige Standardwerk zu den Literaturen Nordeuropas sein wird. Der souveräne Überblick über ihr Material, den alle Beitragenden in ihren Kapiteln demonstrieren, ist nur zu bewundern. Das literaturhistoriographische, literaturhistorische und literaturtheoretische Niveau ist durchweg hoch. Dennoch fordert die Skandinavische Literaturgeschichte auch zu einigen kritischen Bemerkungen heraus.

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Die Einbeziehung der färöischen, finnischen, saamischen und grönländischen Literatur ist selbstverständlich politisch höchst korrekt, und die Einzelkapitel zu diesen Literaturen können trotz ihrer Kürze als erster Zugang dienen, der durch die in der Bibliographie angegebenen Anthologien und Sekundärliteratur vertieft werden mag. Aber während die Einbeziehung der färöischen Literatur sprachlich und die der finnischsprachigen institutionell durch entsprechende Institute in Köln, Greifswald und Berlin gerechtfertigt erscheint, könnte eine kolonialistisch anmutende Subsumierung der saamischen und grönländischen Literatur unter eine ›skandinavische‹ Literaturgeschichte durchaus Argwohn erwecken. Schließlich hat sie unseres Wissens nichts mit der Unterrichtswirklichkeit der deutschsprachigen Skandinavistik zu tun – nicht von ungefähr kommen die Verfasser dieser Beiträge selbst aus den beschriebenen Kulturen. Dass die Skandinavische Literaturgeschichte strukturell in einen ›Hauptteil‹ und vier Einzelkapitel zerfällt, hat leicht nachvollziehbare Gründe (begrenzte Kompetenzen der Beiträger, Ungleichzeitigkeit der literarischen Entwicklungen in den verschiedenen Kulturräumen), verstärkt aber auch den sicherlich nicht gewünschten Effekt, die färöische, finnische, saamische und grönländische Literatur eben nur als (nicht dekonstruktivistisch verstandene) Supplementliteraturen zu kategorisieren.

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Eine nicht ganz geglückte Zwischenstellung nimmt die Präsentation der isländischen Literatur ein. Fast könnte man Glausers den ›großen‹ Literaturkapiteln nachgestellte Teilkapitel zur isländischen Literatur als eigene kleine Literaturgeschichte lesen, wenn nicht durch die Einbindung der isländischen Literatur in den Fließtext der Kapitel zu »Romantik – Biedermeier – Poetischer Realismus« und zur »Moderne im Durchbruch« diese ›Literaturgeschichte in der Literaturgeschichte‹ zweimal unterbrochen würde. Diese unterschiedliche Handhabung der einzelnen Epochen ist verständlich, da die Anzahl der Forscher, die neben den festlandskandinavischen Literaturen auch noch die isländische Literatur im engeren Blickfeld haben, sicher sehr gering ist. Doch verwirrt es, wenn im Inhaltsverzeichnis zu den beiden oben genannten Kapiteln keine Appendices zu Island verzeichnet sind. Der unbedarftere Leser könnte fatalerweise auf den Gedanken kommen, dass die isländische Literatur ausgerechnet zwischen 1800 und 1910 zum Stillstand gekommen wäre. Im Vorwort findet sich leider weder ein Hinweis geschweige denn eine Begründung zu dieser unterschiedliche Handhabung. 2

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›Moderne‹ als zentrales Narrativ?

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Etwas problematisch erscheint auch die Fixierung auf die Begriffe der ›Moderne‹ und des ›Modernismus‹ in den Kapitelüberschriften: Auf »Die Moderne im Durchbruch (1870–1910)« folgt die »Klassische Moderne (1910–1940)« und der »Modernismus (1940–1980)«, so dass gleich 110 Jahre skandinavischer Literaturgeschichte unter dem Begriffspaar ›Moderne‹ / ›Modernismus‹ rubriziert werden. Auch hier liegen die Gründe für die Wahl der Kapiteltitel auf der Hand: Die skandinavischen Literaturen werden so in einer europäischen Entwicklung situiert. Dennoch wird hier durch die bloße Abfolge der Titel eben jene »finalistisch-teleologische Argumentation« (S. XVI) suggeriert, von der Glauser sich im Vorwort auch im Namen der übrigen Beitragenden zu Recht distanziert. In den Beiträgen selbst, dies sei unbedingt hinzugefügt, ist keine exklusive Fixierung auf die Moderne und den Modernismus zu finden, wie sie durch die Titel nahegelegt wird. So schreibt Thomas Seiler z.B. in seinem Kapitel mit der Überschrift »Modernismus«: »Überblickt man die skandinavischen Literaturen in der Zeit zwischen 1940 und 1980, fällt auf, dass allen modernistischen Formelementen zum Trotz eine markante realistische Tradition nie abriss« (S. 316) – und entsprechend gibt es auch ein Unterkapitel zu »Konfrontation und Engagement«. Aber die plakative Kapitelüberschrift »Modernismus« lässt wahrhaftig nicht vermuten, dass hierunter Werke wie Jan Myrdals Rapport från kinesisk by (1963) oder Sara Lidmans Gruva (1968) behandelt werden.

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Autoren‑ und Werkauswahl

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Bereits von anderer Hand kritisch angemerkt worden ist die Auswahl der präsentierten Autoren und Werke. So hat sich Lars Lönnroth in einer streckenweise etwas herablassenden Rezension in Svenska Dagbladet vom 08.06.2007 darüber mokiert, dass Tomas Tranströmer fehle. Sein Name lässt sich problemlos um zahlreiche weitere ergänzen wie Jeppe Aakjær, Marie Bregendahl, Edvard Hoem, Harald Kidde, Hans E. Kinck, Martin Koch, Torgny Lindgren, Ambrosius Stub, Vilhelm Topsøe oder Gustav Wied. Göran Tunströms Name fällt einmal en passant in einem Abschnitt zur isländischen Literatur (S. 378), Hjalmar Söderbergs Romane Martin Bircks ungdom (1901) und Doktor Glas (1905) bleiben ebenso unerwähnt wie Johannes V. Jensens Den lange Rejse (1908–22). Kinderliteratur fehlt fast durchweg; das literarische Genre des Drehbuchs wird komplett ignoriert. So bedauerlich all diese Auslassungen unzweifelhaft sind und so sehr man im Einzelfall ihre Berechtigung diskutieren kann und muss, so unumgänglich sind sie doch generell in einer einbändigen Literaturgeschichte, die keinen (ja auch in vielbändigen Werken unerfüllbaren) Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann oder will. Die Skandinavische Literaturgeschichte vermittelt primär einen Überblick über Perioden und Epochen der nordeuropäischen Literaturen, der literaturgeschichtliche Zusammenhänge erkennen lassen soll, und eignet sich weniger als Handbuch zum Nachschlagen einzelner Werke oder Autoren (vgl. hierzu auch die Einlassungen des Herausgebers auf S. XV). Zu Hallgrímur Pétursson beispielsweise, dem großen Barockdichter Islands, finden sich Einträge an mehreren Stellen, ohne dass irgendwo ausführlicher auf sein Gesamtwerk eingegangen würde. Wirklich stiefmütterlich bzw. stiefväterlich behandelt erscheint uns allerdings das Werk Karen Blixens, deren Konterfei zwar den Umschlag schmückt, die aber auf einer Dreiviertelseite (S. 280 f.) kürzer als z.B. Lars Ahlin (S. 283 f.) abgehandelt wird.

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Uneinheitlichkeit der Kapitel

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Dass eine von diversen Autoren geschriebene Literaturgeschichte heutzutage nicht mehr einem durchgehenden theoretischen Paradigma verpflichtet sein kann, liegt auf der Hand. Die einzelnen Kapitel unterscheiden sich allerdings auch in ihrem inneren Aufbau deutlich voneinander, selbst wenn das Grundmuster überall durchscheint: Auf einen Einleitungstext folgen im Regelfall drei bis fünf thematische Abschnitte, innerhalb derer dann häufig autororientiert gearbeitet wird. Diese prinzipiell diskursive Organisation der Literaturgeschichte wird allerdings unterschiedlich konsequent umgesetzt. Am radikalsten ist sie durchgeführt worden in Wischmanns Abschnitt zur »Gegenwartsliteratur« und in Müller-Willes Abschnitt zu »Romantik–Biedermeier–Poetischer Realismus«. Während sie bei Wischmann vor allem vom Material her diktiert zu sein scheint, da in der Gegenwartsliteratur nun einmal keine abgeschlossenen Verfasserschaften zu präsentieren waren, ist die diskursive Organisation bei Müller-Wille wohl eher dem Wunsch geschuldet, wenn nicht eine poststrukturalistische Literaturgeschichte (die wohl ein Unding ist), so doch eine Literaturgeschichte unter poststrukturalistischen Vorzeichen zu schreiben. Seine radikale Verabschiedung des Autors als literaturhistoriographisches Ordnungsprinzip führt einerseits zu überzeugenden, manchmal auch überraschenden Querverbindungen zwischen den behandelten Texten, hat andererseits aber auch die ja beabsichtigte Folge, Texte Diskursen und nicht Autoren zuzuordnen. So müssen die Leser sich bei Müller-Wille Informationen zum Werk so zentraler Autoren wie Almqvist oder Oehlenschläger an insgesamt fünf Stellen im Text zusammenlesen, während z.B. Hoff oder Strauß in ihren Beiträgen stärker den Autor als Ordnungsprinzip beibehalten haben.

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Wer ist das Zielpublikum?

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Nicht zuletzt im Kontext der Präsentationsform stellt sich die Frage, an wen sich diese Literaturgeschichte eigentlich richtet. Der Herausgeber führt hierzu im Vorwort aus: »Die Darstellung sollte einerseits einem nicht-spezialisierten Publikum zugänglich und andererseits doch auf einem auch gegenüber Fachkollegen vertretbaren Forschungsstand gehalten sein.« (S. XVI) Während letzteres durchweg erreicht worden ist, darf man bezweifeln, ob ersteres in allen Kapiteln realisiert worden ist. Setzt man die Skandinavische Literaturgeschichte im skandinavistischen Bachelorunterricht ein, wird schnell deutlich, wie unterschiedlich schwierig die Kapitel für die Studierenden, die sicherlich die wichtigste Käufergruppe dieses Bandes darstellen, zu verstehen sind. Der Bogen spannt sich nach unserer Unterrichtserfahrung von leichtverständlichen Kapiteln wie die von Glauser, Hoff oder Seiler über mittelschwere wie das Kapitel von Heitmann hin zu Müller-Willes Kapitel, das eher fellows als Studierende adressiert.

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Fazit

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Einleitend hatte der Herausgeber Glauser den Wunsch geäußert, dass die Skandinavische Literaturgeschichte »zur Beschäftigung mit der faszinierenden Vielfalt der vergangenen und gegenwärtigen literarischen Kulturen in Skandinavien« (S. IX) anregen solle. Dieses Minimalziel wird der Band mühelos erreichen, denn Anregung zum Weiterlesen gibt der Band genug. Zu wünschen wäre obendrein, dass dieser Band gerade in Zeiten eines Vernetzungs‑ und Umstrukturierungsdruckes zur Konsolidierung des fortwährend institutionell bedrohten ›kleinen Faches‹ Skandinavistik mit seinem riesigen Gegenstandsbereich beitragen möge. Darf man sogar hoffen, dass dieser Band, der nicht zuletzt nachdrücklich die Leistungsfähigkeit der deutschsprachigen Skandinavistik demonstriert, auch außerhalb des deutschen Sprachraums wahrgenommen und rezipiert werde? Sieht man von Régis Boyers wahrhaftig nicht vergleichbaren einbändigen Histoire des Littérature scandinaves von 1996 sowie von den eingangs erwähnten Grundzügen der skandinavischen Literaturen ab, war die letzte synthetisierende skandinavische Literaturgeschichte die von Mogens Brøndsted herausgegebene zweibändige mit dem Titel Nordens litteratur. Sie erschien 1972, also vor 37 Jahren. Sollte die Skandinavische Literaturgeschichte, sofern die Lesekenntnisse des Deutschen es noch zulassen, da nicht auch eine Funktion in Nordeuropa erfüllen können?

 
 

Anmerkungen

Frá Áarstovubrøðrunum til Tórodd – forøysk yrking í hundrað ár. Von Djurhuus bis Poulsen – färöische Dichtung aus 100 Jahren Färöisch – (dänisch) – deutsch. Eine Anthologie Leipzig: Engelsdorfer, 2007.

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Zur Ergänzung der Bibliographie sei hier eine inzwischen erschienene umfangreiche isländische Literaturgeschichte in einer europäischen Verkehrssprache angeführt: Daisy L. Neijmann (Hg.): A History of Icelandic Literature. Lincoln: Univ. of Nebraska Press 2006 (= Histories of Scandinavian Literature, Bd. 5).   zurück