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Kristeva schreiben

Altes und Neues

  • Eva Angerer: Die Literaturtheorie Julia Kristevas. Von Tel Quel zur Psychoanalyse. Wien: Passagen 2007. 168 S. Paperback. EUR (D) 19,90.
    ISBN: 978-3-85165-692-3.
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Orte

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Julia Kristeva hat in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft nicht gezündet. Die langjährige Abhängigkeit des deutschen Theoriemarktes vom amerikanischen als Grund für eine weitgehend ausgebliebene deutsche Kristeva-Rezeption anzuführen, scheidet aus, da die Autorin selbst in Zeiten der Posttheorie und Rephilologisierung in den USA nach wie vor einigermaßen hoch im Kurs steht. Die Frage, warum Kristeva den Weg über den Rhein noch nicht einmal über den Umweg über den Atlantik geschafft hat, ist dabei nur schwer verbindlich zu klären. Ihre streckenweise manifeste Kryptik mag hier eine Rolle gespielt haben, mehr noch, oder zumindest zusätzlich dürften es allerdings die schwierigen, nichts weniger als »handfesten« Brüche innerhalb ihres theoretischen wie literarischen Werkes gewesen sein, die einer weitläufigeren Auseinandersetzung abträglich waren und sind. Kaum nämlich hat der Leser einen Text nach oft qualvoller und wiederholter Lektüre auf den einen oder anderen Formalismus hin festgelegt, schon fordert ihm der nächste die vertrackte, so gut wie immer auch terminologische, in jedem Fall aber anstrengende Revision ab. Das bisher vorliegende Werk Kristevas scheint ein Werk voller »Kehren«, wie gemacht für einen so intimen wie überschaubaren Leser-Kreis.

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Proliferationen

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Dies führt nun zu einem zwar nicht sonderlich überraschenden, aber letztlich doch paradoxen Ergebnis. So wenige Kristeva-Leser es gibt, so viele Kristeva-Leser gibt es, die über Kristeva schreiben. Und die Gattung, in der sie vorzugsweise über Kristeva schreiben, ist und bleibt seit Jahren die Werk-Monografie. Methodisch ist dies insofern interessant, als einem schon quantitativ gewaltigen Textkonvolut, das sich in immer neuen Anläufen an Produktivitäten wie Gefahren einer Dezentrierung des Subjekts hermetisch-performativ abarbeitet, mit einem Genre begegnet wird, das solche Dezentrierungsapotheosen metadiskursiv – und das kann in diesem Fall offenbar nur heißen: maximal rezentrieren, entperformatisieren und eben althermeneutisch verfügbar machen muss. Die gelungene Monografie kann letztlich nichts anderes sein als eine Mixtur aus Geistesgeschichte und vulgarisiertem Bildungsroman. 1

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Lässt man sich auf dieses Spiel ein, so wird man allerdings feststellen dürfen, dass kaum eine Theorie bessere, sorgfältigere und (wie gesagt wird) verdienstvollere Monografien hervorgebracht hat als jene Julia Kristevas. Das neueste und doch immerhin auch bereits dritte deutschsprachige Kristeva-Buch, 2 das vor wenigen Monaten Eva Angerer vorgelegt hat, bildet in diesem Kontext denn auch (so gar) keine Ausnahme.

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Zeichenkritik ohne Psychoanalyse

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Angerer unterteilt das Werk Kristevas grob gesagt in zwei Blöcke. Kommen die früheren sprach- und literaturtheoretischen Arbeiten noch ohne psychoanalytische Unterfütterung aus, und ist ein impliziter Drang nach Psychoanalyse ihnen letztlich doch schon immanent ( – und freundlich grüßt der Bildungsroman), so verschafft erst das Studium Sigmund Freuds und vor allem natürlich Jacques Lacans in den siebziger Jahren ihren Überlegungen ein irgendwie tragfähigeres Fundament.

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Das erste große Kapitel ist besonders deshalb lesenswert, weil es eine konzise Geschichte der »Tel Quel«-Gruppe bietet und Kristeva souverän innerhalb dieser Geschichte zu situieren versteht. Dabei vermag es Angerer mit wenigen Strichen und wahrhaft atemberaubender Klarheit, Affinitäten wie Unterschiede der Gruppe zu so verschiedenen Schulen und Strömungen wie Surrealismus, Formalismus, Strukturalismus, Dekonstruktion und Nouveau Roman zu konturieren.

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Den Fluchtpunkt ihrer Überlegungen bildet die Reflexion des Verhältnisses zwischen einem zu depotenzierenden Subjekt und einer zu politisierenden Avantgarde, die Kultur- und Gesellschaftskritik als Kritik am sprachlichen Zeichen betreibt. So differenziert, komplex, umfassend und vielleicht sogar elaboriert Kristevas erste Schritte an einer Arbeit am Zeichenbegriff (sie versuchte sich zu dieser Zeit und diesem Zweck bekanntlich selbst in der Metamathematik) auch gewesen sein mögen, so sollte man rückblickend doch nicht übersehen, dass das politische Programm (vulgo: Maoismus), auf das sie zuliefen, letztlich innerhalb der wohltemperierten Grenzen des linguistic turn verblieb – und dass sie heute genauso historisch und abgestanden anmuten wie der Sprechakt, der ihnen dies zum Vorwurf macht. Möglicherweise hat sich Angerer deshalb eigene Kritik und Darstellung fremder Kritik hier gleichermaßen versagt.

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Selbstverständlich kommt auch sie in ihrem Überblick über die frühen Jahre nicht umhin, Kristevas Intertextualitäts-Begriff ausgiebig zu beleuchten und einmal mehr dessen Weiterleben in der Literaturwissenschaft als grob missverständlich zu charakterisieren. Natürlich meint Intertextualität gerade keine »bewußt gewählte Technik der Collage oder [ein] Zitieren anderer Texte«. (S. 44) Vielmehr hebt der Begriff ab auf die »Anerkennung der poetischen Sprache als ein autonomes System, das sich in Wechselspiel mit anderen Texten, und hierzu gehört auch die Geschichte, die Gesellschaft und jegliche Form der Kultur, befindet.« (ebd.)

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Diese Bemerkungen kommen zu lapidar daher. Dass Kristeva nämlich, und dies hat sie meines Wissens nie revidiert, jenseits von Werkidentität, Autorschaft usw. emphatisch (wenn auch nur selten explizit, geschweige denn systematisch) festhält an der Vorstellung ästhetischer und poetischer Autonomie, versteht sich gerade mit Blick auf die französische Theoriebildung der letzten Jahrzehnte keineswegs von selbst. Ihre fortwährende Reflexion verschiedener Avantgarde-Bewegungen, ihre beharrliche Weigerung, die postmoderne Literatur anzuerkennen (oder auch nur ernst zu nehmen), sowie ihre wahrhaft kulturkonservativ zu nennende Kritik an den Bilderfluten der sogenannten Mediengesellschaft dürften nun aber gerade hier ihren Ort haben. Eine systematische Rekonstruktion und Kontextualisierung (Adorno!) ihres Autonomie-Begriffs wäre meines Erachtens denn auch ein dringendes Desiderat der Forschung, und sicher ließe sich sogar eine wiederum »verdienstvolle« ganze Monografie an diesem Problem entlang schreiben.

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Kulturkritik mit Psychoanalyse

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Auch der zweite Teil der Studie besticht durch Luzidität in der Detailbeobachtung. Kristevas Meisterkonzepte wie das Semiotische und das Symbolische, der Genotext und der Phänotext, die Thesis und die Chora werden knapp auf ihre konzeptionellen Vorstufen (Zeichen, Symbol, Intertextualität etc.) hin transparent gemacht, in ihrer psychoanalytischen Ausformulierung exakt und unprätentiös beschrieben und auf ihr literatur- und kulturkritisches Potenzial hin befragt. Da Kristeva nun die Materialität des sprachlichen Zeichens (,semiotisch‘) wie die Rigidität der symbolischen Ordnung und somit im weitesten Sinne die Bedeutungsdimension von Sprache gendertechnisch zuschneidet – das Semiotische wird müttlerlich-weiblich, das Symbolische väterlich-männlich kodiert –, muss auch Angerer die feministischen Erregungen besprechen, die dies zwangsläufig auf den Plan rief.

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Zwar weist sie treffend darauf hin, dass Kristeva solche Zuschreibungen gerade nicht anatomisch verdinglicht, doch wird man diese Passagen, die in der prominenten Kristeva-Kritik Judith Butlers gipfeln, als den schwächsten Teil ihres Buches betrachten müssen. Das Grundproblem in diesem Zusammenhang besteht grob gesagt darin, dass Kristeva sich nicht recht entscheiden kann, ob und in welchem Ausmaß eine weiblich-semiotische Subversion des Symbolischen (und das heißt immer auch: des Subjekts) ästhetisch und gesellschaftlich wünschenswert scheint oder nicht. Im Rahmen genau dieser Schwierigkeit bewegt sich auch der überwiegende Teil der zu Beginn erwähnten »Kehren« ihres Gesamtwerks. Butler hat zu ihrer Zeit diese Widersprüchlichkeiten in den Mittelpunkt einer streckenweise zutiefst polemischen Auseinandersetzung gerückt, 3 dabei aber vor allem die dialektische Reflexion des Symbolischen und des Semiotischen bei Kristeva verkannt. Dies deutet zwar auch Angerer an, doch referiert sie Butler eher, als dass sie sie mit Kristeva in einen produktiven Konflikt zu bringen versuchte. 4 Vor allem der unbefangene Leser, und an diesen sind Monografien nun einmal primär gerichtet, wird kaum nachvollziehen können, auf welche Seite sich die Autorin hier eigentlich mit welchen Argumenten schlägt. Überhaupt eignet der gesamten Studie (auch Kristeva gegenüber) eine Urteilsscheu, die in bedauerlichem Kontrast zu der Umsicht und Klarheit der im engeren Sinne paraphrasierenden Passagen steht.

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Liebe, Ekel und Melancholie

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Die ob ihrer heuristischen Brauchbarkeit oder vielleicht sogar Anwendbarkeit für die Kulturwissenschaft und -theorie in Amerika besonders erfolgreichen Texte zu Liebe, Sexualität, Ekel, Melancholie und Depression, lässt Angerer geduldig Revue passieren. Ohne jede Frage stellen ihre Ausführungen wiederum eine exzellente Einführung in ein komplexes Themengebiet dar und sind als Lesehilfen auch für Fortgeschrittene bestens geeignet. Auch zeigt sie hier (und einmal mehr überzeugend), dass es psychoanalytisch gesprochen letzten Endes der Todestrieb ist, den Kristeva spätestens seit der »Revolution der poetischen Sprache« immer wieder denkt und umdenkt. Diskurshistorisch situiert werden müsste Kristeva meines Erachtens aus diesem Grund denn auch nicht – wie es Butler und der Feminismus aufgrund ihrer Mütterlichkeitsphantasmen vorschnell taten – mit dem späten Foucault der Bio-Macht, sondern mit dem mittleren Foucault der Tiefenepisteme. Kristevas von der Todestrope ausgehende wie auch auf dieselbe zulaufende neurofatalistische Kunstdoktrin könnte sie somit schärfer lesbar machen als wichtige theoretische Figur eines schlechterdings nicht endenden 19. Jahrhunderts.

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Schwammig bleiben aber auch hier Angerers Gedanken zum Ort der Literatur bei Kristeva. Zwar betont sie wiederholt (wie Kristeva selbst auch), dass die Autorin literarische Texte nicht als »Illustration psychoanalytischer Theorien« (S. 82) begriffen wissen will. Wenn aber das »Gelingen literarischer Erneuerungen an das Gelingen des psychoanalytischen Diskurses selbst« (ebd.) gekoppelt werden soll, stellt sich doch die naive Frage, wer – außer Kristeva – eigentlich der diskursive Statthalter oder Träger einer solchen Form von poetischer Autonomie sein könnte. Dies mag zwar ein Grundproblem der »Ästhetischen Theorie« sein, doch lohnte es sich in jedem Fall, länger als einen Satz über dasselbe nachzudenken. Eine »Literaturtheorie« Kristevas, wie sie der Titel ankündigt, wird bei Angerer jedenfalls nur in Umrissen sichtbar, auf den wesentlichen Fragen lässt sie den Leser letztlich sitzen.

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Die Romane

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Ein nicht geringes Verdienst Angerers (im Gegensatz zu ihren meisten Vorläufern) besteht darin, dass die kristevaschen Romane ihr nicht einfach nur peinlich sind. Zwar schleicht sich hier manchmal eine leise und wohltuende Kritik ein, die den anderen Kapiteln leider fehlt, doch gelingt ihr zweifellos eine zumindest partiell stimmige Verortung der literarischen Texte innerhalb des Gesamtwerkes. Zwar diskutiert sie nicht ausgiebig – wie es spätestens hier nahe liegend wäre – das Autonomie-Problem, doch macht sie mithilfe von Kristevas Proust-Buch plausibel, dass die Romane gelesen werden wollen als eine Art Ausbruchversuch aus Moderne und Postmoderne gleichermaßen. So unscharf der Moderne-Begriff Angerers (und Kristevas) auch letztlich bleibt, so wird doch deutlich, dass diese Texte ganz klar gegen insbesondere narratologisch verspielte Formen der postmodernen Literatur ankämpfen. Dies versteht sich nun aber schon deshalb von selbst, weil es keinem Psychoanalytiker der Welt gelingen dürfte, eine veritable Postneurose zu denken.

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Fazit, Ausblick

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Gegen Lesehilfen schwieriger Werke ist sicher nichts einzuwenden, wenn sie so gut gemacht sind wie Angerers Kristeva-Buch. Kristeva angemessener wären meines Erachtens aber längst solche Studien, die sich nicht nur mit detailversessenen Paraphrasen ihrer Texte um ihre so genannte Aktualität bemühen, sondern sie epistemologisch oder kulturhistorisch als eine der letzten großen Denkerinnen jenes nicht vergehenden Zeitalters lesbar machten, das man gemeinhin »Moderne« nennt. Im Idealfall könnte man dann wohl eine Menge von ihr lernen.

 
 

Anmerkungen

Als nach wie vor fulminante Ausnahme mag gelten: Geoffrey Bennington u. Jacques Derrida: Jacques Derrida. Paris: Seuil 1991.   zurück
Vgl. Inge Suchsland: Kristeva zur Einführung. Hamburg: Junius 1992; Bettina Schmitz: Arbeit an den Grenzen der Sprache. Julia Kristeva. Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag 1998. – Aus der umfangreichen angelsächsischen Literatur seien nur drei weitere Beispiele genannt: Kelly Oliver: Reading Kristeva. Unraveling the Double-bind. Bloomington: Indiana University Press 1993; Anne-Marie Smith: Julia Kristeva. Speaking the Unspeakable. London u. Sterling: Pluto Press 1998; Noelle McAffee: Julia Kristeva. New York u. London: Routledge 2004.   zurück
Vgl. Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York u. London: Routledge 1999 [zuerst 1990], S. 101 ff.   zurück
Dies haben insbesondere unternommen: Bettina Schmitz: Arbeit an den Grenzen der Sprache, S. 198 ff.; Claude Haas: Arbeit am Abscheu. Zu Thomas Bernhards Prosa. München: Fink 2007, S. 35 ff.   zurück