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Visualität als Schnittstelle -
Schnittstellen des Visuellen

  • Sandra Poppe: Visualität in Literatur und Film. Eine medienkomparatistische Untersuchung moderner Erzähltexte und ihrer Verfilmungen. (Palaestra. Untersuchungen zur europäischen Literatur 327) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 334 S. Broschiert. EUR (D) 54,90.
    ISBN: 978-3-525-20600-3.
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Intermedialität / Visualität

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In den letzten zwei Jahrzehnten ist eine mehr oder weniger explizite, jedoch offensichtlich weiterhin anhaltende Tendenz literaturwissenschaftlicher Publikationen zur Intermedialitätsproblematik – von rein narratologischen über kognitionswissenschaftlichen bis hin zu kultur- und medienwissenschaftlichen Ansätzen – zu beobachten 1 . Allerdings stößt das Konzept Intermedialität zugleich auch auf Skepsis, sofern die methodischen Ansätze seiner Annäherung so weit auseinanderdriften, dass ein integrativer (Ein-)Blick auf (in) die entsprechende Forschungslandschaft kaum möglich ist. Es ließe sich sogar literaturwissenschaftlichen Arbeiten über die Intermedialitätsproblematik – vor allem im Zeichen der Medienskepsis und Visualitätskritik – unterstellen, sie begegneten der begrifflichen Unschärfe mit einer entsprechend willkürlichen Kombination von Bezugstexten und fragmentarischen Theorieansätzen, wodurch ihre Ergebnisse bestenfalls von postmoderner Beliebigkeit zeugten.

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Sandra Poppe versucht dieses methodenbezogene Risiko im Rückgriff auf die Visualitätsproblematik sowie auf deren intermediales Potential insofern zu umgehen, als sie sich in der – aus ihrer Dissertation hervorgegangenen – Studie zum Ziel setzt, »im Bereich Literatur und Film eine allgemeine Definition von Visualität zu erarbeiten« (S. 13). In diesem Sinne greift sie nicht nur auf die intermedialitätsbezogene literaturwissenschaftliche Visualitätsdiskussion zurück; vielmehr zielt sie auf den Kernbereich dieser Problematik, nämlich auf die Frage der »schriftsprachliche[n] Darstellung visueller Wahrnehmung« (S. 31). Ihr Verständnis von Intermedialität hebt sich jedoch vom traditionellen Intermedialitätsverständnis dadurch ab, dass es auf einer Synthese von literaturwissenschaftlichen Intermedialitätsansätzen beruht. Durch einen sukzessiven Argumentationsmodus und über einen extensiven Einblick in die Begriffsproblematik hinaus wird Intermedialität in der Untersuchung folgendermaßen verstanden:

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Durch die Untersuchung des Medienwechsels und des Films als Zielprodukt dieses Prozesses [werden] einerseits die Spuren des einen Mediums im anderen verfolgt und mit der Erklärung von Visualität als einem die beiden Medien verbindenden Phänomen [werden] andererseits Übergänge und Schnittstellen zwischen Literatur und Film berücksichtigt. (S. 23)
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Eine Synthese beider Perspektiven sieht Sandra Poppe demnach in der »Erklärung der Visualität als einem die beiden Medien verbindenden Phänomen« (S. 23). Darin erblickt sie auch die Chance zu »ein[em] umfassende[n] Verständnis von Intermedialität« (ebd.). Bei ihrem Vorhaben handelt es sich nämlich implizit um einen Versuch, durch den Visualitätsbegriff die Intermedialität selbst neu zu konzeptualisieren und als Problem auszudiskutieren. Eine mögliche, zugespitzt formulierte These der Arbeit könnte somit lauten, dass ohne Visualität auch keine Intermedialität mehr beschreibbar ist, was von der Argumentationsführung selbst aus diplomatisch-taktischen Gründen nur angedeutet wird.

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Schnittstellen des Visuellen

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Die Arbeit weist die typische Struktur einer literaturwissenschaftlichen Arbeit auf, sie besteht nämlich aus einem theoretischen und einem analytischen Teil: Im theoretischen Teil wird von Intermedialität als Scharnierbegriff ausgegangen, der nicht mehr den Untersuchungsgegenstand ausmacht, sondern vielmehr die Auswahl so wie die Auseinandersetzung mit den Gegenständen bestimmt (Kapitel I, 1). An dieser Prämisse anschließend, widmen sich die Ausführungen einerseits der direkten Thematisierung, Vermittlung oder inhaltlichen Verarbeitung visueller Wahrnehmung und andererseits den optischen Sehmedien in der Literatur. Dabei verzichtet die Autorin darauf, Formen der Visualität, die Literatur und Film gemeinsam sind, erneut im Bereich der Narrativität zu suchen, die weithin als transmedialer Verknüpfungspunkt zwischen literarischem Text und filmischer Transformation gilt. Vielmehr rücken »visuelle Darstellungsweisen im Text [...], denen eine semantische und / oder strukturbildende Funktion zugewiesen werden kann« (S. 31) in den Vordergrund, insofern sie das Phänomen Visualität ausmachen. Anstelle des Erzählens tritt hier die Beschreibung, die bildliche Darstellung der fiktionalen Welt, das Zeigen von Räumen, Figuren und Objekten als »maßgebliche Gemeinsamkeit von Text und Film« (S. 313) und somit als vermeintlicher Erkenntnisgewinn der Arbeit. Zugleich wird auf die Differenz von Narration und Deskription so wie auf die dadurch für die Arbeit systematische Entscheidung für die Zentralperspektivierung der Deskription als explizite Prämisse der theoretischen Überlegungen näher eingegangen. Im Rahmen der Problematisierung vom Textverfahren der Deskription wird auf die Sonderstellung der Ekphrasis »als spezielle[r] Form der Objektbeschreibung [...], die sich auf die sprachliche Darstellung realer und fiktionaler visueller Kunstwerke bezieht« (S. 50), kurz eingegangen. Durch die relative Abgrenzung von Ekphrasis innerhalb der Beschreibungsproblematik erspart sich die Autorin somit, näher auf die Ekphrasis-Debatte einzugehen, die sich zum Teil auch durch die Differenz von Narration und Deskription verkompliziert 2 (Kapitel I, 2). Im weiteren wird den textuellen Verfahren und formalen Strategien visuellen Schreibens bzw. filmischer Visualität und filmischer Transformation literarischer Visualität nachgegangen (Kapitel I, 3). Durch den gesamten theoretischen Teil der Arbeit wird das nötige Beschreibungsinstrumentarium gewonnen, um das oft wilde Durcheinander von Motivforschung und Strukturanalyse zu trennen und eben dadurch fruchtbar aufeinander zu beziehen.

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Im analytischen Teil wird semantisierten Beschreibungen sowie Thematisierungen medialer Wahrnehmung in drei analytisch aufschlussreichen Kapiteln zu der jeweiligen osmotischen Beziehung zwischen modernen Erzähltexten und ihren Verfilmungen nachgespürt. Die explizit getroffene Entscheidung für die systematische Auseinandersetzung mit filmischen Adaptionen von Erzähltexten wird im Rückgriff auf die sonst gebräuchliche These legitimiert, dass »[d]urch die Gemeinsamkeit von Thema und Handlung in der literarischen Vorlage und ihrer Verfilmung [...] ein detailgenauer Vergleich im medialen Bereich ermöglicht (wird)« (S. 15). Außerdem wird dadurch das Übersetzungsverhältnis zwischen Literatur und Film fokussiert, das »als Prozeß des Übergangs zwischen den beiden Medien« (S. 90) die Problematisierung des Transformationsverfahrens in den Vordergrund sowohl der theoretischen Teils wie auch der analytischen Auseinandersetzung stillschweigend rückt. Im Analyserepertoire wird Marcel Prousts und Raoul Ruiz’ Le temps retrouvé durch ein analoges Transformationsverhältnis (Kapitel II, 2), Kafkas Der Proceß und Orson Welles’ Le Procès durch ein interpretierendes Transformationsverhältnis (Kapitell II, 3) und Joseph Conrads Heart of Darkness und Francis Ford Coppolas Apocalypse Now Redux durch ein freies Transformationsverhältnis (Kapitel II, 4) enggeführt. Dabei stehen verschiedene, für die jeweilige literarisch-filmische Doppelkonstellation relevante Aspekte von Visualität im Mittelpunkt, von der Visualisierung der Zeit über den Einsatz von optischen Geräten und die Raumbeschreibung bis hin zum Leitmotiv der Dunkelheit. Geleitet von der Hypothese gleicher Funktion dieser Aspekte trotz ihrer medialen Differenz, die im durchgehenden Verzicht auf Abbildungen vermittelt wird, wird die Darstellung von Visualität in Text und beschriebenem Bild vergleichend herausgearbeitet. Visuellen Beschreibungen wird hier zugesprochen, dass sie neben bloßer Anschaulichkeit »eine semantische und darüber hinaus strukturierende Funktion« (S. 87) für den jeweiligen Text besitzen. Mit dieser Annahme wird die Zusammenführung und somit Vergleichbarkeit literarischer und filmischer Visualität begründet, die sich in ihren Darstellungsmitteln grundsätzlich voneinander unterscheiden, jedoch analoge Semantisierungen erlauben; an der Engführung von Franz Kafkas Der Proceß und Orson Welles’ Le procès wird z. B. die Darstellung der Raumdimension sowohl im Text als auch im Film am deutlichsten:

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Der Text gibt visuelle Anregungen, die durch Kamera und Raumaufbau direkt umgesetzt werden können. Dabei wird trotz der visuellen Konkretisierung die Mehrdeutigkeit beibehalten. Die Raumsemantik ist in beiden Werken durch extreme Pole bestimmt. Der kleinste Raum deutet einen Identitäts- und Machtverlust an, der große Raum absolute Macht. (S. 216)
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Darüber hinaus erlaubt das Insistieren auf einer semantischen Funktion auch eine Abgrenzung von »mimetisch-anschaulichen« (S. 32) Formen der Visualität, die dann – bis auf kleine explizite Andeutungen (S. 60–61) im bloßen Rückgriff auf Roland Barthes’ effet du réel auf eine implizite Differenz zur vermeintlich realistischen Visualität – implizit die Argumentation durchzieht.

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Fazit

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Ihrem Desiderat angemessen, leistet die Analytik dieser Arbeit eine längst fällige Definition von Visualität; durch den Rückgriff auf den Visualitätsbegriff wird eine Schnittstelle zwischen Literatur und Film freigeschaltet, die medienkomparatistische Studien neu akzentuiert. Es handelt sich dabei um einen Versuch, durch den Visualitätsbegriff die Intermedialität selbst als Problem zu erfassen. Nun es ist nicht nur so, dass Sandra Poppe aus einer literaturwissenschaftlichen Position heraus Visualität als Schnittstelle beschreibt, sondern vielmehr, dass sie – quasi unhinterfragt – mithilfe eines analytischen Ansatzes die methodische Relevanz des Schnittstellenbegriffs einsetzt. Dadurch gelingt ihr ein methodischer Zugriff, der Visualität als Beobachtungsobjekt überhaupt erst konstituiert.

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Die Qualität der Arbeit besteht darin, dass sie Visualität als tertium comparationis zwischen Literatur und Film in ihren Fokus rückt. Dennoch bleibt die Frage, ob Sandra Poppe wirklich Fallstudien vorgelegt hat und sich ihr Begriffsinstrumentarium an anderen, sich nicht mehr durch Transformationsmomente verknüpfende Texte bewähren kann. Obwohl sie mehrfach kurze Rekurse auf weitere, über die Adaptionsverhältnis hinaus gehende literarische und filmische Beispiele anbietet, bleibt dabei allenfalls die Frage nach filmischen Schreibweisen aus diesem intermedialen Vergleich von Anfang an explizit ausgeschlossen (S. 26). Auch wenn die Autorin gerade im Fazit den mehr oder weniger filmischen Charakter der literarischen Texte vermerkt, so dass »die Vermutung nahe[liegt], dass die einzelnen Transformationstypen auch vom Vorlagentext und dessen visueller Struktur begünstigt sind« (S. 312). In diesem Sinne bleibt das systematische Potential des Schnittstellenbegriffs, auf den die Autorin selbst sowohl im theoretischen Teil (S. 30), bei der Darstellung ihres methodischen Vorgehens im Umgang mit ihren Analysegegenständen (S. 118) wie auch in ihrem Fazit (S. 318) gelegentlich rekurriert, relativ unterbelichtet. Positiv ausgedrückt: Sandra Poppes abschließender Hinweis darauf, dass »das [...] Phänomen der Visualität als intermedialer Schnittstelle weit über die untersuchten Medien Literatur und Film hinaus [geht]« (ebd.) eröffnet eine neue Perspektive auf eine der Literaturwissenschaft vertraute Diskussion über die Bedeutung von Visualität.

 
 

Anmerkungen

Bislang wurde in der Intermedialitätsdiskussion vorrangig Visualitätsforschung im Bereich der Bild-Text-Bezüge betrieben. Medienwissenschaftler wie J. Paech, P.V. Zima oder K. Prümm beschäftigen sich vorwiegend mit Literatur und Film, Photographie oder Malerei und auch von Seiten der Literaturwissenschaft stand bisher in Arbeiten von T. Eicher, W. Wolf, J. Helbig, V. Roloff und I. Rajewsky – um nur eine Auswahl zu nennen – fast ausschließlich Text-Bild-Phänomene im Mittelpunkt. Die vorliegende Arbeit steht in Kontinuität zu den genannten Titeln, denen sie durch ihre Argumentationsführung – auch wenn punktuell sich davon abhebend – jedoch zum größten Teil bestätigend anschließt.   zurück
D. P. Fowler: Narrate and Describe: The Problem of Ekphrasis. In: The Journal of Roman Studies 81 (1991), S. 25–35.   zurück