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Erzählen als vorweggenommene Rückschau

Über Mark Curries About Time

  • Mark Currie: About Time. Narrative, Fiction and the Philosophy of Time. (Frontiers of Theory) Edinburgh: Edinburgh University Press 2007. 192 S. Hardcover. USD 120,00.
    ISBN: 978-0748624249.
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Mark Currie zählt zu den wenigen Philosophen, die, obwohl fest in der Tradition begriffsanalytischer Reflexion verankert, den Spagat zwischen Logik, Erkenntnistheorie, Phänomenologie, Dekonstruktivismus und Literaturtheorie bzw. Narratologie wagen und meistern, ohne in den Gestus jenes postmodernen Essayismus zu verfallen, der es für erhellend hält, sich beim Denken (oder dem, was man dafür hält) zuschauen zu lassen. Kurz: wer stringente Argumentation sucht, wird sie bei Currie finden – was nicht heißen soll, dass man es hier mit einer hermetischen oder gar makellosen Form der Beweisführung zu tun hätte, sondern eben mit einer dem Ideal der Diskursivität verpflichteten. Das ist angesichts der Themen, denen Currie sich in seinen wichtigsten Beiträgen zur narratologischen Debatte im engeren Sinne gewidmet hat, durchaus keine Selbstverständlichkeit. Zu seinen Büchern zählen so wichtige Texte wie Postmodern Narrative Theory (1998), Difference (2004) und der von ihm herausgegebenen Band Metafiction (1995). Alle drei behandeln mit scharfsinniger Analytik philosophische Probleme und Konzepte, die in einer oberflächlichen Lektüre leicht zur Derridean hauntology (S. 1; zu Deutsch etwa »Derrida’sche Spuklehre«) degenerieren. Neben literaturtheoretischen Themen widmet sich Currie dabei zugleich literarischen Primärtexten; sein Interesse gilt hier hauptsächlich der (englischsprachigen) Gegenwartsliteratur.

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Zum Buch

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About Time versammelt nun, wie der Klappentext zutreffend verspricht, »ideas about time from narrative theory and philosophy« – dies jedoch nicht mit einem bloß kompilatorischen Anspruch, sondern durchaus vor dem Hintergrund einer das gesamte Buch organisierenden Kernthese. Mit ihr markiert Currie zugleich die Differenz seines Ansatzes gegenüber Paul Ricoeurs dreibändiger Studie Temps et Récit (1983–1985). Diese gilt nicht nur als Opus Magnum des französischen Philosophen und Literaturtheoretikers, sondern ist de facto unumgänglicher Bezugstext für jedes Nachdenken über die Frage der philosophischen Implikationen narrativer Zeitgestaltung wie narrativ vermittelter bzw. organisierter Zeiterfahrung.

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Curries These contra torrentem und damit contra Ricoeur lautet: das Erzählen stellt, unter dem Gesichtspunkt der Zeitlichkeit betrachtet, nicht primär ein Phänomen der Retrospektion dar, sondern vielmehr eines der Prospektion und Projektion. Nicht das Erinnern, die rückwärtsgewandte Vergegenwärtigung der Vergangenheit und die Positionierung wie Vergewisserung unseres Selbst in einem imaginierten biografischen und historischen Kontinuum ist die eigentliche Leistung des Erzählens, sondern eine eigentümliche Dialektik vorweggenommener Retrospektion auf die Gegenwart. Anders und narratologisch gesagt: die differentia specifica des Erzählens ist die Prolepse; die philosophische Relevanz des Erzählens verdankt sich seiner strukturbedingten Spiegelung des gerade in unserer modernen Gegenwart zunehmend manifest werdenden anticipatory mode of being (S. 6).

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Inhaltlich ist diese ambitionierten These zwar primär an die Adresse Ricoeurs gerichtet – methodisch richtet sie sich jedoch weniger gegen den französischen Phänomenologen, an den Currie, wie der Gang seiner Argumentation in den acht Einzelkapiteln des Buches immer wieder zeigt, oftmals anschließt, sondern gegen Curries Namensvetter Gregory Currie, der 1999 einen polemisch akzentuierten Beitrag mit dem Titel »Can there be a Literary Philosophy of Time?« 1 veröffentlichte. Auf Gregory Curries – ebenfalls im Kontrast zu Ricoeur formulierte – Argumentation kann hier nicht eingegangen werden; ihr Fazit fällt jedenfalls negativ aus: Literatur kann, so das Verdikt von Gregory Currie, letztlich nichts philosophisch Relevantes über Zeit aussagen, weil literarisch vermitteltes Geschehen Dank seiner Illusionshaftigkeit immer nur als präsentisches Ereignis erfahren wird.

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Das Fazit von Mark Currie in About Time lautet demgegenüber: wo Literatur expositorisch etwas über Zeit und Zeitlichkeit aussagt – also etwa mittels zeitphilosophischer Reflexionen, die dem Erzähler oder erzählten Figuren in den Mund gelegt werden – ist zwar wenig philosophisch Gehaltvolles zu erwarten. Als Simulacrum und Experimentierfeld aufgefasst hingegen verdeutlichen Erzählungen wie keine andere Form der Reflexion von Lebenswelt, dass die logisch aporetische Struktur der Zeiterfahrung, über die die Philosophie von Augustinus bis zu McTaggart räsoniert, sich für uns existentiell in eine durchaus lebbare phänomenologische Dialektik übersetzt. Das ›Sagen‹ der Literatur über das Phänomen der Zeitlichkeit mag also zwar kein propositionales sein, sondern eher ein praktisch-handelndes, das sich im Akt des Erzählens performativ ausdrückt: ihm allein deshalb die philosophische Relevanz abzusprechen, wäre nach Currie jedoch sicherlich verfehlt.

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Die Kernfrage des Buches lautet damit: Was genau kann uns Literatur über den Zusammenhang zwischen dem Konzept Zeit und dem Phänomen Zeitlichkeit sagen oder zeigen – und wie tut sie dies? Mit dieser Problematik setzt sich Currie in den acht Einzelkapiteln des Buches im Rekurs auf die zeitphilosophische Diskussion von Augustinus über Kant und Hegel bis hin zu McTaggart, Husserl, Heidegger, Ricoeur und Derrida unter verschiedenen Gesichtspunkten auseinander. Das damit umrissene philosophische Spektrum ist enorm, wenngleich die phänomenologischen Ansätze – hier insbesondere Husserls Konzeption der ›Protention‹ aus der Schrift Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins und natürlich Heideggers Idee des ›Seins zum Tode‹ aus Sein und Zeit – deutlich den philosophischen Horizont Curries dominieren. Wir wollen im Folgenden knapp den Gang der Argumentation in den acht Kapiteln resümieren.

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Das einleitende Kapitel trägt den Titel »About About Time« und präsentiert – neben einer etwas manieristischen Explikation der Bedeutungsvielfalt der Formulierung »about time«, die von »über Zeit« und »an der Zeit« bis zu »Rückwärtszeit« (i.S. von ›backwards time‹; S. 4) reicht – zwei Kernunterscheidungen, die für das gesamte Buch wichtig sein werden. Erstens differenziert Currie im Anschluss an Ricoeur zwei Typen erzählerischer Thematisierung von ›Zeit‹ – tales of time, die explizit auf der Inhaltsebene über Zeit handeln, und tales about time, in denen wir auf der Form- und Strukturebene interpretativ einen signifikanten Bezug zu dieser Thematik herstellen können. Currie interessiert im Wesentlichen die zweite Kategorie, zumal es für ihn in einem prinzipiellen Sinne wichtig ist »to see all novels as novels about time.« Damit ist gemeint: worüber auch immer ein Roman auf der Inhaltsebene erzählen mag – insofern er eine Erzählung ist, ›handelt‹ er performativ als Struktur immer auch und zugleich über den Zusammenhang von Zeit und Zeiterfahrung. Der zweite Kerngedanke, den das Kapitel vorstellt und den wir bereits oben angesprochen haben, wird in Form eines Anliegens vorgestellt: »The concern of this book is with the relationship between storytelling, future time, and the nature of being.« (S. 6)

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Das zweite Kapitel »The Present« (S. 8–28) entfaltet die zeitphilosophische Komplexität des in der auf Augustinus rekurrierenden Zeitphilosophie zentralen Konzepts ›Gegenwart‹. Currie skizziert zunächst einige social theories of the present, die den Einfluss moderner Technologie auf das moderne Bewusstsein und Konzept von ›Gegenwart‹ thematisieren. Drei Phänomene tragen in der Perspektive dieser Theorien zur grundlegenden Modifikation des Konzepts der Gegenwart bei: Erstens die sog. time-space compression (S. 9) infolge moderner Transport- und Kommunikationstechnologien, die das Bewusstsein räumlicher wie zeitlicher Distanz vertuschen und den kontrafaktischen Eindruck globaler Kopräsenz und Simultaneität hervorrufen. Zweitens geht es um die für die Postmoderne kennzeichnende Tendenz zur beliebigen, wertfreien recontextualisation (S. 10) des Gegenwärtigen in der Form von historischen Stilzitaten. Dritter Faktor ist der von Derrida als archive fever bezeichnete Habitus, das Gegenwärtige immer schon unter der Perspektive seiner Archivierbarkeit zu erfahren und zu entwerfen, wobei nach Currie die moderne Medienrealität geradezu zu einer scheinbaren Umkehr der Kausalität von Ereignis und Nachricht führt und zur Konsequenz hat, dass »an event is recorded not because it happens, but it happens because it is recorded«. (Dass diese Inversion eine nur scheinbare ist, macht Currie später deutlich; tatsächlich wird, wie er richtig darlegt, das vermeintlich durch seine eigene Konsequenz verursachte Ereignis nämlich durch die ihm vorausgegangene Imagination seiner Archivierung verursacht, nicht aber durch die faktische Archivierung selbst.)

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Alle drei Kulturphänomene tragen zu einer Bewusstseinstransformation bei, deren Effekt Currie als vanishing and banishing of the present bezeichnet und – im Rekurs auf Heidegger und Derrida – als einen existentiellen Modus der Antizipation analysiert, »in which the envisaged future marks the present, structures the present, so that the very being for which presence is supposed to act as a foundation is structured by the non-being which it anticipates« (S. 14). Was sich unter dieser phänomenologischen Perspektive als antizipatorischer Modus der Existenz darstellt, kann man jedoch, wie Currie nun anschließend darlegt, unter der logischen Perspektive von McTaggarts Zeitphilosophie noch erheblich radikaler deuten: nämlich als eine Negation von subjektiver Zeitlichkeit schlechthin, die die Trias Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft (d.h. die Idee einer subjektbezogenen sog. tensed time) ad absurdum führt und auf ein objektiv-relationales Vorher-Nachher reduziert (d.h. auf die sog. untensed time; in der Zeitphilosophie seit McTaggart als sog. b-line bekannt). Und nochmals radikalisiert wird eine solche Absage an das Konzept der Zeit von avancierten Modellen der theoretischen Physik, in deren Perspektive der antizipatorische Modus der Existenz schließlich als Indiz eines vollkommen atemporalen block universe gedeutet werden könnte.

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Vor diesem kulturhistorischen Hintergrund konstatiert Currie der Gegenwartsliteratur eine zunehmende Faszination für proleptisch organisierte Plots, in denen der sog. flashforward nicht länger nur als Kennzeichen selbstreflexiver Metafiktion gelesen werden muss, sondern geradezu zum Merkmal eines »realist mode of storytelling« (S. 22) avanciert ist und so das gewandelte Zeit- wie Zeitlichkeitskonzept der Moderne widerspiegelt. Speziell für die Narratologie leiten sich damit, so Currie, drei Forschungsdesiderata ab: zunächst stellt sich die Frage nach der Relation zwischen den Konzepten von tensed und untensed time mit Blick auf die Organsiation des narrativen Diskurses; auf der logischen Ebene gilt es zweitens die genaue Funktionsweise des proleptic plot zu erforschen; in einer literaturhistorischen Perspektive stellt sich drittens die Frage, wie die Genese des proleptischen Plot-Typs schließlich kulturhistorisch zu verstehen ist (S. 24). Der letzte Aspekt beschäftigt Currie im Rest des Kapitels, das dann leider ein wenig zu einer polemischen Auseinandersetzung mit Linda Hutcheons degeneriert, die schon 1988 in A poetics of Postmodernism: History, Theory, Fiction die sog. historiographic metafiction zum Paradigma des modernen Romans ausgerufen hatte. Currie bestreitet dies vehement und behauptet, dass selbst die »preoccupation with retrospect in historiographic metafiction can be understood as a kind of future orientation« (S. 27).

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Das dritte Kapitel »Prolepsis« (S.29–50) entfaltet den von Genette in die Narratologie eingeführten Neologismus in dreierlei Hinsicht, das heißt als »three different types of anticipation of retrospection« (eine offenkundige Reverenz an Ricoeurs Idee der dreifachen Mimesis). Unter ›Prolepsis 1‹ fasst Currie dabei die narratological prolepsis, d.h. den narrativen flashforward im eigentlichen Sinne des Genette’schen Terminus’. Als ›Prolepsis 2‹ dagegen bezeichnet er die prinzipielle structural prolepsis, die jede Erzählung insofern logisch kennzeichnet, als dass jeder Erzählakt immer schon auf den als fertigen vorausgesetzten und vorliegenden Erzähltext vorausweist, auch wenn das Erzählen in seiner Performanz eine Offenheit des erzählten Geschehens und – zumindest in seiner isochronen Standardform – den simultanen Ablauf erzählter Zeit simuliert. Mit ›Prolepsis 3‹ schließt Currie hingegen an den ursprünglichen, vor-Genette’schen Begriff einer rhetorical prolepsis an. In der Kommunikationssituation zwischen Erzähler und Leser sieht er eine Analogie zur rhetorischen Figur der vorweggenommen Thematisierung und Entgegnung auf einen antizipierten Einwand.

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Curries These, die er im weiteren Verlauf des Kapitels auf mitunter etwas redundante Weise teils philosophisch, teils in Form eines close reading einiger Textbeispiele zu belegen versucht, ist nun, dass im Erzähltext alle drei Formen der Prolepsis zusammenwirken – wobei ›Prolepsis 1‹ für ihn ein fakultatives Oberflächenphänomen ist, während die philosophisch interessanten Phänomene der narrativen future orientation auf der Ebene von ›Prolepsis 2‹ und ›Prolepsis 3‹ obligatorische Merkmale des Erzählens sind.

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Unser Resümee der Kapitel vier bis sieben kann knapper ausfallen. Das vierte »Temporality and Self-Distance« (S. 51–73) ist dem Versuch gewidmet, den philosophischen Konnex zwischen Zeitbewusstsein und Selbstbewusstsein im Rekurs auf Heideggers Sein und Zeit und Augustinus’ Confessiones darzulegen. Wirkt die Gegenüber- und Nebeneinanderstellung der beiden Werke als solche ein wenig unmotiviert, so bietet Currie immerhin eine interessante Neuinterpretation des berühmten elften Kapitels von Augustinus’ Buch: das gemeinhin als philosophischer Diskurs über das Problem der Inkommensurabilität von absoluter bzw. göttlicher Zeit und menschlicher Zeiterfahrung gelesene Kapitel ist nach Curries Ansicht zugleich eine Reflexion über die Problematik des Erinnerns und Erzählens (S. 68).

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Kapitel fünf »Inner and Outer Time« (S. 73–86) setzt sich kritisch mit der Praxis der Gegenüberstellung von vermeintlich objektiver clock time der physikalischen Welt mit der internal time unseres Zeitbewusstseins auseinander. Wie Ricoeur hält auch Currie diesen Ansatz für simplistisch: »It is a mistake to align phenomenological time with the life of the mind and cosmological time with the outside world« (S. 77). Im Anschluss an Derrida versteht Currie ›Zeit‹ vielmehr als ein unmögliches Objekt, das sich selbst beinhaltet. Diese Metapher lässt nach Curries Ansicht eine Homologie zwischen der Relation ›innere Zeit – äußere Zeit‹ und der Relation ›Zeit als Thema des Erzählens – zeitliche Logik des Erzählens‹ erkennen (S. 86): eine insgesamt wenig überzeugende Argumentation, die die Derrida’sche Metapher erheblich strapaziert.

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Auch das sechste Kapitel »Backwards Time« (S.87–106) zählt deutlich zu den schwächeren des Buches. Es bietet zunächst ein close reading des Romans Waterland von Graham Swift (2002), dessen Erzähler vehement über das Problem ›Zeit‹ philosophiert und dabei zugleich, dem Muster einer detective novel folgend, in umgekehrter Chronologie erzählt, während der Erzählprozess selbst in der Zeit voranschreitet. Unklar ist, warum Currie diesen Romantypus, den man eindeutig dem eher marginalen Typus eines novel of time zurechnen muss, so ausführlich traktiert, zumal er dann selbst resümiert: »It would be foolish to assume that the detours and loops involved in the narration of Waterland present any real challenge to the predominance of chronology as a model of time.« (S. 93) Zum Kontrast jedenfalls stellt er anschließend ein close reading von Martin Amis’ Time’s Arrow or The Nature of the Offence (2003) vor; ein Roman, in dem nun am drastischen Beispiel (u.a. der Judenvernichtung in Konzentrationslagern) vorgeführt wird, zu welchen moralischen Absurditäten »the use of a forward-moving language for the description of backwards time« (S. 105) konzeptionell führt, wenn etwa aus dem Rauch der Verbrennungsöfen Menschen entstehen. Beide Beispiele sollen die Parallelität der forward-motion of time und der forward-motion of language belegen; als Leser fragt man sich indes: ist denn jemals das Gegenteil behauptet worden?

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Der gleiche methodische Ansatz eines kontrastiven close reading organisiert auch das siebente Kapitel »Fictional Knowledge« (S. 107–136), in dem Ali Smiths The Accidental (2005) und Ian McEwans Saturday (2005) auf die Frage hin untersucht werden, inwieweit in ihnen »the problems of knowledge, fictional knowledge of internal time-consciousness, and critical knowledge of this fictional knowledge, interact with each other« (S. 111). Currie kann in seiner Interpretation der beiden Texte zwar interessante Detailbeobachtungen zur Wechselwirkung zwischen expositorischen Äußerungen und narrativer Performanz in Hinblick auf das Zeitbewusstsein bieten; der konzeptionelle Gewinn bleibt jedoch gering, zumal das Fazit nun doch den Tonfall einer veritablen Derridean hauntology anschlägt:

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Fiction (…) always has a secret about time, a knowledge which necessarily lies beneath the surface, and yet which also refuses the very idea of surface and depth which the notion of fictional knowledge offers. (…) fictional knowledge of time (must) be regarded as pure phenomenality, without depth beyond its literary phenomenon, and its secret knowledge about time is absolutely inviolable. (S. 136).
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Nun ja.

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Überaus konzis und auf den philosophischen Gehalt der Überlegungen konzentriert fällt im erheblichen Unterschied zu den vorangegangenen vier Kapiteln das abschließende Kapitel »Tense Times« (S. 137–151) aus. Es unternimmt nichts weniger als »to infer from the tense structure of narrative a metaphysics of time«, mehr noch:

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It will also be suggested here that an understanding of the temporal structure of fictional narrative, and of narrative in general, offers a kind of access, perhaps the only access we have, to what might be called the ›reality‹ of time. (S. 137 f.)
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Zur Beweisführung geht Currie (endlich; dies wäre erheblich früher angezeigt gewesen!) explizit ein auf die von McTaggart bereits 1908 in die zeitphilosophische Debatte eingeführte Unterscheidung zwischen den sogenannten a-series und b-series Theorien der Zeit. Zur Erläuterung: die A-Serie bezeichnet das mentale, auf das Beobachtersubjekt bezogene Zeitkonzept ›Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft‹, das der phänomenologischen Tatsache unseres je neu definierten, dynamischen ›Gegenwartsfensters‹ (Husserl) Rechnung trägt; die B-Serie konzeptualisiert Zeit dagegen als Kette absoluter ›Vorher-Nachher‹-Relationen. Unter der Perspektive der A-Serien-Theorie erscheinen alle Phänomene als tensed: in der Vergangenheit und in der Zukunft liegende Phänomene existieren nicht, sind jedoch zeitlich bezogen auf den real existierenden Gegenwartszeitpunkt. Unter der Perspektive der B-Serien-Theorie hingegen existieren alle Phänomene absolut, also untensed und ohne einen sie ontologisch definierenden zeitlichen Gegenwartbezug.

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Currie referiert zunächst McTaggarts These und setzt sich dann kritisch mit dessen Behauptung auseinander, dass die A-Serien-Theorie immanent widersprüchlich sei, insofern sie letztlich auf eine B-Serien-Annahme zurückgreifen müsse, um überhaupt den Komplex ›Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft‹ als chronologische Folge denken zu können (S. 144). Dieses Argument hält Currie für »an authorian defence of a distinction which should not have been made in the first place« (S. 146). Hinsichtlich der Zeit gelte vermutlich vielmehr genau das, was uns die Erzählung fortwährend demonstriere: sie könne nur im Sinne einer Interaktion von A- und B-Serien-Theorien konzeptualisiert werden.

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Damit aber eröffnet sich nach Currie die Chance für die Formulierung einer tense based narratology (S. 150) – ein durchaus metaphysisch ambitioniertes Projekt. Sein Ausgangspunkt wäre »a narrative theory which begins in this compatibilism of tensed and untensed accounts of time (and) aquires the ability to explain the proleptic mode of being, the experience of the present as the object of a future memory, which is by no means confined to fiction«; sein Ziel hingegen eine »narratology that takes as its starting point the possibility of inferring a metaphysics of time from the temporal structure of narrative« (S. 150 f.).

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Zur Kritik

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Überzeugend und überaus inspirierend ist Curries Buch insgesamt dort, wo es an die angloamerikanische zeitphilosophische Diskussion anschließt und diese in Verbindung mit Ricoeur und Genette sowie Husserl und Heidegger analytisch weiter denkt. Das gilt insbesondere für die Kernidee, die zeitliche Organisation des Erzählens unter der Perspektive einer phänomenologischen Zukunftsorientierung zu begreifen; es gilt ebenso für die klare Trennung zwischen der Oberflächenthematisierung von Zeit und Zeitlichkeit in Romanen und der weitaus grundlegenderen, strukturellen Performanz von Zeitlichkeit im Erzählvorgang selbst; es gilt schließlich auch hinsichtlich der in der Erzähltheorie und Narratologie bislang selten in dieser Klarheit herausgearbeiteten temporallogischen Aporien und Scheinaporien des Repräsentationsaktes, in dem ein immer schon Abgeschlossen, Gewusstes oder Imaginiertes – eben die Erzählung als Ganze – kontrafaktisch als offener Ereignisprozess dargeboten und mental verarbeitet wird.

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Weniger überzeugend – und dies mag angesichts des eben ausgesprochenen Beifalls zunächst seltsam wirken – ist Curries Beitrag als wissenschaftlicher Beitrag sui generis. Geradezu frappierend ist für einen Gelehrten diesen Kalibers insbesondere die kulturelle Insularität (pardon the pun): Nicht nur rezipiert Currie offensichtlich ausschließlich englischsprachige oder in englischsprachiger Übersetzung vorliegende Forschungsliteratur; er nimmt vielmehr ganze Forschungstraditionen, die für seine Fragestellung von großer Relevanz wären, schlicht nicht zur Kenntnis. Käte Hamburgers Logik der Dichtung oder Bachtins einschlägige Arbeiten z.B. kommen im Literaturverzeichnis wie im Haupttext an keiner Stelle vor; Günter Müller wird im Text immerhin ein Mal erwähnt, wenn auch ohne Umlaute (aber nach dem metrischen System werden wohl auch die Umlaute irgendwann im Vereinigten Königreich bekannt werden). Nietzsche schließlich wird indirekt nach einer dubiosen Übersetzung des noch dubioseren Kompilats Wille zur Macht zitiert. Nicht besser sieht es in Hinblick auf die Zeitphilosophie aus: ›Kontinentale‹ Zeitphilosophen wie etwa Peter Bieri oder interessante kognitionstheoretisch orientierte Versuche zur Modellierung von narrativ vermittelter Zeitwahrnehmung (etwa Johanna Drucker und Bethany Nowviskie’s Temporal Modeling Project) liegen offenkundig ebenfalls außerhalb von Curries Wahrnehmungsfeld. Das wären vermutlich Petitessen, wäre hier nicht andererseits die Rede ist von einem Autor, der selber dem theoretischen Physiker Stephen Hawkings mit unverhohlener Arroganz bescheinigt, dass dieser »desperately needs a first-year university course in metaphysics, if only to be able to state his position on the relationship of the mind to the universe« (S. 85). Welcher Stein hier in das Glashaus zurückzuwerfen wäre, liegt auf der Hand… Wer also ein Buch sucht, das auf der Grundlage eines soliden Forschungsresümees argumentiert, sollte wissen: Curries Horizont ist, bei aller Brillanz seiner eigenen Gedanken, auf eine eigentümliche Weise anglozentrisch und ›imperial‹ im angestaubtesten Sinn – tu felix Oxbridge?

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Soll man das Buch also lesen? Wenn man sich für die Thematik Zeit und Erzählen interessiert – dennoch und unbedingt! Und zwar am besten dezidiert ›proleptisch‹, das heißt: beginnend mit dem letzten Kapitel, das Kernthesen und ambitionierte Zielsetzung der Studie konzise umreißt und so eine bessere Orientierung liefert, als das eigentliche Einleitungskapitel. Im Detail wird man Curries Argumentation sicher an mancher Stelle mit kritischen Einwänden begegnen wollen – zum Beispiel ist fraglich, ob seine Behauptungen hinsichtlich der protensionalen Ausrichtung des Erzählens auch auf die on-the-fly generierten Alltagserzählungen übertragbar sind, die sich zwar an Erzählmustern orientieren mögen, aber dennoch einen erheblich höheren Grad an echter Unabgeschlossenheit besitzen, als dies für die bereits als materiale Texte vorliegenden literarischen Erzählungen gilt. Ähnliches gilt für Curries Auseinandersetzung mit McTaggart, bei der ein interessanter Ausgangspunkt von McTaggarts Argumentation vollkommen unerwähnt bleibt: nämlich dessen Postulat einer dritten, sog. C-Reihe, in der die Phänomene – vollkommen unabhängig von ihrer ›späteren‹ zeitlichen Ordnungsform in A- oder B-Reihen – in einer rein logischen Ordnung gedacht werden können: Also in eben jener Form, in der ein noch nicht gelesener Text z.B. als noch nicht aktualisierte, rein numerische Sequenz von Schriftzeichen gegeben ist, oder noch besser: als digitalisierte und in einem tabellarischen Datenbankformat gespeicherte Konkordanz, die erst in eine Sequenz rückübersetzt werden muss, bevor daraus ein ›Text‹ im engeren Sinne wird. Curries Buch lädt, anders als das den Leser mit purer Wortfülle erschlagende Opus Magnum von Ricoeur, in dieser wie in manch anderer Hinsicht durchaus zum kritischen Weiterdenken ein: und gerade dies gerät zu seinem großen Vorzug. Fazit: für den an der Thematik interessierten Literaturwissenschaftler und insbesondere Narratologen ist Curries About Time ohne Frage ein must read – wenn auch sicherlich kein only read.

 
 

Anmerkungen

In: Jeremy Butterfield (ed.): The Arguments of Time. Oxford 1999.   zurück