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Genus floridum (et dona ferens)

Oder wie man Odysseus in Texte schmuggelt

  • Hektor Haarkötter: Nicht-Endende Enden. Dimensionen eines literarischen Phänomens. (Epistemata Literaturwissenschaft 574) Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. 388 S. Geheftet. EUR (D) 48,00.
    ISBN: 978-3-8260-3389-6.
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Dem Ende wird in der Literaturforschung weniger Aufmerksamkeit geschenkt als dem Anfang. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass seine Beforschung immer wieder zu Digressionen einlädt. Spricht man nämlich über das Ende von Narrationen oder das Ende der Literatur, so stößt man schnell auf grundlegendere Probleme: Apokalypse, das Medium Buch, das Erzählen schlechthin und die menschliche conditio humana. Dies hat bereits die erste große Studie zum erzählerischen Ende, die Frank Kermode vorgelegt hat, unter Beweis gestellt: sie verrät ›am Ende‹ mehr über die westliche Zuneigung zur Apokalypse und Krise als über Erzählstrukturen. Auch die Göttinger Dissertation Nicht-endende Enden von Hektor Haarkötter, der die vorliegende Rezension gilt, begibt sich, darin der durch Kermode gestifteten Tradition folgend, auf zahlreiche Abwege.

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Enden und Knoten

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Eine Vielzahl von Arbeiten beschäftigt sich mit dem erzählerischen Ende. Haarkötters Arbeit bezieht sich auf die klassischen Arbeiten The Sense of an Ending von Frank Kermode (1966) und Poetic Closure von Barbara Herrnstein Smith (1968), gewinnt ihnen aber wenig Wert ab. Von gewisser Bedeutung ist ihm die materialreiche Arbeit Techniken der Schlußgebung im Roman von Barbara Korte, die Standards gesetzt hat (1985). Mit dieser Arbeit endet für Haarkötters Studie die Erzählendforschung: »Eine Untersuchung, die die offensichtlichen Paradoxien des literarischen Endens explizit thematisierte und sei es zu einer Lösung, sei es zu einer Systematisierung gebracht hätte, ist auch in den letzten Jahren ein Desiderat geblieben« (S. 19). Es mag richtig sein, dass den Paradoxien des literarischen Endes wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, jedoch ist die Behauptung falsch, es habe keine weiteren Studien gegeben.

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Die eigentlich narratologische Erforschung des narrativen Endes beginnt erst mit dem Aufsatz Clausules (1975) von Philippe Hamon. Er untersucht die beendenden Sätze einzelner Handlungsketten, doch lenkt er den Fokus auf den Schluss, also auf die Markierungen, die eine Schlusssequenz einleiten. Er führt den Terminus ›Klausel‹ (frz. clausule) ein, der einen Schlusssatz mit erfolgreicher Abschlusswirkung bezeichnet. Neben einer Vielzahl weiterer Zwischenarbeiten zum Ende 1 sortiert Guy Larroux in seiner Monographie Le Mot de la fin (1995) die Forschung zum Ende neu, sich dabei in erster Linie auf Hamons Theorie der Klausel berufend. Larroux beschreibt mögliche Geschwindigkeiten des Endes, zeichnet so eine qualitative (das heißt unstatistische) Theorie des Endens und vermeidet unnötige Typologien; mit seiner Arbeit will er eine diachrone Endforschung überhaupt erst ermöglichen. Einen bislang nicht übertroffenen Markstein in der Endforschung hat Mario Kunz in seiner Dissertation El final de la novela (1997) gesetzt. Erst Kunz führt – in einer Zusammenschau der existierenden Ansätze zur Beschreibung des Endes – eine systematische Begrifflichkeit ein. Er unterscheidet das Ende mit Blick auf den Discours als Schluss und das Ende mit Blick auf die Histoire als Dénouement. Auf diese Weise wird deutlich, dass man die Aufmerksamkeit einmal (wie Hamon) auf die ›letzten Worte‹ und einmal auf die ›letzten Ereignisse‹ richten kann. Man kann somit das Zusammenspiel zwischen beiden ›Typen‹ von Ende analysieren.

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Haarkötter erwähnt keine einzige dieser drei herausragenden Arbeiten, und auch ansonsten fällt die Bibliographie zum erzählerischen Ende mager aus. Das Kernanliegen besteht kurz und bündig darin, »einem vordergründig paradoxen Phänomen auf die Spur zu kommen, nämlich dem der nicht-endenden Enden in literarischen und im engeren Sinne narrativen Texten« (S. 339). Die These lautet dann, dass Enden im eigentlichen Sinne gar nicht enden, weil es immer wieder Texte gibt, die auf existierende Texte zurückgreifen oder sogar im engeren Sinne fortschreiben. Es handelt sich also bei näherem Hinsehen nicht um eine Studie, die das Ende und das Enden unter die Lupe nimmt, sondern vielmehr um eine Untersuchung von Intertextualität und von Fortschreibbarkeit, von denen behauptet wird, sie stünden ›hinter‹ jedem Ende und konterkarierten es. Immer wieder stellt sich also die Frage, wie das Schreiben mit Blick auf spätere und frühere Texte enden kann und wie die Grenze eines Textes angesichts so vieler anderer Texte gezogen werden kann. Die nahe liegende und schon von Korte ins Feld geführte medientheoretische Lösung, nach welcher ein Text dort endet, wo geeignete Markierungen (Werbeannoncen, Inhaltsverzeichnis, leere Seiten, Buchdeckel) den Text beschließen, missfällt der Studie.

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Die Arbeit schlägt den Terminus »Knoten« für diejenigen Stellen vor, die auf andere Texte in beliebiger Weise verweisen können. »Zum Knoten taugt prinzipiell alles, was Element des Textes oder Konvolutes ist« (S. 136). Als Beispiel wird das Zitat genannt, doch können Satzzeichen oder gar Schmutzspuren am Originalmanuskript als Knoten dienen. Haarkötters Studie stützt sich zur Untersuchung der Beziehungen zwischen Texten einerseits auf Genettes Hypo- und Hypertextbegrifflichkeit, andererseits aber auf Genettes Erzähltheorie. Letzteres führt zu der originellen und nützlichen Unterteilung zwischen heterodiegetisch-extradiegetischen, homodiegetisch-extradiegetischen, heterodiegetisch-intradiegetischen und homodiegetisch-intradiegetischen Knoten (S. 137 f.): intradiegetische Knoten verweisen auf denselben Text, extradiegetische auf andere, und homodiegetische Knoten auf das gleiche »Thema (die gleiche Geschichte)« (S. 138), heterodiegetische dagegen auf andere Themen.

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Dieses Schema leidet allerdings an einem schwach ausgearbeiteten Begriff von Diegese, ein Desiderat, das inzwischen gesehen wird. 2 Man kann dies daran ersehen, dass die Unterscheidung Thema / Geschichte kaum zu einer befriedigenden Unterteilung führen kann: dass homodiegetische Knoten auf das gleiche Thema oder die gleiche Geschichte verweisen, wird als dasselbe Phänomen bezeichnet, wiewohl doch dasselbe Thema in ganz verschiedenen Geschichten zur Geltung kommen kann und eine Geschichte viele Themen haben kann. Die Entscheidung darüber, was derselbe Text ist und was nicht (und ob sein Inhalt durch ›Geschichte‹ oder ›Thema‹ definiert wird), problematisiert die Studie an anderer Stelle – und hält Textidentität dort für selbstverständlich, ohne jedoch die vielleicht notwendige medientheoretische Analyse zu wagen. Indessen wird ein klassifikatorisches Schema auch gar nicht angestrebt; es geht darum, den Blick für die Möglichkeiten des Verweisens zu schärfen. Das gelingt diesem Begriffsschema ganz wunderbar. Es typisiert nicht die Vielfalt der intertextuellen Erscheinungen, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf das schwer Klassifizierbare und erweist sich darin dem Vorbild Genette als ähnlich.

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Weniger überzeugend, aber dennoch reizvoll ist Haarkötters »Instrument für die Klassifizierung von Hypertextualisierungsvorgängen« (S. 244): mit diesem wird zwischen Imitatio (Zitat), Interpretatio (Fortsetzung), Superatio (Widerspruch) und Aemulatio (Übersetzung) unterschieden, um mögliche Formen der »Serialisierung« zu erfassen. Die Klassifikation überzeugt aber nicht ganz, weil die Einteilung nicht ›struktural‹ ist, also nicht um die Schaffung leicht zu handhabender Unterscheidungen bemüht ist, sondern die Abgrenzungsschwierigkeiten schon auf der Ebene der Begriffe billigend in Kauf nimmt. So besteht laut der Studie zwischen Marlowes und Goethes jeweiligen Faust-Dramen ein Verhältnis der Superatio, während Joyce’ Ulysses eine Aemulatio von Homers Odyssee bilde (S. 246). Man kann so urteilen, wird aber zu einer solchen Bewertung durch das Schema nicht gezwungen; ganz ersichtlich wird auch nicht, wie Haarkötters Studie zu dieser eigenwilligen Umwertung rhetorischer Termini kommt. Dennoch bereichert auch diese Klassifikation die Lektüreoptionen, denn sie stellt vor eine unklare Wahl und zeigt so – es handelt sich hierbei um ein erklärtes Ziel der Studie und zugleich um eine ihrer geradezu ontologischen Prämissen – die Unschärfe der Grenzen zwischen den verschiedenen Verfahren an, einen Text fortzuschreiben.

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Zur Analyse von »Nicht-Verstehensbedingungen« führt die Studie eine Unterscheidung zwischen toten, kryptischen, undefinierbaren und nicht vorhandenen Knoten ein (S. 200). Gemeint sind diejenigen Situationen, in denen eine Textstelle nicht oder schwer deutbar ist und daher ein anderer Text zurate zu ziehen wäre. Tote Knoten lassen sich nicht mehr auflösen; kryptische verweisen auf einen Text, den es aber gar nicht gibt (sie betreiben »Subversion«, S. 200); undefinierbare zeigen auf so viele Texte, dass eine klare Deutung verhindert wird; schließlich fehlen nicht vorhandene Knoten schlicht, existieren also nicht, aber der umgebende Text legt nahe, dass etwas fehlt (vor allem im Falle des Fragments). Diese Unterteilung ist witzig, aber ihr geht Systematik weitgehend ab, da die Bedingungen des Nichtverstehens unterschiedlichen Kategorien angehören: beispielsweise semantisch-semiotische Undeutbarkeit (undefinierbare Konten) versus materielle Inexistenz einer Deutungshilfe (nicht vorhandene Knoten). Die Studie verwirft ferner die Möglichkeit, Ambiguität und Vagheit in das Schema einzuspeisen, weil beide nach Auskunft der linguistischen Semantik zu den Verstehensbedingungen zählen. Zum Beweis der These wird ein Handbuchartikel von Manfred Pinkal zitiert (S. 200 f.), doch dieser behauptet lediglich (übrigens völlig zu Recht), dass natürliche Sprachen nicht nur sich ihrer Vagheit und Ambiguität nicht entledigen können, sondern dass ein Verzicht auf beide die Effizienz sprachlichen Ausdrucks vermindern würde. Das hat aber mit Knotentheorie wenig zu tun; und schließlich zeigt ja Haarkötters Knotentheorie auf, dass man bei irritierender oder unvollständiger Datenlage – nichts anderes sind die vier obigen Nichtverstehens-Knoten – dennoch kognitiv weiterverarbeiten kann.

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In der Knotentheorie liegt die theoretische Stärke der Arbeit. Sie hätte sich den Titel Nichtknotige Knoten geben können. Eine bedeutende Leistung liegt jedoch auch darin, den ›Nexus‹ zwischen Ende und Intertextualität hervorgehoben zu haben. Denn die postulierte Unabschließbarkeit von Texten und ihr fließender Übergang ineinander mögen der Intertextualitätsforschung zwar längst bekannt sein, aber hier auf die Textenden Acht zu geben bildet eine neue Akzentsetzung.

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Aufbau der Studie

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Die Kapitel der Arbeit sollen nur kurz vorgestellt werden, da sie ungemein digressiv sind und die Ergebnisse sich nicht aus dem Aufbau selbst ergeben. Dennoch dient die Kurzzusammenfassung dazu, einen ungefähren Eindruck von dem Umfang der Digressionen zu geben, denen sich die Arbeit überlässt. Der folgende Überblick verrät auch, welches Korpus behandelt wird. Allerdings kehren die Lektüren von Kafka und Jean Paul fast leitmotivisch immer wieder; sie bleiben nicht auf die folgenden genannten Kapitel beschränkt.

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Im ersten Kapitel, »Anfang: Ende der Geschichten?«, führt der Text in das Thema Ende ein, handelt kurz und endgültig den Forschungsstand ab, verhandelt offene und geschlossene Form und nennt den Hypertext als sein Thema.

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Das zweite Kapitel, »Peripetetisches Ende«, untersucht Kleists Michael Kohlhaas unter der Leitfrage, ob die Erzählung zielgerichtet und kausallogisch auf ihr Ende zulaufe; die Analyse kommt zu dem Schluss, dass eine solche Behauptung zu verneinen sei. Sie greift auf Überlegungen zu Linearität und Kausalität zurück; dabei kritisiert sie Kausalität als ein Erklärungsschema, das heutiger naturwissenschaftlicher Sicht nicht mehr entspreche und daher nicht anzuwenden sei.

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Im dritten Kapitel, »Elliptisches Ende«, wird Jean Pauls Siebenkäs in den Mittelpunkt gerückt. An dem Roman werden insbesondere die Digressionen und die Verweise auf andere Texte untersucht. Entfaltet wird die Knotentheorie, die ich bereits erläutert habe. Es gibt einige Ausführungen zur »Alte[n] und Neue[n] Editionsphilologie«, die sich exemplarisch auf Jean Paul anwenden lassen: die »Alte Editionsphilologie« folge der enzyklopädischen Methode, die »Neue« der integrativen; die »Alte« wähle als Form die Fußnote und die Bibliographie, die »Neue« das Palimpsest und die Glosse; die Funktion der »Alten« sei »[i]nkohärent zum Text«, während diejenige der »Neuen« »[k]ohärent zum Text« sei (alles S. 151). Repräsentiert werde die »Neue Editionsphilologie« bei Jean Paul durch Klaus Pauler. Da Haarkötters Studie sich der Intertextualität und dem Fortschreiben von Texten widmet, kann verständlich werden, dass sie nur texterzeugende Editionen als aufschlussreich einstuft; das Faksimile zählt sie ausdrücklich nicht zu den Editionen, da dieses nur redupliziere. Hier liegt die normative Prämisse, die aus Sicht der Studie das Lob der »Neuen Editionsphilologie« rechtfertigt: nur sie schaffe Text. Inwiefern diese Ausführungen sich tatsächlich mit Editionsphilologie befassen, müssen Editionsphilologen beurteilen, aber ich vermute, sie könnten kaum zu einem freudigen Urteil gelangen.

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Das vierte Kapitel, »Fragmentarisches Ende«, widmet sich Kafkas Proceß (ich übernehme Haarkötters Schreibung). Zunächst streift die Untersuchung die Theorie des Fragments und untersucht Unverständlichkeit. Im Mittelpunkt aber steht, dass Kafka – viel wird von den biographischen Umständen der Niederschrift anhand der Tagebücher berichtet – zunächst ›Anfang‹ und ›Ende‹ des Romans niederschrieb, bevor er sich an die ›Zwischenkapitel‹ setzte: das Enden erweist sich nicht als Problem des Dénouement, sondern als Problem des Schreibabschlusses.

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Zwar ist im fünften Kapitel, »Serielles Ende«, weiterhin viel von Jean Paul und Kafka die Rede, doch im Zentrum stehen Heftchenromane gleichsam ohne Ende, exemplifiziert an der Jerry-Cotton-Reihe (mit Seitenblicken auf den andersgearteten Sherlock Holmes). Ein Exkurs zur Spannung und zur Struktur des Kriminalromans reichert diesen Abschnitt an.

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Das sechste Kapitel, »Maschinelles Ende«, nimmt Kommunikation am Computer und zwischen Computern in den Blick, befasst sich aber auch mit Lyrik, die sich ein Vorbild an Computerprogrammen nimmt oder aber automatisch von einem Computerprogramm erzeugt wird (auch die alte Eliza tritt auf). Solche Phänomene sieht die vorliegende Dissertation als ernstzunehmendes Beispiel für den »Tod des Autors« an. Eine Sonderform dieses Todes findet sich in kollaborativen Texterzeugnissen im Internet, in denen die Grenze zwischen Textproduzenten und -konsumenten verschwimmt. Diesen Effekt bezeichnet die Studie als »Tod der Leserin«: dieser bedeutet »demnach, daß Literatur weniger ein kommunikativer, als vielmehr ein performativer Akt ist, eine voluntaristische Aktion, über deren Grad an Literarizität die Autorin (vorerst) allein entscheidet« (S. 307).

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Das siebte Kapitel, »Schluß«, liefert noch einmal ein Tableau der meistgebrauchten Stichworte und schließt mit der poetologischen These, die Literatur komme immer wieder an ein bloß offenes Ende. Der Schlusssatz lautet daher: »Vielleicht ist die Literatur am Ende: Warten wir auf die Fortschreibung!«

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Intention

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Eine weitere Digression sei hier hervorgehoben, denn sie wirft ein bezeichnendes Licht sowohl auf das feine Gespür für ungeklärte Phänomene, das Haarkötters Studie an den Tag legt, als auch für ihr grobes Hinwegargumentieren über die eigentümlichen Aspekte eines Phänomens. Als Beispiel wähle ich die Einlassungen zur Frage der Autorintention.

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Haarkötters Text interpretiert die poststrukturalistische Abwendung vom Autor als den Vorschlag, das Schema »Sender Botschaft« durch das Schema »Botschaft Botschaft« zu ersetzen – einen Vorschlag, der dem Text nachgerade absurd erscheint, denn dann gölte ja: »Botschaft (B) würde sich sozusagen selbst mitteilen« (S. 309). (Dabei expliziert die Studie den Unterschied zwischen »Botschaft« und »Botschaft« nicht und hält ihn vermutlich für ein poststrukturalistisches Artefakt.) Die Sorge dabei ist: »wer bestimmte dann die Richtung dieser ›Kommunikation‹ (Pfeile)?« (ebd.) Man möchte da antworten, es liege im Wesen der Massenmedien, dass sie Botschaften weit streuen und viele potenzielle ›Empfänger‹ adressieren; und überhaupt ist der Paratext in der Lage, solche Adressierungen vorzunehmen. 3 Was wäre verkehrt daran, statt von der kursivierten Botschaft einfach vom Text zu sprechen und das Schema »Text Botschaft« zu postulieren, das in der massenmedialen Situation zur Anwendung komme und gerade dort ermögliche, von Intentionszuschreibungen abzusehen? Wenn sich im Supermarkt am Regal eine Preisauszeichnung befindet, so kann der ›Empfänger‹ diese ›Botschaft‹ verstehen, ohne annehmen zu müssen, dass ihn jemand objektiv informieren oder zu einem unnötigen Kauf verleiten wolle. Text erscheint dann als ein Regulativ möglicher Anschlusshandlungen, das die regulierenden Elemente schon komplett in sich enthält – wie bei einem Computerprogramm der Computer die Anweisungen befolgen kann, ohne die Intentionen des Programmierers zu kennen. Ob ein Baum oder eine polizeiliche Absperrung das Befahren einer Straße verbietet, kann dem betroffnen Autofahrer egal sein; er kann sich darauf beschränken, eine andere Route zu finden, selbst wenn er letztlich auch im ersten Fall des Baumes auf der Straße – in der Tradition vorrationalistischer Zeichentheorien – Gott die Absicht unterstellen mag, ihn mittels des Baumes auf andere Wege zu lotsen.

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Dass der Text die sachliche Ursache (im Sinne einer der Bedingungen der Möglichkeit) einer Intentionszuschreibung ist – und nicht ein Mensch –, lässt sich konzedieren, selbst wenn man sich gezwungen sieht, wiederum einen willentlich schreibenden Menschen als Ursache der Existenz des Textes zu vermuten. Meine Entscheidung, hier alle Intentionen Haarkötters Text und nicht Haarkötter zuzuschreiben, dürfte als Lackmustest dafür dienen, um zu sagen, welche Auffassung meine Leserin, mein Leser dazu hegt, wer Intentionen auszudrücken in der Lage ist. Für Haarkötters Text wären viele meiner hier gebrauchten Formulierungen sprachlich nicht erträglich: ein Kapitel könne doch nicht etwas sagen wollen, höchstens dessen Autor könne bestimmte Absichten vertreten. Wer sich jedoch an meinen Formulierungen sachlich stört, muss die Auffassung vertreten, dass Intentionszuschreibung sich immer auf das Denken eines konkreten Menschen bezieht. Freilich darf man sich trotzdem stilistisch über meine Formulierungen ärgern, denn es wäre stets eleganter zu sagen, Haarkötter wolle dieses und jenes sagen. Doch wäre Haarkötter dann in meinen Augen die Metonymie für ›Haarkötters Text‹ – und nicht umgekehrt.

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Wie fremd Haarkötters Text der Gedanke ist, dass ein Text eine Botschaft haben könnte, zeigt sich an seinem Versuch, sein Schema »Botschaft Botschaft« auszudeuten. Sofort erscheint ihm nämlich folgende Überlegung notwendig:

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Eine Literatur, die sich selbst schreibt: Das wäre freilich eine Dimension des Endes der Literatur, nämlich für Menschen, die in einem solchen Kommunikationsmodell nicht mehr vorkommen und darum das Objekt der Betrachtung von den Human- und oder Kulturwissenschaften in den Bereich der Ingenieurswissenschaften übergehen sehen (S. 310).
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Man meint, darin die übliche Luhmann-Schelte zu hören, doch wird hier handfest auf Kommunikation unter Computern angespielt; und diese ist es, die für die dann folgenden Abschnitte der Studie im Mittelpunkt stehen soll.

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Dass hier Themen recht wahllos fusionieren, lässt sich nicht Haarkötters Dissertation anlasten, denn die Diskussion zur Intention und zu den Grundlagen der Kommunikation ist längst nicht ausgestanden, die Fragen eigentlich noch nicht einmal präzise gestellt, alle Optionen nach wie vor ungeordnet auf dem Tisch. Gerade die jüngere Verhaltensforschung legt nahe, dass sich Kommunikation über Intention verstehen lässt. 4 Sie übersieht aber vielleicht den feinen Unterschied zwischen Steuerung von Kommunikation durch Intentionszuschreibung und Steuerung von Kommunikation durch Intention; und zugleich muss sie inzwischen anerkennen, dass die Beobachtung von Intention ein Prozess ist, der komplexe Voraussetzungen an die gegenseitige Beobachtung stellt. 5

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Journalistisches Schreiben

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Haarkötters Dissertation setzt sich in einer Digression mit dem Verhältnis von Literaturwissenschaft und Literatur auseinander und plädiert für die These, dass der Unterschied zwischen beiden nicht so groß ist, wie gemeinhin angenommen wird. »Eine scharfe Trennung zwischen Literatur und ihrer Wissenschaft ist auch heute schwer zu ziehen« (S. 269). In der Tat wird bis heute der Anteil literaturwissenschaftlichen Denkens an der Schaffung von Poetiken unterschätzt; und auch stilistisch gibt es gelegentlich Nähen zwischen Literaturwissenschaft und Poetik. 6 Doch irrt sich die vorliegende Arbeit, wenn sie davon ausgeht, selbst sich der dichterischen Schaffenskraft zu nähern. Haarkötters Dissertation strebt dem Textbefund nach zwar an, einige der besten Eigenarten von Jean Pauls Verfahren sich anzueignen und gleichfalls digredierend ein polyhistorisches Panoptikum der Gegenwart aufzuspannen. Aber ihr gelingt es nicht, stilistisch oder argumentativ entweder das wissenschaftliche oder das dichterische Schreiben zu erreichen. Beide Möglichkeiten verfehlt zu haben muss als das schmerzhafteste Scheitern gelten. Um dies zu erklären, ist eine ausführliche Erläuterung erforderlich.

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In Quintilians rhetoriktheoretischen Termini werden bekanntlich drei Stillagen unterschieden: grande, floridum und subtile (Inst. orat. XII, 10, 58). Ihre Unterscheidung liefert eine hilfreiche Orientierung für die Einordnung gegenwärtiger Schreibstile. Die Wissenschaft hat das genus ἰσχνόν oder subtile zu wählen: sie hat Sachverhalte darzulegen und eine Analyse vorzustellen. Die Dichtung folgt dem genus ἁδρόν oder grande: sie rührt und erregt im weitesten Sinne Gefühle – und man sollte hier nicht nur an das klassische movere denken, sondern an den modernen hedonistischen Genuss am Sprachexperiment, wie man es bei Joyce oder Pynchon findet. Dagegen ist der Journalismus an dem genus ἀνθηρόν oder floridum gelegen: er möchte unterhalten und gewinnen. Die drei Stillagen entsprechen also Praktiken der Veröffentlichung, und offensichtlich kommt es darauf an, dass in bestimmten Kontexten zwar eine Stillage den Regelfall bildet, gegen die Vorgabe aber verstoßen werden kann. So mag ein Journalist auch subtiliter oder granditer schreiben, doch an Journalistenschulen wird das genus floridum gelehrt. Umgekehrt haben nicht wenige Schriftsteller mit den genera floridum und subtile gearbeitet.

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Das genus floridum – oft wird es auch medium genannt – erlaubt Nähen zur Umgangssprache und zur dichterischen, ungewöhnlichen Sprache. Das Publikum steht im Vordergrund. Die Stillage ist insofern mittig (medium), als das Publikum weder einen allzu trockenen Bericht hören möchte noch sich beim Lauschen anstrengen will. Merkmale dieses Genus, das sich nun namentlich bei Haarkötter findet, liegen im sparsamen, aber gerne gesehenen Einsatz seltener Wörter, in der häufigen Verwendung elliptischer Satzkonstruktionen, Annäherung an die vermutete Lebenswelt des Lesers (»da streikt selbst der Taschenrechner: overflow error!« bei der Berechnung einer Fakultät, S. 299) und im Bemühen um gehobene Wendungen (so die Rede vom »prätendierten Ende der Literatur«, S. 288) und Konstruktionen (vor allem Partizipien, selbst wenn deren Verwendung in Haarkötters Studie oft nicht richtig ist).

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Die Grenze zwischen dem journalistischen, dem literarischen und dem wissenschaftlichen – namentlich literaturwissenschaftlichen – Stil ist nicht scharf zu ziehen. Wenn hier ein solcher Versuch unternommen wird, so dient er in erster Linie dazu, Haarkötters ungewöhnlicher Arbeit gerecht zu werden. Denn jedes Bemühen um eine ungewöhnliche, reiche, originelle und vielleicht doch lesefreundliche Sprache dient der Erkundung der Sprache selbst, zumal nach wie vor kein Verständnis dafür gewonnen worden ist, wie sich originelles Sprechen von grammatisch falschem unterscheidet, wann etwa eine Metapher gelingt und unter welchen Umständen sie als peinlich oder als unverständlich empfunden wird. 7 Gerade in der Literaturwissenschaft schlägt das genus subtile nicht wirklich selten in einen wenig subtilen Jargon um, in dem sich Schlüsselwörter und Phrasen freudig mischen. Experimente mit dem genus floridum finden sich immer wieder – und in der amerikanischen Literaturwissenschaft sind sie verbreitet. Hingegen wird gerade die Tendenz zum genus grande besonders argwöhnisch betrachtet: wagt ein Literaturwissenschaftler, aus Vergnügen an der Sprache selbst mit der Sprache zu experimentieren, dann löst dies besonderes Befremden aus, da gerade die Literaturwissenschaft seit geraumer Zeit Angst haben muss, sich mit ihrem Gegenstand zu verwechseln, und gerade ihr verboten ist, sich gar als schöne Wissenschaft zu verstehen.

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Diese Scheu vor den gewissermaßen ›fachfremden‹ Stillagen ist Haarkötters Arbeit fremd. Horst Turk, Betreuer der Dissertation, beschreibt deren Besonderheit auf der Rückseite des Buches zutreffend: »Der Argumentationsgang im Ganzen ist brillant, nur dass es sich nicht im gewohnten Sinn um einen übertragbaren Argumentationsgang, sondern eher um einen ›occasionell‹ (Musil) hervorgebrachten Gedankengang handelt, wie er als Objekt der wissenschaftlichen Behandlung, nicht aber als Methode der Erzielung wissenschaftlicher Ergebnisse im deutschen akademischen Leben vorgesehen ist.« Einesteils verweist Turk damit in der Tat auf die Stillage des Textes, denn als Objekt der literaturwissenschaftlichen Behandlung eignen sich in der Regel Texte, die granditer oder floride geschrieben sind. Möglicherweise drückt sich hier Antipathie gegen die verbreitete und unnötige Trockenheit literaturwissenschaftlichen Schreibens aus. Andernteils verbirgt sich dahinter ein Hinweis auf die digressive Struktur des Textes, und der strukturelle Zusammenhang zwischen Occasionalität und Digressivität lässt sich in der Tat nachweisen. 8 Es besteht eine Wechselbeziehung zwischen Stillage und Argumentationsweise: die Digression ist ja durchaus Sammlung sachlich abgelegener, aber feuilletonistisch reizvoller Sachverhalte, die nicht um ihres subtilen Beweischarakters, sondern um des blumigen Buketts willen aufgefahren werden.

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Tatsächlich entsprechen den drei Stillagen und den drei Veröffentlichungskontexten nämlich auch je eigene Argumentationsverfahren. Auch hier gilt, dass es keine zwingende Verbindung zwischen Stil und Argumentationsweise gibt, doch schließt die Erziehung zum Wissenschaftler, Dichter oder Journalisten eine Schulung im stilgerechten Argumentieren ein. Der Dichter muss gar nichts beweisen, darf sogar Unwahres erfinden sowie behaupten und kann ansonsten, wenn er will, allerdings vom dichterischen Genus abweichen und beispielsweise mit der wissenschaftlichen Stillage experimentieren; das ist sein besonderes Prärogativ: die Freiheit. Das wissenschaftliche Verfahren kennt im Groben heute zwei Arten der argumentativen Plausibilisierung: die empirische und die theoretische. Die empirische im strikten Sinne sucht nicht nach einem Beleg, sondern nach einer hinreichend großen Zahl von Phänomenbeobachtungen, die eine Behauptung stützen. Die theoretische hingegen geht von bestimmten Tatsachenfeststellungen aus und sieht ihre Arbeit darin, die Relationen der Tatsachen zueinander zu bestimmen. So arbeiten etwa Festkörperphysiker eher empirisch und Quantenmechaniker eher theoretisch; sehr vertraut ist der Unterschied bei den Sozialwissenschaften, bei denen bisweilen quantitative Sozialforschung und theoretische Soziologie (wie etwa die Systemtheorie) wenig harmonieren. Beide jedoch sind theoretisch in dem Sinne, dass sie allgemeine Aussagen erlangen wollen – aber auch empirisch in dem Sinne, dass sie voll und ganz welthaltig sein wollen und sich daher auch immer wieder an der Welt, wie sie ist, messen lassen müssen.

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Das journalistische Verfahren ist anders, und die Differenz zeigt sich schon an der elementaren Arbeitsweise eines Journalisten: er zitiert eine Quelle, die sogar geschützt sein kann, weil er ihr vertrauen kann. Gerade der investigative Journalismus muss seine Berichterstattung sehr oft auf gezählt eine Quelle stützen. Ein wissenschaftlicher Text wählt ebenfalls eine journalistische Argumentation, wenn er in der Regel mit einem Beleg aufwartet und dieser Beleg nicht selbst schon ›Ausweis des aktuellen Forschungsstandes ist‹. Haarkötters Arbeit nun argumentiert auch in diesem Sinne tatsächlich journalistisch.

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In dieser Argumentationsweise liegt das Bedenkliche der Digressionen. Denn oft erscheinen sie als Produkt eines interessanten Lektürefundes. Erfreuliche Unterhaltung bieten solche Abschweifungen, die Jean Pauls Muster folgen und auf heitere, entferne Themengebiete führen. So erhält man in einer Anmerkung Informationen zum zoologischen Bücherwurm, die sich auf eine Studie von 1880 und auf Microsofts Encarta-Enzyklopädie stützen (S. 214). Interessant ist auch, dass Adriano Sofri in einem italienischen Gefängnis für einen Mord büßt, »den er offensichtlich nicht begangen hat« (S. 135) – als Nachweis für diese Justizschelte dient einzig ein Spiegel-Artikel. Unangenehm wirken aber solche Nachweisverfahren, wenn sie Wissenschaftstheorie oder genuine Fragen der Literaturforschung berühren. Popper verweist darauf, dass ein wenig Zufall und Raten bei der Aufstellung von Theorien walten; das mag so sein. Doch Haarkötter folgert sofort im nächsten Satz: »Dieser Umstand ist mittlerweile auch für die berühmtesten Fälle der (Natur-) [sic] Wissenschaft belegt: ›Die Spezielle Relativitätstheorie, inzwischen durch zahlreiche Experimente bestätigt, ist von Einstein letztlich erraten worden‹« (S. 257). Wie kann die im Plural, ›die berühmtesten Fälle‹, formulierte Aussage durch ein Beispiel »belegt« werden? Wie lässt sich Poppers unpsychologisch gedachte Aussage mit den Arbeitsspuren eines einzelnen Physikers in statthafter Weise in Verbindung bringen? Wie können Überlegungen des Astrophysikers Rudolf Kippenhahn (die von Haarkötters Studie hier zitiert werden) auf Popper ›angewandt‹ werden, streicht doch Kippenhahn vor allem heraus, dass Einstein zum Zeitpunkt der Formulierung seiner Theorie die entscheidenden Möglichkeiten zu ihrer Prüfung noch gefehlt haben? Es geht nicht darum, dass Einstein etwas erriet, sondern dass sein theoretisches Gespür so überlegen war, dass es ihm in diesem Fall den richtigen Weg wies, obschon ihm eine Orientierung an empirischen Fakten nur in geringem Maße gegeben war (im Bereich der Quantenmechanik, der er selbst den Weg bereitet hatte, trog es ihn freilich). Als fatal erweist sich eine Begründung anhand nur eines Nachweises (diesmal ist es Klaus Mainzer), wenn dabei völliger Unsinn entsteht. In einer Anmerkung heißt es (S. 64): »Im 20. Jahrhundert fügen Einstein und Minkowski die Zeit bruchlos in das geometrische System ein, die 4-dimensionale Raum-Zeit M mit der cartesischen Koordinaten x, y, z [sic] und der Zeitkoordinate t [sic]. Darum können heute Entfernungen als Zeiträume benannt werden (z.B. 1 Lichtjahr).« Diese Bemerkung ignoriert nicht nur die spezifische Neuerung (nämlich dass die Geometrie nicht-euklidisch ist, wenn man es verkürzt so sagen darf), sondern interpretiert den Ausdruck ›Lichtjahr‹ völlig falsch, der auch in der Newton’schen Geometrie sinnvoll wäre: ein Lichtjahr ist die Distanz, die das Licht im Vakuum innerhalb eines Jahres durchquert. Die Einheit hätte auch für Newton problemlos Sinn ergeben; die Lichtgeschwindigkeit ist seit dem späten 17. Jahrhundert bekannt. Ein Lichtjahr ist kein Zeitraum, sondern eine ›gewöhnliche‹ räumliche Distanz der alten Mechanik.

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In einer langen Fußnote, die ihrerseits eine Fußnote enthält, beschäftigt sich Haarkötters Studie mit Fußnoten (S. 271–274). Sie greift zwar auf eine handvoll Arbeiten zur Fußnote zurück, referiert aber in erster Linie aus Anthony Graftons einschlägigem Text. 9 Gegen einen mutigen, schwach abgesicherten Exkurs in einer Anmerkung ist wenig einzuwenden, aber in diesem Exkurs selbst gibt es zahllose Exkurse, die erstens die Fußnote doch wieder an den Rand der Seite drücken und zweitens dann völlig ohne Absicherung verfahren.

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Dieses Verfahren findet leider auch regelmäßig Anwendung, wenn die zentralen Thesen der Arbeit begründet werden sollen. So heißt es: »Das Nicht-Verstehen ist einfacher als das Verstehen« (S. 199). Zur Begründung werden Wittgensteins Philosophische Untersuchungen mit einigen Zitaten zum ›Sich-Auskennen‹ angeführt – das genügt. Andere Beispiele sind im Laufe des Textes gegeben worden; und die schmale Bibliographie zum Thema ›Ende‹ zeugt ebenfalls von journalistisch extensiver – nicht von wissenschaftlich extensiver – Lektüre.

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Das Merkwürdige im Verhältnis von Journalismus und Wissenschaft ist, dass jener als welthaltig gilt, während diese von Nichtinvolvierten oft als abgehoben empfunden wird. Der Grund dafür liegt in dem Unterschied, wie überhaupt mit Welt umgegangen wird. Es zeichnet das wissenschaftliche Argumentieren aus, dass man sich mit Skrupel und Umständen Positionen widmet, die man weder mag noch weiter ausführen will, dass man langweilige Forschungsliteratur durchblättert und elend lange Fußnotenlisten tippt. Das Weltfremde liegt darin, dass man sich mit Dingen befasst, die doch offenkundig für das Thema irrelevant sind. Als Wissenschaftler einen Zeitungsartikel zu schreiben kann dagegen als Labsal empfunden werden, weil man plötzlich auf die leidigen Fußnoten verzichten kann und einfach nur sagen darf, was man weiß oder was man zu wissen meint. Der amerikanische Literary Criticism darf (in Monographien) in weit größerem Maße auf die Rezeption von Forschung verzichten als die deutsche Literaturwissenschaft – und dies führt dazu, dass auch das genus floridum jenseits des Atlantiks besser als in Europa prosperieren kann. Umgekehrt kann indessen das journalistische Verfahren sich als weltfremd erweisen, gerade weil es so leichtfertig Behauptungen als erwiesen nimmt und so mutwillig und kurzfristig über Interessantheit und Aktualität entscheiden muss.

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Die moderne Grenze zwischen den drei Genera und Argumentationsweisen ist zudem ›bloß‹ historisch festgefügt, und sie lässt sich, ohne dass ich dies im Detail hier ausführen möchte, auf das 17. Jahrhundert zurückführen. Alle drei Genera haben sich von da an in aller Klarheit voneinander abgegrenzt – aber schon aus dem 16. Jahrhundert und genauer aus Montaignes Essais ist ein Genre tradiert, das sich von der Unterscheidung selbst emanzipiert: der Essay. Der Essay liefert sich weder argumentativ noch stilistisch einem der drei Verfahren bedingungslos aus und bewahrt damit eine Freiheit der Formgebung, die gerade für prekäre Fragestellungen von Belang ist. Adorno bemerkt, dass sich der Essay gegen die Abwertung der Rhetorik und gegen das Wissenschaftsideal wendet, das Descartes und Bacon inauguriert haben. 10 Der Essay setzt auf das Argument und weiß um das instabile Verhältnis zwischen Worten und Dingen; er zeiht die rein wissenschaftliche Argumentationsweise ihrer Abhängigkeit von kontingenten Setzungen. Er ist, wie Stanitzek erklärt, eine Infragestellung der »Hygienebestrebungen« 11 , die in der strikten Scheidung von Wissenschaft und Kunst walten.

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Die Arbeiten der Literaturwissenschaft finden sich schnell – und aus strukturellen Gründen – in der Nähe des Essays wieder. 12 Denn wo man sich mit den Eigenarten eines Kunstwerks befasst, ist eine Generalisierung nach dem Vorbild empirischer Wissenschaft ohnehin unmöglich. In der Tat ist die Literaturwissenschaft deshalb immer wieder zu einer Argumentationsweise verpflichtet, die in der cartesianischen Tradition nicht als wissenschaftlich gelten kann, allein schon weil sie sich Singularitäten widmet. 13 Stanitzek legt Wert auf die Feststellung, dass sie – und natürlich auch der Essay – aus diesem Grunde umso weniger auf theoretische und rhetorische Reflexion verzichten kann. Nur wenn sie an ihre Argumentationsweise höchste Ansprüche stellt, kann sie auf bestimmte Formen der generalisierbaren Empirie verzichten.

[42] 

Haarkötters Studie signalisiert, dass sie als Essaysammlung oder als längerer Essay begriffen werden will. Sie weiß: »Diskontinuität ist dem Essay wesentlich« 14 . Aber sie geht fälschlich davon aus, dass Diskontinuitäten schon dafür garantieren, dass die Studie zum Essay wird. Sie vermutet gänzlich zu Recht, dass ein Essay im Idealfall ein Trojanisches Pferd ist; aber es geht darum, Odysseus zu schmuggeln – und nicht das Holz. Und mag der Essay auch in der Wahl der Stillage und der Argumentation frei sein, so ist ihm doch am fernsten das genus floridum; denn in ihm lässt sich weder Genauigkeit erlangen noch eine Neuartigkeit im sprachlichen Ausdruck. Es ist deshalb schon bei Quintilian das ›mittelmäßige‹ genus.

[43] 

Wie weit die Poetologie trägt, die Haarkötters Studie vorstellt, soll hier offen bleiben. Ich möchte ohne jede Bewertung nur einen kurzen Einblick in die Schlussgedanken zu Kafkas Proceß geben:

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Was hier für Kafkas Proceß festgestellt wurde, gilt das nicht auch für andere literarische Texte? Man könnte es annehmen. Es gilt mutatis mutandis für jeden narrativen Diskurs: Haben wir Autorinnen erst einmal subversiv-auktoriale Manöver zugestanden, haben wir ihnen andererseits die Verfügungsgewalt über den Grad der Fertigstellung des literarischen Textes genommen. Da es für keinen Text ein Kriterium dafür gibt, wann er als »fertig« zu gelten hat, ist jede Literaturproduktion ein »Schreiben an Unfertigem«. Für jeden literarischen Text gilt dann nur die Option, entweder Torso oder Ruine zu sein. Literatur in toto kennt dann keine Totalität, harrt ihrer »Vollendung« in der palimpsestuösen Lektüre oder der editorischen Praxis und frönt derweil dem »Ideal des Kaputten«. Vielleicht nicht das schlechteste Ideal. (S. 212)
[45] 

Vielleicht besitzt diese Poetik einen nicht gerade stilsicheren Namen (»Ideal des Kaputten« – man dächte hier eher an Rainald Goetz), aber der Ehrlichkeit einer solchen Selbstexplikation gebührt ein wenig Respekt. Allzu oft verschweigt nämlich die rhetorisch sich wissenschaftlich gebende Literaturforschung ihre poetologischen Glaubenssätze – und im Schlimmstfall weiß sie nicht einmal um sie.

[46] 

Coda

[47] 

Leider ist die Arbeit handwerklich nicht gut ausgeführt. Sie leidet unter einer Vielzahl von orthographischen, grammatischen und typographischen Fehlern. 15 Das Literaturverzeichnis ist unsystematisch und nicht durchgängig alphabetisch sortiert. 16 Die Rechtschreibung folgt weitgehend derjenigen des 20. Jahrhunderts, setzt aber die automatische Silbentrennung der neueren ein: dabei ist etwa die Regel, nach der ›st‹ getrennt wird, arbiträr und somit gleichgültig zu bewerten, aber die sehr häufigen Anfangsvokal-Trennungen der Art ›E-pen‹ und ›I-lias‹ (S. 31) stören das Lesen erheblich. Diese Mängel, sieht man von den Schwächen im Ausdruck ab, fallen allerdings im Vergleich nicht zu sehr ins Gewicht.

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Mit seiner Dissertation legt Haarkötter eine mutige, ideenreiche Arbeit vor. Sie lässt sich nicht als gewöhnliche literaturwissenschaftliche Arbeit einordnen, sondern greift auf journalistische Stillage und Argumentationsweise zurück. Damit befremdet sie und verschenkt Genauigkeit zugunsten von vermeintlicher Gefälligkeit und Digression. Dennoch gibt sie zahlreiche Gedankenanstöße – und um dieser Gedankenanstöße willen empfiehlt sie sich einer Lektüre.

 
 

Anmerkungen

Für eine Bibliographie von 1995 vgl. Wolfgang Haubrichs: Kleine Bibliographie zu Anfang und Ende in narrativen Texten (seit 1965). In: Lili 99 (1995), S. 36–50. Ich fühle mich dazu verpflichtet, auf meine eigene Dissertation zu verweisen, die über eine Bibliographie zum erzählerischen Ende verfügt: Remigius Bunia: Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien. Berlin: Erich Schmidt 2007, S. 270–276.   zurück
Siehe etwa Anton Fuxjäger: Diegese, Diegesis, diegetisch: Versuch einer Begriffsentwirrung. In: Montage/AV 16.2 (2007), S. 17–37.   zurück
Vgl. Dirk Baecker: Hilfe, ich bin ein Text! In: Klaus Kreimeier / Georg Stanitzek (Hg.): Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Berlin: Akademie 2004, S. 43–52.   zurück
Vgl. Michael Tomasello: Constructing a Language. A Usage-Based Theory of Language Acquisition. Cambridge, London: Harvard UP 2005.   zurück
Für eine hervorragende Übersicht, die die Nähen zwischen radikalen Positionen des hypothetischen Intentionalismus und der intentionskritischen Haltungen auslotet und damit das Feld der Diskussion wieder weiter öffnet, vgl. Carlos Spoerhase: Hypothetischer Intentionalismus. Rekonstruktion und Kritik. In: Journal of Literary Theory 1 (2007), S. 80–109. Der hypothetische Intentionalismus lässt sich als wichtiger Schritt hin zu einer Theorie der Intentionszuschreibung verstehen.   zurück
Hier heißt Poetik das Einbegreifen einer normativen oder literaturkritischen oder zumindest ästhetizistischen Komponente. Vgl. Jerome McGann: The Scholar’s Art. Literary Studies in a Managed World. Chicago, London: Univ. of Chicago Press 2006.   zurück
Dass Figur und Fehler nicht leicht zu unterscheiden sind und genauso wenig rhetorische Innovation und grammatische Regelverletzung, zeigt in aller Eindrücklichkeit David Martyn: »«. In: Jürgen Fohrmann (Hg.): Rhetorik. Figuration und Performanz. Stuttgart: Metzler 2004, S. 397–419. Das heißt freilich nicht, dass es keine Fehler gibt, sondern bloß, dass sie schwierig zu erklären sind.   zurück
Vgl. Till Dembeck: Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul). Berlin, New York: de Gruyter 2007.   zurück
Zu einem aktuellen Überblick über die Geschichte der Fußnote und über ihre komplexen Formen vgl. Bernhard Metz / Sabine Zubarik (Hg.): Am Rande bemerkt. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten. Berlin: Kadmos 2008.   zurück
10 
Theodor W. Adorno: Der Essay als Form (1958/1973). In: T.W.A.: Noten zur Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 9–33, hier S. 22–29.   zurück
11 
Georg Stanitzek: Referat über Essay und Ästhetik. In: Gregor Schwering / Carsten Zelle (Hg.): Ästhetische Positionen nach Adorno. München: Fink 2002, S. 87–101, hier S. 93. Der Essay stellt sich in Opposition zur logisch bruchlosen Darstellung (ebd., S. 91).   zurück
12 
Vgl. ebd., S. 94. Vgl. auch Georg Stanitzek: Abweichung als Norm? Über Klassiker der Essayistik und Klassik im Essay. In: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. Stuttgart: Metzler 1993, S. 594–615, hier S. 610.   zurück
13 
Vgl. auch Derek Attridge: The Singularity of Literature. London, New York: Routledge 2004, S. 63 f.   zurück
14 
Theodor W. Adorno (Anm. 10), S. 25.   zurück
15 
Orthographische Fehler finden sich beispielsweise bei französischen Wörtern oder bei ungewöhnlicher Zeichensetzung. Was die Grammatik anbetrifft, finden sich zahlreiche Kongruenz-Fehler bei als-Konstruktionen, Bezugsfehler bei Partizipialkonstruktionen (Partizip Präsens bezieht sich auf das Subjekt, möchte sich aber logisch lieber auf einen anderen Satzteil beziehen lassen), selten eine grob unangebrachte Moduswahl, mehrere Genusfehler und einige aparte Dative (z. B.: »In einer Art dekonstruktivistischem stream of consciousness […]«, S. 291). Die Mängel der Typographie sind seltsam und lassen Softwareprobleme vermuten: teilweise werden Fußnotenanker in Courier gesetzt, und immer wieder finden sich Schriftzeichen, die einen oder zwei Punkt größer geraten sind; der Zeilenabstand bei längeren Zitaten ist nicht fixiert, so dass die letzte Zeile immer einen höheren Durchschuss hat, wenn dort ein Fußnotenanker steht. Doch auch systematisch fehlende Leerzeichen bei Seitenangaben sind typographische Vergehen. Besonders unerfreulich sind schließlich Sätze wie der folgende: »Der Vorschlag war, solche komplexen Texte als Hypertexte aufzufassen, wobei weniger den aus der Computerwelt bekannten Begriff gemeint st, als vielmehr jener Terminus, den Gerard Genette in seinem Buch über ›Transtextualität‹ entwickelt hat« (S. 342).   zurück
16 
Es fehlen bedauerlicherweise die Nachweise zu den Jerry-Cotton-Heften. Sortierfehler finden sich etwa um Niklas Luhmann und Friedrich Schlegel herum.   zurück