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»Weihnachten 1943. Theresienstadt. Mein lieber Junge! Heute vor 4 Jahren bist Du zum letzten Mal zu uns gekommen.« (S. 37) Mit diesen Worten beginnt Hugo Heumann für seinen in den Niederlanden untergetauchten Sohn ein Tagebuch zu schreiben, das sowohl den Alltag von Enteignung, Exil und Deportation nachzeichnet als auch einen Einblick in die Gefühls- und Erfahrungswelt des Überlebens im Konzentrationslager gewährt. Die Verschränkung von Faktenschilderung und Selbstvergewisserung verleiht dem Tagebuch seinen besonderen Charakter. Heumann versucht seinen Erinnerungen und Erfahrungen individuelle Momente und damit eine Zukunftsperspektive abzuringen, die mit den immer weiter eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten zunehmend entschwindet. Da zum Zeitpunkt der Niederschrift weder über das eigene Überleben noch darüber entschieden ist, ob die Aufzeichnungen eines Tages ihren Adressaten erreichen werden, erhalten sie den authentischen Charakter eines Tagebuchs, das frei von nachträglichen Dramatisierungen und Idealisierungen ist. Es endet am 26. August 1945 mit dem Hinweis, dass vieles darin »ungesagt« (S. 85) bleiben musste, was sonst bei seiner Entdeckung für den Verfasser den sicheren Tod bedeutet hätte.
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Hugo Heumann wurde 1876 in Mönchengladbach geboren und leitete zusammen mit seinem Bruder eine Textilfabrik, die der Vater in der Gründerzeit aufgebaut hatte. Er war Mitglied der Dichtervereinigung Schlaraffia und gehörte bis 1936 dem Vorstand der Synagogengemeinde an. Das Tagebuch setzt mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf das Unternehmen und den damit verbundenen Sorgen ein, »an die ich sogar heute, wo wir doch auch genug gequält werden, nur mit Schaudern denken kann. […] erst 1937 begann wieder ein Aufstieg, der uns hoffen liess, in einigen Jahren die Krise zu überwinden.« (S. 38) Im März 1938 wird der Betrieb arisiert und Hugo Heumann zum »Berater und Einarbeiter der neuen Leitung« (S. 38) degradiert. Seitdem bemüht er sich zusammen mit seiner Frau Selma Heumann-Dalberg (geb. 1893) um die Auswanderung in die USA. Nach dem Novemberpogrom entscheiden sie sich für Luxemburg als vorläufiges »Warteland« (S. 39). Der Sohn seiner Schwester Helene, die 1906 nach Luxemburg geheiratet hatte, besorgt ihnen die Einreiseerlaubnis.
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Luxemburg als »Warteland«
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Bei ihrer Ankunft in Luxemburg im April 1939 bekommen sie von der Schwester »gleich eine kalte Dusche, die uns zum Bewusstsein brachte, dass wir arme Verwandte u. auf Mildtätigkeit angewiesen waren« (S. 40). Die Schwester organisiert ihnen eine kleine Wohnung auf dem Land. Dort nutzen sie die »Gelegenheit zu schönen Wanderungen, wobei nur die Nähe der belgischen bzw. französischen Grenze etwas störte, die wir ohne Ausweis ja nicht überschreiten durften« (S. 41). Die ausführlichen Schilderungen der beengten Wohnverhältnisse, die kaum Platz für die mitgebrachten Möbel boten, und des sparsamen Haushalts, der von den Zuwendungen der Verwandten abhängig war, dokumentieren den langsamen Übergang aus der Normalität eines selbstgestalteten Lebens in die Nöte des Exils. Zugleich vergewissern sie sich jedoch auch einer Normalität, die zum Zeitpunkt der Niederschrift des Tagebuchs nur noch in der Erinnerung existierte.
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Im Mai 1940 marschieren die Deutschen in das neutrale Luxemburg ein. Nach mehreren Evakuierungen und Umzügen zieht das Ehepaar Heumann in die Stadt Luxemburg zur Schwester, wo sie die Stellung eines »›unbezahlten Dienerehepaars mit beschränktem Familienanschluss‹« (S. 47) haben. Da die deutsche Zivilverwaltung jedoch nicht nur den Emigranten, sondern auch den Luxemburgern das Leben erschwert, rückt die unter einem Dach wohnende Familie etwas zusammen. Es beginnt die Zeit der Ausweisungen, Internierungen und Deportationen. Im Mai 1941 emigrieren die Schwester Helene und der Bruder Moritz mit ihren Familien in die USA, während Hugo und Selma vergeblich auf eine Einreiseerlaubnis warten. Nach einer Vereinbarung zwischen Jüdischer Gemeinde und Gestapo wird das Haus der Schwester zu einem ›Altersheim‹ für die in Luxemburg verbliebenen Juden. Nach wenigen Monaten beschlagnahmt die Zivilverwaltung das Haus und interniert die Juden in dem abgelegenen Kloster Fünfbrunnen bei Ufflingen.
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»von der Individual- zur Collectiv-Wirtschaft«
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Hugo und Selma Heumann werden zusammen mit einem anderen Ehepaar mit der Leitung des ›jüdischen Altersheims‹ betraut. Als entscheidende Umstellung beschreibt Hugo Heumann nicht die neuen Wohnverhältnisse, sondern die Tatsache, in der Ernährungsweise »von der Individual- zur Collectiv-Wirtschaft überzugehen; auch ich habe erst im Laufe der Zeit u. besonders in Theresienstadt den fundamentalen Unterschied begriffen.« (S. 55) Trotz der vorläufig guten Versorgung versuchen alle Insassen in ihren Zimmern zusätzlich zu kochen, um den Anschein eines bürgerlichen Lebens aufrechtzuerhalten, der in Theresienstadt dann endgültig zunichte wird, wo die Ernährung zwar grundsätzlich für alle gleich sein soll, das Überleben jedoch nicht zuletzt davon abhängt, sich auf eigene Faust Essbares zu organisieren.
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Über die Internierung im Kloster Fünfbrunnen hat Selma Heumann 1979 in einem englisch geführten Interview berichtet, das als ergänzende Quelle im Anhang des Buches wiedergegeben ist. Den Kontrollen der Gestapo vermag sie nur mit einiger List zu begegnen, während ihr Mann auf Wanderungen die Umgebung genießt oder im Dorf Lebensmittel organisiert. Als sie ihm und einem seiner Begleiter nach einer Kontrolle mitteilt, die Gestapo sei dagewesen, antwortet er ihr, dass er deren Wagen gehört und sich noch tiefer im Wald versteckt habe. »I said, ›You are heroes. You left me alone.‹« (S. 111)
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»die bittere Wahrheit, dass der Mittellose nur Object aber nicht Subject ist«
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Da sich die erzählte Zeit des Tagebuchs mit der Deportation nach Theresienstadt im April 1943 der eigenen Gegenwart nähert, wagt Hugo Heumann ein erstes Resümee und erkennt in seinen bisherigen Aufzeichnungen »die bittere Wahrheit, dass der Mittellose nur Object aber nicht Subject ist« (S. 63). In Theresienstadt wird er zur Arbeit in der ›Zentralevidenz‹, der Verwaltung des Konzentrationslagers, eingeteilt, während Selma Heumann Betreuerin in einem Kinderheim wird. Zu seinen »starken Theresienstädter Erlebnissen« (S. 75) gehört der psychische Zusammenbruch des Schauspielers und Drehbuchautors Heinz Gordon, der die Erinnerung an alltägliche Dinge wie Essen und Trinken verlor, so dass Heumann zunächst denkt, »dass er nur simuliere, um uns zu veranlassen, ihn zu betreuen, da er keine Verwandten hier hatte.« (S. 74) Bei sich selbst registriert Heumann seelische Veränderungen wie Neid, Unehrlichkeit, Gereiztheit, Geiz und Habgier »Es wird höchste Zeit, dass wir bald in andere, geregeltere Verhältnisse kommen, damit ich nicht ganz zum schlechten Menschen werde.« (S. 78)
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Zwar erhält das Ehepaar Heumann nur selten Essenspakete, sie sind aber durch Hugo Heumanns Tätigkeit in der Lagerverwaltung privilegiert. Im Oktober 1944 werden sie in letzter Minute durch den Chef der Lagerverwaltung vor der Deportation bewahrt, während fast alle anderen Luxemburger Juden, die sie aus Fünfbrunnen kannten, in die Vernichtungslager deportiert werden. Wohin diese stets drohenden, aber mit ungewissem Ziel abgehenden Transporte führten, hat Heumann erst erfahren, als gegen Ende des Krieges die Todesmärsche aus dem Osten über Theresienstadt führen.
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Dass es für das Ehepaar Heumann eine gemeinsame Zukunft geben wird, zeigt das Tagebuch an, indem Hugo Heumann nach der Befreiung des Lagers vom Singular in den Plural wechselt. Das beginnt mit dem Eintrag vom 6. Mai 1945, der über einen Transport in die Schweiz im Februar berichtet, zu dem sich das Ehepaar nicht gemeldet hatte, »weil wir beide auf dem Standpunkt standen, nicht ›Schicksal spielen‹ zu wollen, sondern uns wie bisher treiben zu lassen.« (S. 81) Am 12. Juni verlassen Hugo und Selma Heumann Theresienstadt mit einem Transport Richtung Holland. In Bamberg müssen sie als Displaced Persons jedoch noch zwei Monate auf ihre Rückkehr warten, da ehemaligen deutschen Staatsbürgern zunächst die Einreise nach Luxemburg verweigert wird. »Was soll nun aus uns werden? wir denken mit Schrecken daran, wieder nach Gladbach zurückkehren zu müssen« (S. 84)
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Zur Edition
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Das Ehepaar Heumann blieb bis 1948 in Luxemburg, um schließlich in die USA nach Los Angeles auszuwandern, wo Hugo Heumann 1973 und Selma Heumann 1990 im hohen Alter gestorben sind. Ihr Sohn Walter hat das Tagebuch seines Vaters im Jahr 2000 dem Archiv des Simon Wiesenthal Centers in Los Angeles gestiftet. Dass es nun in einer vorzüglichen Edition einer breiteren Öffentlichkeit vorliegt, ist dem Luxemburger Centre nationale de littérature in Mersch zu verdanken, das in diesem Jahr eine große Ausstellung über das »Exilland Luxemburg« zeigt. Mit den zahlreichen Abbildungen und der ansprechenden Gestaltung profitiert das Buch von der Ausstellung, zu der auch ein umfangreicher Katalog erschienen ist.
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Die Herausgeber Germaine Goetzinger und Marc Schoentgen haben in ihrer Einleitung den Kontext des Luxemburger Exils und die Biografie Hugo Heumanns detailliert rekonstruiert. Zahlreiche Textanmerkungen zu Verwandten und Freunden, die Hugo Heumann bei seinem 1921 geborenen Sohn als bekannt voraussetzen konnte, und zu Personen, Orten und Ereignissen der Luxemburger Geschichte erleichtern die Lektüre des Tagebuchs. Dass auch zahlreiche Begriffe aus dem Kontext des Judentums, des Nationalsozialismus und der Schoa erklärt werden, empfiehlt das Tagebuch für die pädagogische und historische Bildungsarbeit und erinnert den mit diesen Themen vertrauteren Leser daran, wie wenig selbstverständlich diese Dinge sind. Und wie wenig das, was im Tagebuch »ungesagt« bleiben musste, später gesagt werden konnte, zeigen die nach 1945 entstandenen Texte von Hugo Heumann, die im Anhang neben dem bereits erwähnten Interview mit Selma Heumann wiedergegeben werden.
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Ein Dokument des Exils oder des Lagers?
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Die Herausgeber heben hervor, dass es sich bei dem Tagebuch von Hugo Heumann um ein Dokument des Exils handelt, obwohl es doch in einem Konzentrationslager entstanden ist. Die Exilforschung ist immer wieder mit dem Dilemma konfrontiert, entweder literarische Zeugnisse zu interpretieren, in denen sich die Mehrheit der Emigranten nicht wiedererkennt, oder soziale und politische Aspekte zu rekonstruieren, die den Erfahrungen der Flüchtlinge äußerlich bleiben. Viele Erlebnisberichte des Exils beziehen sich auf Diskriminierung, Verfolgung und Widerstand in den Herkunftsländern und auf Neuorientierung, Selbstbehauptung und Anerkennung in den Zufluchtsländern. Wer über sein individuelles Exil sprechen kann, hat es tendenziell schon überwunden, so dass es nicht nur an einer politischen Repräsentation, sondern auch an authentischen Erzählungen des Exils mangelt.
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In dieser Hinsicht ist das Tagebuch von Hugo Heumann ein einzigartiges Dokument, das in seinen »Immunisierungs- und Selbstvergewisserungsstrategien« den »existenziellen Bruch« einer »Extremsituation« (S. 30) bezeugt, wie die Herausgeber zusammenfassend feststellen. Hugo Heumann registriert weniger die unmittelbaren Überlebenschancen und Todesdrohungen des Lagers als den unendlichen Alltag des Überlebens, der sich seit der Flucht aus Deutschland in eine ungewisse Zukunft zu erstrecken scheint. Nicht zuletzt die konsequente Vergangenheitsform des Tagebuchs schafft eine Distanz, die nur im Schutz der direkten Ansprache des Sohnes in die Gegenwart einer gemeinsamen Zukunft durchbrochen wird. »Wie wird es werden, wenn diese Leidenszeit einmal zu Ende sein wird?«, notiert Hugo Heumann am Geburtstag des Sohnes. »Man hört hier oft die Ansicht, man solle sich mit derartigen Fragen nicht belasten […]; in meinem Alter darf man aber keine Fehler mehr machen, wenn man nicht die paar Jahre, die man wohl noch vor sich hat, ganz verhunzen will.« (S. 77)
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Die Zukunft der Vergangenheit
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Hugo Heumann hat eine überarbeitete und gekürzte Fassung seines Tagesbuchs dem Leo Baeck Institute in New York zur Verfügung gestellt. Lange Zeit wurden Tagebücher, Augenzeugenberichte und Memoiren im Kontext der Schoa unter dem Aspekt der Authentizität diskutiert, um die historische Forschung und juristische Aufarbeitung als Quellen zu ergänzen und Zeugnis davon abzulegen, was als historisches Dokument vernichtet und unter dem Diktat der Zukunft unaussprechbar geworden war. Sie haben dazu beigetragen, die Schoa zu rekonstruieren und über sie sprechen zu können. Da inzwischen das historische Interesse an biografischen Zeugnissen im Moment ihrer Veröffentlichung zu erlahmen scheint, ist die Veröffentlichung des ursprünglichen Tagebuchs von Hugo Heumann ein Glücksfall für die Vermittlung von historischem Wissen und individueller Erfahrung, die das kollektive Gedächtnis der Zukunft prägen werden.
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