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Intermedialität, Visualität und Übertragung in andere Medien

Zu Sandra Poppes anregender Untersuchung der Adaptionen von Prousts „Le temps retrouvé“ durch Ruiz, Kafkas „Der Proceß“ durch Welles und Conrads „Heart of Darkness“ durch Coppola.

  • Sandra Poppe: Visualität in Literatur und Film. Eine medienkomparatistische Untersuchung moderner Erzähltexte und ihrer Verfilmungen. (Palaestra. Untersuchungen zur europäischen Literatur 327) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 334 S. Broschiert. EUR (D) 54,90.
    ISBN: 978-3-525-20600-3.
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Sobald die eine Kunst die andere nachahmt, entfernt sie sich von ihr, indem sie den Zwang des eigenen Materials verleugnet und verkommt zum Synkretismus in der vagen Vorstellung eines undialektischen Kontinuums von Künsten überhaupt. […] Die Künste konvergieren nur dort, wo jede ihr immanentes Prinzip verfolgt. 1
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Sandra Poppe ist eine anregende Untersuchung gelungen, die in ihrer klugen Kombination aus grundsätzlichen Überlegungen und drei detaillierten Einzeluntersuchungen Grundlegendes zum Thema der Umsetzung von literarischen Texten in Filmkunstwerke liefert. Doch geht es ihr nicht um bloße Literaturverfilmungen, sondern darum, wie »sich die Visualität in verschiedenen Künsten gestaltet und inwiefern sie als Brücke zwischen den Medien verstanden werden kann« (S. 11). Die »Darstellung und Semantisierung von Visualität« wird von ihr deshalb »als eine Gemeinsamkeit von Literatur und Film« und »daher als ein die Medien verbindendes Phänomen angesehen« (S. 12). Sie will letztlich sogar »im Bereich Literatur und Film eine allgemeine Definition von Visualität« erarbeiten (S. 13). Die im Sommersemester 2006 in Mainz als Dissertation angenommene Arbeit erscheint in der renommierten Reihe Palaestra bei Vandenhoeck & Ruprecht (etwa Wolfgang Kaysers und Albrecht Schönes epochemachende Habilitationen erschienen dort) – eine willkommene Neubelebung.

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Die Studie ist zweiteilig aufgebaut: An einen theoretischen Teil schließt sich ein zweiter Teil mit exemplarischen Untersuchungen an. Im ersten Teil werden theoretische Implikationen des Themas beleuchtet: Thema ist dabei nicht Intertextualität (eine Verbindung zwischen Texten), sondern vielmehr Brüche und Übergange zwischen verschiedenen Medien (S. 22). Letztlich geht es aber, wie Fani Parafarou in ihrer Rezension zu diesem Band im IASL herausgearbeitet hat, darum, »Visualität als tertium comparationis zwischen Literatur und Film« zu etablieren und so eigentlich »Visualität als Schnittstelle« zu beschreiben.

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Leser oder nicht Leser?

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Das zeitigt ab und zu seltsame Ergebnisse: So geht Poppe davon aus, »daß Visualität in der Literatur unabhängig von der möglichen Visualisierung durch den Leser nachgewiesen werden kann« (S. 34). Gleichzeitig behauptet sie aber, dass im Roman häufig »nur ein Raumausschnitt« gezeigt werden kann, der »als vollständig vorausgesetzt wird und vom Leser ergänzt werden muß« (S. 46). Anscheinend spielt in ihrem Ansatz die Tätigkeit des Lesers und seine Vorstellungen keine Rolle – und dann irgendwie doch. Ihre sporadischen Hinweise auf Cognitive poetics (etwa S. 318), die die Zukunft der Intermedialitätsuntersuchungen darstellten, zeigen diese Unentschiedenheit: Ist der Leser (oder Zuschauer) nun von Interesse – oder ist er es nicht?

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Handwerkszeug

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Im theoretischen Teil sortiert Poppe ihr Handwerkszeug: Sie unterscheidet verschiedene Formen von Beschreibungen, nämlich eine reine (die Textpassage enthält nur und ausschließlich Beschreibungen), eine dominante (der Text ist mit Handlungselementen oder Reflexionen angereichert) und eine punktuelle Beschreibung (die Handlung dominiert, S. 39–44).

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Besonders unterstreicht sie die Rolle der filmischen Ekphrasis (als Sonderform der Beschreibung, die im Text normalerweise verbal ein Artefakt sprachlich zu vergegenwärtigen sucht). Die im Text beschriebenen Artefakte können im Film immer direkt gezeigt werden.

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Auch unterscheidet sie fünf Formen der Transformation von Prosa in ein Filmkunstwerk, nämlich 1. die stofforientierte (die Story oder das Thema werden mit einer groben »Ähnlichkeit in der Figuren- und Handlungsgestaltung«, so S. 92, übernommen), 2. die handlungsorientierte (es geht mehr »um die erzählte Handlung und nicht so sehr um die Erzählsituation«), 3. die analoge Transformation (sowohl Story und Plot als auch die besondere Erzählweise des Textes werden umgesetzt), 4. die interpretierende (die von der dritten Form durch »eine eigene Interpretation«, so S. 93, der Textvorlage abweicht) sowie 5. die freie Transformation (die sich am weitesten von der Textvorlage entfernt, denn nur noch einzelne »Aspekte oder Motive«, so S. 94, werden noch übernommen, vgl. insgesamt S. 92–95).

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Besonders interessant sind ihre Bemerkungen über Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Text und Film in Bezug auf räumliche Darstellungen: Im »audiovisuellen Medium fallen Benennung und Beschreibung zusammen«.

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[…] [J]e komplexer sich die Visualität in Text und Film gestaltet, desto mehr wird in beiden Medien auf jeweils spezifische Ausdrucksmittel zurückgegriffen, wodurch sich Transform [das zu Transformierende] und Transformation auf der konkreten Ebene um so mehr voneinander unterscheiden. (S. 112)
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Drei Filme

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Drei Texte und ihre Verfilmungen kommen im zweiten praktischen Teil ins Blickfeld, nämlich Prousts Le temps retrouvé als analoge Transformation durch Raoul Ruiz, die interpretierende Transformation von Kafkas Der Prozess durch Orson Welles (der Kafkas Werk vereindeutigt, indem er zum Beispiel explizit auf das III. Reich anspielt und dem Protagonisten K. zugesteht, sich gegen das ihn bedrängende System stemmen und von diesem absetzen zu können ) sowie Francis Ford Coppolas Apocalypse now / Apocalypse now redux als freie Transformation, die in der Verlagerung des Textes aus dem Afrika des 19. Jahrhunderts in den Vietnam-Krieg nur noch sehr wenig mit der Vorlage zu tun hat.

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Die Zweiteilung der Arbeit beziehungsweise die Vorarbeiten im theoretischen Teil tragen hier nun Früchte. Doch wird man den Eindruck nicht immer los, dass die Auswahl der Transformationen in dieser aufsteigenden Linie als immer radikalere Befreiung von den Vorgaben der literarischen Vorlage allzu gut aufgehen – als habe Poppe am Ende nur die Ostereier gefunden, die sie im theoretischen Teil wohlgeordnet zurechtgelegt und dann in den sorgsam ausgesuchten Fallbeispielen versteckt hat. Dennoch kommt sie zu interessanten Ergebnissen, etwa Ruiz habe sich nicht nur vom Text, sondern auch durch Lebenszeugnisse Prousts beeinflussen lassen, versuche also, Autor und Text als Erinnerungsbild einer bestimmten Zeit so nah wie möglich zu kommen. Proust versuche auch im Text, »poetologische Aussagen anhand von visueller Materialität« zu transportieren, was Ruiz seinerseits aufgreift. Doch ergibt sich ein Problem: Die »Vieldeutigkeit dieses medialen Subtextes wird im Film« oft nur »durch Rückkoppelung an die literarische Vorlage deutlich, die der Zuschauer selbst leisten muß« (S. 151), etwa auch dann, wenn Ruiz unsichere Erinnerung dadurch darstellt, dass »sich nicht nur Kamera und Möbel, sondern auch Möbel und Raumaccessoires« bewegen (S. 174). Ruiz bewegt sich auf eine bestimmte Art also zu nah am Text.

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In der Untersuchung von Wells Sicht auf Kafkas Werk interessiert sich Poppe besonders für die Körperlichkeit der Figuren bei Kafka und die Inszenierung von Körpern durch Welles (etwa durch Unter- und Obersicht auf diese Körper, denn die Kamerastellung zeige »das Machtgefälle zwischen den Figuren an«, S. 197). Welles will K. aber vor allem nicht als »unwissenden Kollektivschuldigen«, sondern als »Individuum, das am Ende Verantwortung übernimmt« (S. 234), zeigen. Deshalb ist K. schließlich in der Lage, sich von der ihn bedrängenden Welt abzulösen und einen »Überblick über die Situation« (ebd.) zu gewinnen: Die »die Mehrdeutigkeit des Textes« wird aber auf diese Weise »auf eine Deutung reduziert« (S. 240).

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Die freie Transformation Coppolas von Conrads großem Roman entfernt sich noch stärker von ihrer Textvorlage. Im Roman von Conrad geht es um die Unterjochung und Versklavung der afrikanischen Urbevölkerung, bei Coppola jedoch um die auch regressive Entwicklung junger Soldaten in Vietnam. Während es »bei Conrad die afrikanischen Einheimischen sind, die in der Hölle des Kolonialismus‘ gequält werden, sind es hier amerikanische Soldaten, die in der selbst erschaffenen Hölle ihres eigenen Krieges festsitzen« (S. 275). Spezielle filmische Techniken (wie Schwarzblende oder bestimmte als Klammermotive immer wieder auftauchende Stilmittel wie etwa die Verwendung orangenfarbener Farbeindrücke oder Schminke in den Gesichtern der Soldaten, prägen den Film und lassen sich trotz der großen Entfernung zwischen dem Urtext und der freien Transformation in den Vietnamkrieg hinein auf bestimmt (visuelle) Vorgaben in Conrads Text zurückbeziehen.

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Visualität als Schlüssel zu allem?

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Als Ergebnis hält Poppe fest, »daß die visuelle Darstellung und Semantisierung trotz aller medialen Unterschiede eine maßgebliche Gemeinsamkeit von Text und Film darstellt und damit innerhalb des Transformationsprozesses eine bedeutende Position einnimmt« (S. 313). Visualität, so das Ergebnis der Untersuchung, kann »als Brücke zwischen den Medien Literatur und Film und somit als intermediales Phänomen« (S. 314) verstanden werden.

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Und Poppe geht noch weiter: Da Visualität »häufig mit dem Kern der Werkästhetik verbunden ist und andererseits als intermediales Phänomen einen Anreiz zur medialen Transformation bietet, sollte sie in zukünftigen Untersuchungen zum Medienwechsel stärker berücksichtig werden«, denn es zeigt sich, »daß der Vergleichspunkt der Visualität nicht nur eine ebenso große Gemeinsamkeit benennt, sondern auch die medialen Unterschiede sowie die ästhetischen Besonderheiten der Werke ins Blickfeld rückt«: Besonders »im Fokus der Visualität lassen sich die Konvergenzen und Übergänge, die Differenzen und Parallelen beider Medien besonders nachvollziehen« (S. 317).

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Probleme

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Wie bereits angeführt, wird man nicht immer den Eindruck los, dass Poppe im Untersuchungsteil das herausfindet, was sie vorher im theoretischen Teil angelegt beziehungsweise versteckt hat. Dieser theoretische Teil wird außerdem allzu oft durch das (oft nachträgliche) Referat von Forschungsliteratur schwerfällig (dies ist jedoch vermutlich der Form der Doktorarbeit geschuldet). Unangenehm sind aber diese Referate als Selbstversicherungsversuche (etwa S. 57, zu einer ähnlichen Aufzählung visueller Merkmale im Text kommt auch ein anderer Forscher, dessen Ergebnisse sie ohne größeren Erkenntnisgewinn dann ausführlich referiert). Fasst Poppe selbst Ergebnisse zusammen, wirkt sie oft übervorsichtig (meist könne festgehalten werden oder könne man sagen, dass vielleicht und so weiter).

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So erfrischend die Konzentration auf das eingegrenzte Thema der Visualität als intermediales Phänomen ist, so wenig weiterführend ist die mit dieser Spezifizierung verbundene Enthaltsamkeit in Bezug auf andere Kunstwerke, etwa auf Comics und deren Verfilmungen, denn dort fasst der Begriff »Visualität« in seiner bei Poppe verwendeten Weise von vornherein nicht (ein Vorwurf, den man auch einigen anderen Untersuchungen im Zusammenhang des sogenannten Pictorial turn machen könnte): Visualität kann da nämlich nicht mehr als intermediale Schnittstelle verstanden werden, da Comics per se visuell strukturiert sind und sich die Rede von einer Schnittstelle schnell selbst ad absurdum führt. Eine Untersuchung etwa von »Waltz with Bashir« von Ari Folman und David Polonsky als comicartiger Film, der später erst Comic wurde, beziehungsweise eine Untersuchung der Visualisierung der Handlung in den unterschiedlichen Medien Film und Comic, und zwar beide Male unter den Vorzeichen des Comic, ist unter der Überschrift »Visualität« in dem Sinne, wie sie Poppe versteht, gar nicht begreifbar.

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Die Enthaltsamkeit der Arbeit etwa in Bezug auf Musik (vgl. Poppe S. 24 ff.) ist ebenso bezeichnend. Ein Ansatz wie der von Werner Wolf, der Übertragungen von musikalischen Formen und Inhalten aus der Musik in die Sprache als Intermedialisierung versteht, geht völlig anders vor, versteht er doch Musik als Musik und Musik in Sprache als zwei völlig verschiedene Bereiche (ähnlich müsste man Poppe entgegenhalten: Visualität im Text ist immer eine verbal vermittelte, im Film aber eine per se immer gegenwärtige, die zwar auch durch den Zuschauer erst generiert werden muss – aber nicht so, wie im gar nicht natürlicherweise Visualität schaffenden Text). Die Form der Imitation musikalischer Werke in Texten sei, so Wolf, »an implicit form of covert intermediality in which some kind of iconic similarity between (parts of) a work characterized by one medium and another medium suggests the presence of this second medium within the (dominant) first one«. 2 Wolf versteht das Intermedialitätsproblem also als ein Übersetzungsproblem (die musikalischen Werke also solche werden in einem anderen Symbolsystem nur mit eben diesen musikfremden Symbolen in einem völlig anderen Zeichensystem angedeutet – also: Sprache kann niemals den Eindruck von Musik wiedergeben oder hervorrufen, wie dies Musik kann). 3 Doch Poppe geht davon aus, dass Sprache im Prinzip alles kann (S. 54): »Eine bedeutende Eigenschaft der Sprache ist es, daß mit Worten alles ausgedrückt werden kann«, und dass Visualität nicht etwas zu Übersetzendes ist, sondern vielmehr Text und Film als Schnittstelle verbindet. Und damit trifft Poppe der in solchen Zusammenhängen immer zu bedenkende Vorwurf Adornos, der das Motto dieser Rezension bildet, dass sie die Künste nicht streng voneinander trennt, sondern eher der vagen Vorstellung von einem Kontinuum der Künste das Wort redet.

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Und ein letzter Punkt: Schmerzlich fehlt ein Personen- und ein Sachwortregister. Dies ist umso unverständlicher, als auf diese Weise die Palaestra-Reihe ihre positiven Neuauftritte nicht durch diesen bei einer Facharbeit eigentlich zwingend notwendigen Service für den interessierten Leser trübt. Schlicht verblüffend ist die Tatsache, dass Poppes Text in alter Rechtschreibung gehalten ist.

 
 

Anmerkungen

Theodor W. Adorno: Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei. In T.W.A.: Gesammelte Schriften. Band XVI. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 629.   zurück
Werner Wolf: The Musicalization of Fiction, A study in the Theory an History of Intermediality, Amsterdam, Atlanta, GA: Rodopi Bv Editions 1999, S. 56.   zurück
Vgl. dazu ausführlicher Hannes Fricke: Intermedialität Musik und Sprache: Über Formentlehnungen aus der Musik als ordnende Fremd-Strukturen in Literatur am Beispiel ›Thema und Variationen‹ und ›Fuge‹. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 141 (2006), S. 8–29.   zurück