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Buchwissenschaft als Medienwissenschaft

  • Thomas Keiderling / Arnulf Kutsch / Rüdiger Steinmetz (Hg.): Buch - Markt - Theorie. Kommunikations- und Medienwissenschaftliche Perspektiven. Erdmann Weyrauch gewidmet. Erlangen: filos-Verlag 2007. 304 S. Gebunden. EUR (D) 39,00.
    ISBN: 978-3-93849-816-3.
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Nachdem die Bücher aus ihrer unverschuldeten Selbstverständlichkeit herausgetreten und zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung geworden sind, beginnt die Buchwissenschaft, sich selbst zu reflektieren. Der hier anzuzeigende Band bietet dafür genügend Beispiele: Er dokumentiert die Ergebnisse klassischer Archivforschung, geht über zur Darstellung und Anwendung empirischer Methoden, enthält Sachstands-Analysen und endet mit einer methoden-kritischen Studie. Dabei sind die Themen so vielfältig, wie die angewandten Methoden.

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Von Leipzig nach Rom und zurück

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Entgegen landläufiger Annahmen spielten die wissenschaftlichen Verleger immer schon eine bedeutendere gesellschaftliche Rolle als ihre belletristischen Kollegen. Alexandra Fritzsch kann das in ihrem Beitrag »Leipzig – die Stadt der Wissenschaftsverlage um 1900« im Detail nachweisen. Zwei komplementäre Vorgänge geben der Untersuchung, basierend auf einer Festrede der Verfasserin zum 185-jährigen Börsenvereins-Jubiläum im Sächsischen Staatsarchiv, sozialgeschichtliches Profil. Das Jubiläum der Universität im Jahre 1909 zeigt Leipzig zugleich als Hauptstandort des wissenschaftlichen Verlagswesens. Da überlassen die großen Verlagshäuser, Hirzel wie Teubner, Harrassowitz wie Kröner, der Universität großzügige Büchergeschenke, Stiftungen werden errichtet, und die Universität revanchiert sich mit Ehrendoktoraten für drei Leipziger Verleger. Andererseits entstehen aber auch gleichsam paritätische Interessen-Konflikte zwischen dem organisierten Buchhandel und der organisierten Akademie, die – das ist das andere Thema – im so genannten Bücherstreit um 1903 kulminierten und bis 1916 anhielten. Der Beitrag profitiert von den umfassenden Archiv-Kenntnissen der Verfasserin ebenso wie von ihrer lebensnahen Darstellungsweise.

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Ebenfalls historisch arbeiten Arnulf Kutsch und Nadja Töpp bei der Rekonstruktion der empirischen Leserforschung von Walter Hofmann (1879–1952) und seinem Leipziger Institut für Leser- und Schrifttumskunde, das 1926 als Abteilung der Deutschen Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen begründet wurde. Die organisatorische Energie des Autodidakten, Journalisten, Büchereidirektors, Forschers und Buchautors (Die Lektüre der Frau, 1931) muss beträchtlich gewesen sein. Entscheidenden Wert legen die Verfasser aber auf die Methoden und Kriterien der neuzeitlichen Leserforschung Hofmanns, ohne dabei die Einschränkung auf Ausleih-Statistiken und Benutzer-Erhebungen der Volksbüchereien zu übergehen. Die »unendliche Gestaltenfülle« von Lesern und Lesertypen zu verstehen, »die ihnen angemessenen Werte des Schrifttums aufzusuchen, [...] praktische Hilfsmittel im Dienste dieser verbindenden Tätigkeit auszuarbeiten und schließlich die Ergebnisse der so ausgerichteten Forschung und Praxis durch Lehre weiterzugeben« – so beschrieb Walter Hofmann die Aufgabe seines Instituts (S. 96).

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Der funktionale Ansatz der Untersuchung muss die bildungspolitische Rolle Walter Hofmanns weitgehend unberücksichtigt lassen. Als Beförderer einer irrational gefärbten Volksbildungsbewegung, die sich im Richtungsstreit der Volksbibliothekare behauptete, bis sie schließlich in der Leserlenkung des Nationalsozialismus endete, ist er keineswegs vergessen. Sein früherer Schüler und späterer Kontrahent Heinrich Becker, mit dem gleichnamigen preußischen Kultusminister nicht identisch, aber von 1948 bis 1961 Vorsteher des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig, hat darüber aus seiner Sicht berichtet. 1

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Die beiden folgenden Beiträge basieren direkt auf Leipziger Magisterarbeiten. Wendy Kerstan untersucht den Einfluss von Literaturkritik, vorzugsweise im Fernsehen, auf den Belletristik-Absatz (»Verrissen und trotzdem verkauft?«) und kommt zu ambivalenten Ergebnissen, nicht zuletzt, weil sich der Einfluss von Kritiken nur in Ausnahmefällen von anderen Faktoren isolieren lässt. Patricia F. Zeckert geht dem »Phänomen des ungelesenen Buches« nach. Da nach Insider-Schätzungen bis zu 50% der gekauften Bücher zunächst oder dauerhaft ungelesen bleiben, ist die Frage nach den zugrunde liegenden Kaufanreizen nahe liegend. Während der traditionelle, interessegeleitete Leser im Hinblick auf spätere Lektüre oder als Sammler auch auf Vorrat kauft, lässt sich ein jüngeres Publikum offenbar unter dem Druck von Niedrigpreis-Angeboten oder dem Reiz der Großflächen-Präsentation zu Spontan-Einkäufen verleiten, die dann oft ungenutzt bleiben (Kapitel 1.2 »Der Markt des billigen Buches«). Das empirische Material dieser (zweibändigen) Qualifikationsarbeit dürfte für die Leserforschung manche Überraschung enthalten.

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Ungehinderter Zugang zu Büchern und Schriften ist nicht immer die Regel. Siegfried Lokatis formuliert in seinem Beitrag »Aufgeklärte Zensur in Paris und Rom« ein Paradox der Zensurgeschichte. Beim Vergleich zweier zeitgenössischer Quellen (Malesherbes: Mémoires sur la librairie und der Indexreform von Papst Bendikt XIV.) erkennt er in scheinbar alternativen Systemen – Vorzensur unter Einschaltung des Buchhandels gegen Nachzensur von Publikationen – durchaus vergleichbare Mechanismen der Machterhaltung und vor allem wechselseitige Beziehungen. Damit umreißt der nur 16-seitige Artikel die Umrisse einer gesamtgeschichtlichen »vergleichenden Zensurgeschichte mit langem Atem«, die an den Motiven der Textkontrolle ebenso interessiert sein muss wie an Instanzen und Methoden. Angesichts der Öffnung der vatikanischen Zensur-Archive vor zehn Jahren und zugleich im Hinblick auf die Literaturkontrolle in der jüngeren deutschen Buchgeschichte ist das ein durchaus aktuelles Projekt.

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Buchwissenschaft besteht nicht nur aus historischer Forschung, sondern auch aus der Analyse und Bestandsaufnahme gegenwärtiger Praxis. Dazu liefert Volker Titel unter der Überschrift »Chance und Gefahr? Perspektiven der Digitalisierung für die Buchbranche« einen sach- und quellenkundigen Themenkatalog. Die Konfliktfelder sind zahlreich: Open Access ist ein anhaltendes Streitthema zwischen Bibliotheken und Verlagen und zugleich zwischen öffentlichen und gewerblichen Interessen. Electronic Commerce in seinen vielfältigen Anwendungsformen lässt mittelständische Unternehmen, aber auch die Instanzen des Verbraucher- und Datenschutzes sowie die Steuer- und Wettbewerbsfachleute umdenken. Das traditionelle Zusammenspiel zwischen den Sparten der Buchbranche wird durch die Digitalisierung der Handelskommunikation (und die zunehmenden Betriebsgrößen) auf eine unvermutete Belastungsprobe gestellt. Genaue Beobachtung durch unabhängige Wissenschaftler kann da Politikberatung ermöglichen, 2 Missverständnisse aufklären und Fehlentwicklungen rechtzeitig erkennen lassen. Ähnliches gilt für den Bericht von Rüdiger Steinmetz (»Vom Lesen übers Broadcasten zum Podcasten und mobilen Fernsehen«). Hier werden die Veränderungen von Rundfunk und Fernsehen (Digitalradio, Podcasting, Mobil-Fernsehen) nach dem heutigen Stand beschrieben und auf die nahe Zukunft hin projiziert – das gilt für die Übertragungstechnik wie für Programmformate und Rezeptionsgewohnheiten. Dass der Verfasser sich dabei jedes futurologischen Überschwangs enthält, wird ihm danken, wer die beschwörende Ausrufung der »Neuen Medien« vom Ende der 1960er Jahre noch im Ohr hat. Rüdiger Steinmetz sieht im gegenwärtigen Prozess eine Rückwendung zu personalisierten Formen der Medienproduktion und Mediennutzung. Bestes Beispiel ist ihm die Ablösung des Broadcasting durch Podcasting, also das »Erstellen und Verteilen von Audio- und Videodateien, die zu persönlich gestalteten Programmen aggregiert und zu beliebiger Zeit [...] auf einem persönlichen Rechner oder persönlichen, portablen Endgerät (z.B. iPod) rezipiert werden« (S. 235). Wieweit diese Tendenz auch der mittlerweile rückläufigen Individuallektüre von Büchern und Zeitungen zugute kommen kann, bleibt abzuwarten.

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Die Buchwissenschaft ist eine junge Disziplin, ihr Theoriegerüst ist noch labil. Thomas Keiderling rekonstruiert in seinem Beitrag »Wie viel Systemtheorie braucht die Buchwissenschaft?« die kurze Vorgeschichte einer Buch-Systematik seit den »Bibliographen« des 18. und 19. Jahrhunderts und vergisst dabei nicht die russische Literatur und nicht die späteren sozialistischen Theoriemodelle. Erst seit Parsons und Luhmann hat sich der Begriff der Systemtheorie verfestigt, und von einer Systemtheorie des Buches kann nicht vor den Arbeiten von Georg Jäger ab 1990 die Rede sein. Nun bemerkt Thomas Keiderling aber, dass in neueren Veröffentlichungen dieser Richtung eine merkwürdige Trennung der Theorie vom eigentlichen Forschungsmaterial statt findet, er nennt das die »systemtheoretische Schürze« empirischer Einzeluntersuchungen und stellt die Frage nach dem Erkenntnisgewinn eines solchen Verfahrens. Viel versprechende Anwendungsfelder der Systemtheorie sieht er hingegen in komplexeren Zusammenhängen, von denen er zwei näher beschreibt: Eines ist die Konstruktion eines modellhaften Buchsystems mit seinen immanenten Wechselverhältnissen, das andere die historische Darstellung eines »systemischen« Buchhandels zwischen 1839 und 1934. Auch hier – wie bei Lokatis – werden also künftige Forschungsaufgaben der Buchwissenschaft sichtbar.

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Bilanz

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Der Vorzug dieses Sammelbandes ist sein durchgehender Bezug auf Methoden der Buch- und der relevanten Medienwissenschaft, wobei die Berücksichtigung von Arbeiten junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler positiv auffällt. Unterschiedliche Reflexionsebenen sind dabei hinzunehmen.

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Was der Titel »Buch-Markt-Theorie« aber nicht sagt, spricht ein Geleitwort der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Leipziger Buchwissenschaft deutlich aus: Dieses Buch ist, zusätzlich zu seinem objektiven Informationswert, als Dokumentation eben dieser Leipziger Buchwissenschaft zu lesen. Alle Herausgeber und Beiträger sind auf die eine oder andere Weise mit dem dortigen Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft verbunden, zu dem die Professur für Buchwissenschaft und Buchwirtschaft gehört. 3 Deren früh verstorbener Gründungsprofessor Dietrich Kerlen wird mit dem Abdruck seiner Antrittsvorlesung von 1997 geehrt, dem Interims-Vertreter Erdmann Weyrauch (seit 2004) ist der Band mit Dank gewidmet, als neu berufener Stelleninhaber (seit 2007) hat Siegfried Lokatis seinen Zensur-Essay beigesteuert, und die beiden Beiträge von Alexandra Fritzsch sowie Arnulf Kutsch und Nadja Töpp befassen sich ausdrücklich mit der Buchgeschichte des alten »Zentralplatzes« Leipzig. So erhält die hier seit über zehn Jahren betriebene Buchwissenschaft als Medienwissenschaft ihr erstes Zertifikat, zwar nicht in kalligraphischer Form, wohl aber in vorzüglicher Buchausstattung.

 
 

Anmerkungen

Heinrich Becker: Zwischen Wahn und Wahrheit. Autobiographie. Berlin: Verlag der Nation 1972, S. 218–239.   zurück
Siehe z.B. Rapport Livre 2010. Paris: CNL Juin 2007.   zurück
Thomas Keiderling / Erdmann Weyrauch (Hg.): Buch-Stätte. Geschichte und Perspektiven der Leipziger Buchwissenschaft. Erlangen: filos 2006.   zurück