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Man spricht heute gelegentlich von einem ›religious turn‹ der Kulturwissenschaften, um das sprunghafte Anwachsen des Interesses an Religion in den letzten Jahrzehnten zu markieren. Tatsächlich hat die neue Beachtung der Religion, die sich in so vielen Projekten, Sonderforschungsbereichen, Tagungen und Publikationen auch außerhalb von Religionswissenschaft und Theologie niederschlägt, fast den Charakter eines Paradigmenwechsels, war doch die alte Geisteswissenschaft gerade in Deutschland von einer Religionsvergessenheit geprägt, welche etwa die religiöse Funktion von Literatur nur als Indikator dafür betrachtete, dass man es hier noch nicht mit Literatur im eigentlichen Sinne zu tun habe. Mit dem veränderten Selbstverständnis als Kulturwissenschaften wird die zentrale Rolle der Religion nicht nur allgemein anerkannt, sondern man ist auch sichtlich fasziniert vom ›ganz Anderen‹ des neuen Gegenstandes.
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So sehr das an sich zu begrüßen ist, der Pendelumschwung hat auch seine Schattenseiten. Denn dem neuen Interesse fehlt es nicht selten an Wissen von seinem Gegenstand – in der Breite, weil die ungeheure historische Vielfalt und Komplexität religiöser Phänomene oft um einer weniger Verallgemeinerungen über ›den Monotheismus‹ oder ›das Christentum‹ willen aufgegeben wird, in der Tiefe, weil die lange Tradition religiösen Wissens und theologischer Reflexion oft unbekannt ist und man lieber auf einige Modetheoreme als auf die religiöse Tradition selbst rekurriert – so dass etwa Giorgio Agamben oder Jean Luc Nancy zu theologischen Autoritäten werden. Es ist denn auch charakteristisch für den religious turn, dass er in Deutschland noch recht wenig zu einer substanziellen Zusammenarbeit von Kulturwissenschaft und Theologie geführt hat – hier scheint der garstige Graben so tief wie eh und je und Interdisziplinarität immer noch höchst schwierig.
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Es bleibt zu hoffen, dass sich das in nächster Zeit ändert, solange wird es für die interessierten Kulturwissenschaftler wichtig sein, nach theologischen Arbeiten zu suchen, die für sie anschlussfähig sind.
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Dogma und Poesie
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Gerade Breite und Tiefe machen das hier anzuzeigende Buch so lohnend für den Kulturwissenschaftler. Breite zunächst im buchstäblichen Sinn: Der vierhundertfünfzig Seiten umfassende Band ist der siebte der seit 1995 erscheinenden Poetischen Dogmatik des Kölner Theologen und Bildwissenschaftler Alex Stock: Vier Bände erschienen zur Christologie, drei zur Gotteslehre, weitere sind mit der entsprechenden Vorsicht angesichts eines Alterswerks angekündigt. Der Titel einer poetischen Dogmatik war dabei von vornherein und explizit als Provokation oder vorsichtiger gesagt, als Denkanstoß gemeint, gelten ›Poesie‹ und ›Dogmatik‹ doch fast als strenge Gegensätze. Stock bringt ihre Differenz zum arbeiten, indem er an poetischen und ästhetischen Ausdrucksformen die Fragen entfaltet, für die traditionell die Dogmatik zuständig war. Freilich gebraucht er den Leitfaden der Dogmatik eigenwillig: Die Bände der der Gotteslehre gliedern sich nicht in Vater, Sohn und Geist, sondern in Orte, Namen und Bilder Gottes, um Topik, Semantik und Ikonik des Redens von Gott zu entwerfen.
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Natürlich ist so ein Vorgehen nicht frei von Idiosynkrasien und das Resultat auch nicht immer leicht lesbar, weil es nicht unmittelbar auf die Fragen hin verwertbar ist, die man mitbringt, sondern sich den breiten Umweg gönnt. Aber genau das erzeugt nicht nur eine höchst fruchtbare Spannung, sondern erlaubt es dem Leser, zumindest ein wenig zu verstehen, worum es in jenen dogmatischen Fragen eigentlich gehen könnte. Inwiefern die Idee einer Poetischen Dogmatik im Kontext der Theologie Sinn macht, vermag der Rezensent nicht zu beurteilen, sie erscheint aber doch immerhin plausibel, insofern zumindest in der Moderne die Erfahrung der Religion ganz wesentlich über die Kunst vermittelt erfolgt. Für den Nichttheologen mag das dogmatische Interesse hier und da befremdlich sein. Aber es mag eine heilsame Befremdung sein, denn wie schon Walter Benjamin wusste, kann die dogmatische Form mit ihrer Topik und ihren Traktaten auch dazu beitragen, mit einer schalen Systematik zu brechen. Indem er auf systematische Fragen zielt, aber selber nicht systematisch argumentiert, gewinnt Stock den Raum, um sein überreiches Material auszubreiten.
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Denn breit ist die Poetische Dogmatik vor allem in ihrem Material. Stock versucht, die gelebte Frömmigkeit, die Liturgie und sogar noch die paraliturgischen Formen ›volkstümlicher‹ Heiligenverehrung miteinzubeziehen. Das ist enorm informativ und gibt dem Buch auch von vornherein eine konfessionelle Prägnanz, weil gerade das liturgische Leben für den modernen, nicht mehr religiös sozialisierten Leser meist fremd ist. Es unterscheidet sich auch ganz entscheidend von anderen, eher philosophisch orientierten Formen ›ästhetischer Theologie‹ wie sie etwa Hans Urs von Balthasar vorgelegt hat:
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Im Souterrain mit den kleinen Büchern zu hantieren, die Liturgie und Frömmigkeit und weltliche Poesien, an die Bibel angelehnt, hervorzubringen pflegen, und mit Reproduktionen von Bildern, wie sie in Kirchen und Museen aufbewahrt werden, produziert eine andere Art von Wissen als das immerwährende Gespräch der großen Geistern in den hohen Räumen der Beletage. (S. 11)
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Während jene ästhetische Theologie uns heute nur noch als seltsam altmodische Kunstfrömmigkeit erscheint, bewegt sich Stock immer schon in der Fülle der Phänomene. Wieder und wieder zeigt er, dass die theologische Reflexion von den zahlreichen Praktiken oder Ausdrucksformen immer nur einige wenige ausgewählt habe, dass aber erst die Berücksichtigung aller, auch der verworfenen Formen es erlaube, den vollen Reichtum des Christentums zu verstehen. Es herrscht der Gestus kritischer Rettung der Phänomene, der sich eben in der Fülle ausbreiten muss – dementsprechend schwer ist es freilich auch, die Übersicht zu behalten, geschweige denn eine solche in einer Rezension zu vermitteln. Zumal wenn einzelne Kapitel oft sehr in die Breite gehen und nun ihrerseits in eine Reihe von Einzeluntersuchungen zerfallen. Aber gerade weil Stocks Dogmatik eben aus Monaden besteht, die jede für sich das Thema noch einmal wiederholen, ist es immer auch möglich, ein wenig in ihr zu lesen, das eine oder andere herauszugreifen, hier und dort zu beginnen und zu enden. Anders würde man die sieben Bände ja wohl auch kaum in die Hand nehmen.
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Bildfragen
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Der vorliegende Band handelt von Bildern, von den Bildern Gottes, aber auch von Bildlichkeit schlechthin, mit der sich Stock als Leiter der Kölner Arbeitsstelle für Bildtheologie schon seit langem beschäftigt hat. Die Religion war ja auch allgemein für die Bilderfrage gerade im Rahmen des iconic turn doppelt bedeutsam, wurde dieser doch nicht zuletzt angestoßen durch die Wiederentdeckung der sakralen Vorgeschichte der Kunst einerseits (etwa durch Hans Belting), durch die Bildtheorie einer ikonischen Präsenz andererseits (die dann etwa Jean-Luc Marion auch mit theologischen Kategorien formulierte). Stock nimmt diese Debatten auf, verschiebt sie aber zugleich, indem er einerseits die grundsätzliche negative Theologie des Visuellen zugunsten der Fragen nach dem konkreten Gebrauch und nach der Intermedialität zurückstellt und andererseits Säkularisierungserzählungen wie der Beltings die andauernde Präsenz des Religiösen auch in der modernen Ikonizität entgegenhält. Denn es gibt eine Geschichte der Bilder und der Gottesbilder, an der sich Probleme des Gottesbegriffes besser und präziser ablesen lassen als es die allgemeinen Gegenüberstellungen von ›dem Ästhetischen‹ und ›dem Theologischen‹ vermuten lassen.
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Der erste Teil des Buches widmet sich dem Gottesbild. Naheliegender Weise beginnt er mit dem Bilderverbot, zeichnet den biblischen Befund und die reformatorische Interpretation nach und betont dabei zugleich, dass es wenn auch kein Bild im materiellen Sinne eine ganze Reihe von anderen visuellen Manifestationen Gottes gibt: im Feuer, im Licht, vor allem aber im Kult, indem immer auch Bilder beteiligt wird und immer über Bildlichkeit verhandelt wird: »Der Gott vom Sinai, der die Präsenz in einem Bild rigoros verweigerte, gewährt sie dem Vollzug eines Kultes« (S. 44 f.).
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Stock erörtert in mehreren Kapiteln die Ikonographie Gottes. Manche der Gottesbilder veralten, der Alte des Tages wird zu einem lächerlichen Großvater – aber genau daran arbeitet sich auch wiederum die Kunst ab. Wieder greift Stock dabei weit in die Volkskunst und in den Kitsch hinein, denn moderne Kunst greift dabei oft auf solche vermeintlich alten und überlebten Hintergründe zurück, etwa wenn Joseph Beuys ein Devotionalienbild signiert und dabei die frömmigkeitsgeschichtlichen Hintergründe wieder aufruft, die in Tizians »Ausgießung des Heiligen Geistes« nur noch untergründig präsent sind. Stock überschreitet aber auch konzeptionell den engen kunstgeschichtlichen Bildbegriff, wenn er nichtfigürliche und nicht einmal mehr malerische Darstellungen miteinbezieht, etwa Chiffren wie das Auge im Dreieck, das in der hieroglyphischen Tradition allgegenwärtig ist und sich noch in der modernen Werbegraphik findet. Derartige zwischen Bild und Schrift schwankende Darstellungsformen sind besonders charakteristisch für die frühneuzeitliche Bildkultur, sie versuchen, Gottes Präsenz zugleich zu bezeichnen und zu zeigen und artikulieren damit paradigmatisch die Problematik der Darstellung des kaum Darstellbaren und die Relativität jedes Bilderverbots, ja der Bildkategorie als solcher.
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So macht die Bildgeschichte die Bilder als Lösung von Problemen lesbar, als Symptom von Fragen, die auch begrifflich artikuliert werden können und etwa die Nähe oder Ferne Gottes, aber auch die Möglichkeiten der Kunst betreffen. Die latente Gefahr, die Bilder hier bloß zur Illustration von Thesen zu machen, umgeht Stock dabei vor allem dadurch, dass er immer wieder neu ansetzt und sich mehr an der Fülle des Materials als der Logik von Begriffen orientiert.
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Originell ist auch der Ansatz des zweiten Teils des Bandes, der dem Heiligen Geist gewidmet ist, also ausgerechnet jenem Element der Gotteslehre, das sich der Abbildung am stärksten verschließt. Dieser Teil ist, entsprechend der Gesamtorientierung der Poetischen Dogmatik, dann auch stark liturgisch ausgerichtet. Stock behandelt Pfingsten und die Pfingstliturgie und zeigt, wie gerade die Sequenzialität des Anrufs des heiligen Geistes hier zwischen Präsenz und Repräsentation schwankt, insofern die der Inspiration des Heiligen Geistes zugeschriebenen Hymnen doch immer wieder einen abwesenden Geist zur Hilfe herbei beschwören. Anschließend wird auch die Bildgeschichte untersucht, in welchem der heilige Geist in der westlichen Tradition auftritt: in der Ikonographie der Pfingstepisode, der Taufe Jesu und schließlich der Verkündigung. Auch hier erweist sich die Untersuchung von Text-Bild-Ensembles als besonders aufschlussreich, in diesem Fall handelt es sich um die mittelalterlichen Armenbibeln, die »eine Art ›bricolage‹, ein Bastelwerk der Sinnfindung« sind (S 232), indem sie typologische Bezüge von Altem und Neuem Testament zum Generieren neuer Sinnbezüge nutzen und schließlich auch die Ereignisse der Gegenwart als Postfiguration der Bibel abbilden können. So wird auch die scheinbar ganz vom Geist entfernte Vermehrung des Öls für eine Witwe, die der Prophet Elia nach 1 Könige 17 vollzieht, durch die Assoziation mit dem Salböl zu einem Gegenbild der Pfingstwunders, umgekehrt werden auch bildliche Darstellung der Konzilien nach dem Muster der Pfingstikonographie gestaltet.
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Tauben und Geister
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Der dritte Teil widmet sich schließlich der Theorie der Dreifaltigkeit und damit einem Gedankenkomplex der gleichermaßen zentral für die christliche Tradition wie unnachvollziehbar für den modernen, vage religiös Interessierten ist, der in ihr allenfalls noch ein denkerisches Kunststück sieht. Stock dagegen beginnt nicht in der Höhe dogmatischer Spekulation, sondern konkret vom Kalendarischen her, vom Trinitatisfest. Wieder zeigt eine Untersuchung der Liturgie nicht nur die Komplexität, sondern auch die latente Paradoxie – und damit: symbolische Produktivität – der Trinität, die sich weder genealogisch noch als Mehrheit von Göttern denken lässt: »Der Geist stört das Gruppenbild einer Göttertrias« (S. 265). Die Trinität relativiert den christlichen Gottesbegriff, aber weniger in der Weise einer Überbietung oder Vermittlung, wie es die Inkarnation suggeriert, sondern indem sie ihn als Ausbalancierung verschiedener Tendenzen ausweist, wie sich eben gerade in der kunstvollen poetischen Komposition der Liturgie zeigt. Der Christliche Gott ist ein Gott, der Differenzen zulässt, ja fordert, der sich in seine verschiedenen Personen entfaltet, so dass Stock suggerieren kann, »dass ein bloß charismatischer Enthusiasmus oder ein bloß christozentrischer Sakramentalismus oder jesuanischer Moralismus oder ein bloß kosmologischer Deismus, wenn sie sich absolut gäben, einer Zerreißung des einen göttlichen Wirkungsgefüges gleichkämen« (S. 278). Auch wenn wir das Dogma der Trinität durch solche Hinweise nicht ›verstehen‹ – und gerade weil Stock nicht den Versuch macht, das Dogma zu erklären –, lässt uns der Umweg über die Darstellung der Trinität in Liturgie, Bild und Sprache uns doch den Sinn und die Quelle solcher Überlegungen wenigstens erahnen. Und nicht zuletzt darin liegt ein weitere Stärke von Stocks scheinbar so undogmatischer Dogmatik: Sie macht diese auch dem religiös Unmusikalischen erfahrbar.
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Die im engeren Sinne mit Bildern befassten Kapitel dieses Kapitels schließen an bekanntes an: Sie kommen noch einmal auf die Szene der Taufe Jesu zurück, weil in dieser alle drei Personen der Trinität präsent sind und die auch eine so klassische wie problematische Bildformel enthält, deren Problematik eben erst in der bildlichen Umsetzung auffällt: »Den Theologen, denen es auf den Geist ankommt […] kann die Taube relativ gleichgültig sein. Aber die Künstler, die die Szene zur Anschauung bringen sollen, kommen um sie, gerade um sie, ›ihre leibhaftige Gestalt‹ [Lk 3,22] nicht herum.« (S. 294) Stock entwirft hier in wenigen Zügen eine lange und komplexe ikonographische Tradition, ohne dass er freilich ausschließlich ikonographische Interessen hätte. Ihm geht es vielmehr um das systematische Problem, dem sie gerade die Kunst stellen muss, denn sie »muss dem Vogel, wenn sie ihn denn gehorsam aus der Hl. Schrift aufnimmt, eine Unterkunft gewähren, die bildsemantisch plausibel ist. Das aber bedeutet, daß sie mit den ihr eigenen Mitteln Sinnvorschläge unterbreitet.« (S. 297) Verschiedene Darstellungen als Lichtstrahl, oder auch als kaum sichtbar und ephemere, wolkenförmige Gestalt versuchen, den Geist in seiner Unsichtbarkeit sichtbar zu machen und damit auch die Trinität anschaulich zu machen, eine Anschaulichkeit, von deren Gegebenheit wiederum dogmatische Reflexion auszugehen hätte: »Die Frömmigkeit kann in den ihr vorgesetzten Bildern diesen ornithologischen Einschlag ins Mysterium der Dreifaltigkeit nicht übersehen und umgehen, und hält ihn deshalb der professionellen Theologie als zu bedenkendes Thema vor.« (S. 306)
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Stock untersucht im folgenden auch andere Bildtypen, etwa den Gnadenstuhl, der in der compassio patris erneut ein schwieriges Problem (das der Affektivität Gottes) thematisiert und damit auch leicht in den Verdacht des Patripassianismus – jener Häresie, dass auch Gott dem Leiden unterworfen sei – ausgesetzt ist.
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Anders stellt sich die Trinität in Andrej Rubiljows Ikone der Dreifaltigkeit dar, die in der orthodoxen Tradition sogar als Darstellung der Dreifaltigkeit kanonisiert worden ist – dass es zu einer solchen Kanonisierung von Bildern kommt, ist wie Stock zu recht betont, ein entscheidender Einschnitt und eine wichtige Differenz zur westlichen religiösen Kunst. Dargestellt ist eine biblische Szene (Abraham bewirtet drei Fremde im Mamre, Gen 18), aber in vollkommen abstrakter Weis: Indem Abraham selbst nicht mehr abgebildet wird, tritt der Betrachter an seine Stelle und sieht sich mit einem komplexen Gefüge an Relationen zwischen den drei Gestalten konfrontiert. Anders, und konkreter, operieren trikephale Darstellungen, die, oft in Gestalt eines Vexierbildes, die drei Gesichter Gottes in einem Kopf vereinen, die allerdings auch bald als problematisch erscheinen, weil sie dem dreieinigen Gott Züge des Monströsen geben). Wenn solches »Dreigesicht« (S. 347) noch beschriftet und mit einem Diagramm der Relationen (»est«, »non est«) kombiniert wird, entsteht erneut ein Text-Bild-Ensemble von hoher symbolischer und mnemonischer Prägnanz, das einmal mehr veranschaulicht, wie Bilder Phänomene und Konzepte versammeln und reflektieren können und dabei stets An- und Abwesenheit konfigurieren.
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Die selbst schon komplexe Trinität wird durch die Gestalt Marias noch weiter verkompliziert, welche (gerade visuell) den drei Personen oft gleichgeordnet ist und doch ganz anderer Struktur zu sein behauptet, wie etwa Darstellungen von Maria Himmelfahrt zeigen. Gerade sie sind immer auch theologische Bilder, die Aussagen über die Konfiguration des Himmels treffen, und zwar oft mit malerisch avancierten Mitteln: über das Verhältnis des dogmatischen Kernbereichs zu den vielen Engeln, zu den Menschen und zu den Stiftern.
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Die reformatorische Entleerung des Himmels bleibt nicht das letzte Wort, auf sie folgt die Vergeistigung des Himmels selbst in der Malerei der deutschen Romantik. So zeigt sich insgesamt, dass der »trinitarische Bruch mit dem bildlosen Monotheismus« (S. 353) sich besonders eignet, um gegen eine protestantische Verdrängung Gottes aus der Sichtbarkeit und eine ebenso protestantische negative Theologie der Unsichtbarkeit die ganze Fülle der Bildlichkeit festzuhalten.
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Religion lesen
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Es ist schwer möglich, dem Reichtum der Untersuchungen und den gedanklichen Wendungen dieses Buches im schmalen Raum einer Rezension weiter nachzugehen. Zumal wenn einige von Stocks Überlegungen wohl durchaus gewollt in Arabesken übergehen, so der Schluss, eine Reflexion über Objekte: über den Stein, auf den Jakob nach Genesis 28,11 seinen Kopf legt, über Statuen, über die religiöse Zärtlichkeit, mit der Maria den Säugling oder ein gläubiger Jude die Thorarolle hält – es ist die Vorsicht, die Stock auch dem Theologen, auch sich selbst, zur Analyse empfiehlt. Und auch und gerade weil diese Vorsicht immer ihn immer daran hindert, in große und schnelle Thesen zu verfallen, weil sie nicht nur einigen Kulturwerten gilt, sondern auch den am Rande der Frömmigkeit aufgesammelten Objekten, die heute ja wiederum nur der Rand der Kultur ist, handelt es sich um ein höchst lesenswertes Werk. Auch wenn es nicht immer leicht ist, die Übersicht zu behalten, und auch wenn es ein leichtes sein dürfte, diese oder jene Interpretation eines Bildes oder eines Textes anzuzweifeln, wird einem das nur selten in den Sinn kommen. Schon darum nicht, weil der Verfasser sichtbar einen solchen Anspruch vermeidet, den Anspruch, das letzte, definitive über ein bestimmtes Bild zu sagen, ein Thema zu erschöpfen, eine Meinung zu erledigen oder ein Gebiet zu kontrollieren. Was er tut, ist schlicht, und doch heute vielleicht mehr nötig denn je: Er liest in der religiösen Überlieferung, und zwar mit der Souveränität einer langen Erfahrung. Die Poetische Dogmatik lädt dazu ein, ihm über die Schulter zu blicken und mitzulesen.
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