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»Um alles Fertige steigt das Ungetane
und steigert sich«

Eine Untersuchung zu Rainer Maria Rilkes
Poetik des Werdens

  • Ben Hutchinson: Rilke's Poetics of Becoming. Oxford: Legenda 2006. 222 S. Gebunden. GBP 48,00.
    ISBN: 978-1-904350-53-8.
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Neubewertung von Rilkes Frühwerk

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In der Forschung wird den frühen Dichtungen Rilkes traditionell wenig Relevanz beigemessen. Dafür werden insbesondere Mängel in Ausdrucksarten und Formgefühl wie auch eine lyrische Redseligkeit verantwortlich gemacht, »die irgendwelche Jedermannsgefühle in leere Sprachschablonen gießt und sich über das Niveau der poetischen Dutzendware jener Tage kaum irgendwo erhebt«. 1

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Spätestens seit den Arbeiten Ullrich Fülleborns 2 hat diese bis dahin schier unverrückbare Überzeugung in der Literaturwissenschaft immer wieder eine Revision erfahren. In nicht wenigen Beiträgen zu einem historischen Rilke-Verständnis konnte das so genannte »Frühwerk« von dem Verdacht der poetischen Plattitüde befreit und auf seine Bedeutung für die Entstehung des »reifen Rilke« hingewiesen werden. Ein möglicher Weg zu einem solchermaßen umfassenden Rilke-Verständnis, das nicht nur den großen Lyriker (Musil) der Neuen Gedichte oder der Duineser Elegien konzentriert, führt über die Dichtungen selbst, ein anderer über Rilkes Poetik(en).

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In diese Folge kritischer Neubewertungen reiht sich auch das Buch von Ben Hutchinson ein, das im August 2006 erschienen ist. Hutchinson legt eine umfassende Untersuchung vor, die sich in zwei Etappen, einem chronologischen und einem systematischen Teil, mit den Arbeiten Rilkes von etwa 1891 bis 1908 beschäftigt. Hutchinson geht davon aus, dass Rilkes reife Dichtungen ohne den Umweg über seine Jugenddichtungen nicht angemessen verstanden werden können, »the astonishing craft of the later Duineser Elegien and Sonette an Orpheus, […] can[not] be understood without exploring the long apprentice years of the developing poet« (S. 3). Diesen Prozess einer inneren, aber auch äußeren Entwicklung aufzuzeigen sowie den zentralen Aspekten von Werden und Kontinuität im Werk Rilkes nachzuspüren, ist das Anliegen des Buches. Hutchinson begreift die Spannung von Werden und (Da-)Sein als dynamisches Prinzip in Rilkes Dichtung, das sich nicht nur in den Motiven und Bildern, sondern auch in ihrer Grammatik und Syntax manifestiert. Der Titel »The Poetics of Becoming« ist in diesem Sinne mehrdeutig, da durch ihn sowohl ein ästhetischer Prozess als auch das Werden des Künstlers selbst beschrieben wird. Entsprechend liegt Hutchinsons Ausführungen methodisch eine gewissenhafte Textanalyse zugrunde, die – wo es geboten scheint – über den Einzeltext hinaus immer auch die Biographie Rilkes im Blick hat.

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Aufbau und Ertrag

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Der erste Teil der Studie gliedert sich in fünf Kapitel, die Rilkes stufenweises Werden als Dichter nachzeichnen und verdeutlichen, welche poetischen und poetologischen Schritte seinen Weg flankieren. Das erste Kapitel »The Contemporary Climate« beschäftigt sich mit der Einordnung Rilkes in den geistesgeschichtlichen Kontext und zeigt elementare Einflüsse literarischer Strömungen sowie philosophischer Richtungen auf. In diesem Rahmen bieten die Ausführungen wenig neue Erkenntnisse; statt dessen konzentrieren sie sich auf einen detaillierten Nachweis zentraler Analogien und Abweichungen, wie er in der Rilke-Forschung bisher selten unternommen wurde. Hutchinson zeichnet hier vor allem Rilkes Beschäftigung mit der Philosophie Nietzsches nach, die durch die Deutung Lou Andreas-Salomés wahrgenommen wird. Daneben wird auf den Jugendstil und die Dramenpoetik Maurice Maeterlincks hingewiesen, die Rilkes Interessen schärfen helfen und zur Entfaltung einer eigenen Sprache beitragen. Hutchinson interpretiert Rilkes Lyrik, Prosa und Dramen dieser Jahre konsequent als »product of its time, for it can only be understood as a response to the late nineteenth-century cultural context« (S. 4). Dabei steht der an Nietzsches Geburt der Tragödie geschulte Begriff einer »werdenden Kunst« im Vordergrund, der Hutchinson zufolge bereits auf die ästhetische Theologie des Stunden-Buches vorausweist.

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In Kapitel 2 »Juvenilia: 1893–1898« werden die frühesten Veröffentlichungen Rilkes auf die Frage hin untersucht, wie für den jungen Dichter die Welt zum Wort wird. Hutchinson zeigt auf, dass die frühen Dichtungen nicht nur Themen und Motive der späteren Arbeiten antizipieren, sondern dass der Rhythmus und die syntaktische Struktur – das, was auch »lyrisches Gefüge« genannt werden könnte und noch 1993 von Wolfgang Leppmann mit dem Wort »Spieldosen-Lyrik« abgetan worden ist 3 – eine eigenwillige Dynamik aufweisen, welche über die ästhetische wie biographische Selbstreferentialität der Texte hinausweist; sie spiegeln »the obsession with processes of development that will determine [Rilke’s] subsequent poetry« (S. 35). Insbesondere die Interpretation des ersten Gedichtbandes Leben und Lieder (1894) ist hier von Interesse, da dieser in der Rilke-Forschung nur selten Gegenstand einer kritischen Analyse war. Die nächsten drei Gedichtbände werden mit Hinweis darauf, dass sie größtenteils den gleichen Mustern folgen, »drawing from the same palette of very limited themes and concerns, marred by the inevitability of much of the metre and syntax« (S. 39), zusammengefasst – worüber sich besonders im Hinblick auf die Larenopfer (1895) streiten ließe, die sowohl gegenüber Leben und Lieder als auch den folgenden Gedichtbänden eine spezifische Bildlichkeit und einen signifikanten Stil präsentieren. Es folgt ein ausführliches Kapitel zu Advent, das den »process of growth« als »process of Rilke’s own ›Advent‹« (S. 42) aufgreift. Den Motiven ›Frühling‹ und ›Werden‹ wird hier eine auch auf die folgenden Gedichtbände übergreifende Rolle zugemessen; diese impliziert eine Stilisierung des Jugendstil-Vokabulars, in welchem organische Bilder »as a pathetic fallacy for the individual’s growth« (S. 44) fungieren. Der Prozess des Werdens ist in den »Garten«-Bildern gespiegelt, die als Ausdruck einer inneren Verwandlung dienen. Hutchinson zufolge geht es in diesen Gedichten nicht um die Gestaltung der Welt, sondern um die Beziehung zwischen Dichter und Welt. In diesem Kontext wird das an Maeterlincks Dramenpoetik geschulte »Schweigen« als »versöhnendes Schweigen« interpretiert, das die der Kunst programmatisch eingeschriebenen Zwiegespräche mit den Dingen erst ermöglicht. Hutchinson zeigt, dass Rilkes Sprachskepsis im Verzicht auf das Wort als überkommenes Ausdrucksmittel kulminiert und die Klangketten als Ausdruck einer eigenen, spezifisch poetischen Ausdrucksweise vorbereitet.

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Das dritte Kapitel »Das Stunden-Buch and its Roots« zeichnet zunächst Rilkes Anerkennung als religiöser Dichter nach und weist die Bedeutung seiner Russland-Reisen als Bezugspunkt zu einer Kultur des Werdens auf, die einem ›vollständig entwickelten‹ westlichen Kulturkreis gegenübersteht. Für Rilke ist Russland das Land des Werdens, »a land of gradual growth, where God and man are united in a continuous process of mutual maturing« (S. 65). Die Frömmigkeit des Stunden-Buches besteht laut Hutchinson nun darin, einen nicht seienden, sondern immer werdenden Gott hervorzubringen. Interessant erscheint hier besonders die ästhetische Wendung dieses Prozesses, die darlegt, dass »becoming silent can be a paradoxical trope of becoming verse« (S. 82). Die Rolle des Dichters ist es, Gott nicht durch seine Worte oder in Versen zu gestalten, sondern ihm hinter den Worten Raum zu geben. Aus dem Anspruch, »Gott« im Gedicht zu verbergen, resultiert die sich in Rilkes Dichtung an der Jahrhundertwende etablierende Technik des Vergleichs, welche besonders die Neuen Gedichte durchziehen wird. Durch Das Stunden-Buch sucht Rilke nicht Gott zu beschreiben, sondern vielmehr die Beziehung des Dichters zu Gott – oder allgemeiner: zu seinem Sujet – aufzuarbeiten −, so wie ja auch die vorhergehenden Bände nicht Welt gestalteten, sondern eher deren Beziehung zum jungen Poeten ausdrückten.

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Kapitel 4 »›Dingwerdung‹: Theoretical Transitions« betrachtet die beiden kunstkritischen Arbeiten Worpswede und Rodin, in denen Rilke theoretische Aspekte der Kunst sowie des Schreibens und seiner eigenen Dichtung reflektiert. Als ein Beispiel für seine zunehmende Beschäftigung mit Fragen des Raums, die sich im Übergang von den weiten Landschaftsbildern (Worpswede) über die Kathedralen-Gedichte des Stunden-Buches zu einer vertikalen Topografie (Rodin) vollziehen, wird das Motiv des Turms einer eingehenden Analyse unterzogen. Während Rilke in Worpswede Fragen der Gestaltung von Landschaften nachgeht, wobei Landschaft als ein ästhetisches Konstrukt fungiert, forciert er in den Pariser Jahren die Ausbildung einer »Poetry of Verticality« (S. 100), die an Rodins »Erwerbung des Raums« (S. 108) geschult ist. Dabei ist die Umwandlung von Natur in Kunst nunmehr weniger eine, die sich über das poetische Ich vollzieht, als vielmehr eine der »Ding-Werdung«, die wiederum einen Prozess des Werdens impliziert. Hutchinson stellt Rilkes zentrales Interesse in seiner Rodin-Monographie für den Prozess der Kreation als eine weitere Facette der »Poetics of Becoming« heraus und betont, dass das Kunstwerk eben nicht als fertiges Gebilde beziehungsweise als abgeschlossener Text zu verstehen sei: Rilkes Interesse gelte vornehmlich der Interaktion zwischen dem »werdenden« Ding und dem Künstler als Werdendem.

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Das letzte Kapitel des ersten Teils »Neue Gedichte: ›Linear‹ vs. ›Circular‹ Process« zeigt auf, in welcher Weise die theoretischen Grundlagen in den beiden Teilen der Neuen Gedichte umgesetzt sind. Hutchinson versteht Rilkes Pariser Jahre als Versuch, die flüchtige Inspiration, die den Jugenddichtungen zugrunde liegt, durch ein kontinuierliches Arbeitsprogramm zu ersetzen. Der Verfasser unterscheidet hier einen linearen, teleologischen Prozess von einer in sich geschlossenen, intransitiven und zentripetalen Bewegung, die er in den grundlegenden Worten »wird« und »kreist« aufdeckt. War den Jugenddichtungen ein Bezug auf die »idées reçues« des romantischen Wachstums eingeschrieben, so inszeniert der Dichter »pure Bewegung« und das Werden nun durch die Beschreibung von beweglichen Objekten.

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Werden in den ersten fünf Kapitel die individuellen Schritte der poetischen Karriere Rilkes bis 1908 als diskrete stilistische Perioden beschrieben, zeigt der zweite Teil, auf welche Weise der Prozess des Werdens eine Konstante in Rilkes gedrängten ästhetischen Wendungen dieser Jahre bleibt. Das Vorgehen in diesem Teil ist mehr als im ersten lexikalisch und syntagmatisch orientiert; der Verfasser analysiert eine Vielzahl von Schlüsselwörtern, Präpositionen und Substantiven, »in order to discern both the contrasts between his earliest and middle periods, and also as a hitherto unsuspected consistency of the idiom« (S. 145).

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Kapitel 6 diskutiert die konzeptuellen und grammatischen Implikationen des Werdens und legt so eine ›Poetik der Verschiebung‹, »a Poetics of Deferral« frei. Das anschließende siebente Kapitel »Übergang: Beginnings and Ends« beantwortet die Fragen, warum Rilkes zentrales Interesse dem Prozess des Werdens gilt und auf welche Weise es sich in seiner Dichtung Raum verschafft. Hier werden die verschiedenen Modelle von Entstehung und Ende, die Rilkes Werke durchziehen, im Rahmen der Gesamtkonzeption der Studie aufgearbeitet, zum Beispiel der Zusammenhang von Geburt und Tod beziehungsweise der von »Fülle« und »Überfluss«. Auf diesem Wege vollzieht der Verfasser den Schritt von den ›poetologischen‹ zu den ›ethischen‹ Implikationen des Rilkeschen Schreibens, die nicht – wie in der Rilke-Forschung häufig üblich – gegenüber gestellt und als sich gegenseitig ausschließend, sondern als sich wechselseitig bedingend und ergänzend interpretiert werden.

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Fazit

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Ben Hutchinson legt mit diesem Buch eine sorgfältige und konzentrierte Analyse der Dichtungen des jungen Rilke vor, deren Stärke nicht zuletzt darin besteht, dass er zugunsten einer stringenten Betrachtung der Einzelwerke auf eine Zuordnung der Dichtung zu den vielfach fragwürdig gewordenen »Werk-Phasen« verzichtet. Dies leuchtet vom Ansatz her unmittelbar ein, befreit dieses Vorgehen doch von den Lähmungen präskriptiver Zuschreibungen und ermöglicht eine die Autonomie und Gleichwertigkeit der Texte stärkende Betrachtung – was insbesondere bei den hier zum Gegenstand gewordenen, wenig bekannten und noch weniger geschätzten frühen Dichtungen Rilkes und ihrer Bedeutung für das Gesamtwerk eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Hutchinson versteht es so, die Genese eines »ganzen Rilke« abzubilden, die frei von an Werkphasen orientierten Bewertungen ist. Besonders gelungen erscheint die Einbindung der Ausführungen in die zeitgenössischen Literatur- und Kunsttheorien sowie in den geistesgeschichtlichen Kontext insgesamt. Der Verfasser gelangt hier leider nicht immer über die bereits vertrauten Resultate hinaus, was nicht zuletzt auf eine selektive Beobachtung der Forschungsliteratur zurückzuführen ist. Zwar ist die Rilke-Forschung heute ins Unermessliche angewachsen, dies kann im Hinblick auf die frühen Dichtungen Rilkes aber selbst für die letzten Jahre nur bedingt geltend gemacht werden. 4

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Es ist zu begrüßen, dass Rilkes frühe Dichtungen im Kontext des gesamten Œuvres in den letzten Jahren endlich Eingang in die Rilke-Forschung gefunden haben. Die sehr gut lesbare und Beachtung verdienende Studie von Ben Hutchinson hat hier einen bemerkenswerten Schritt auf dem Weg zu einem umfassenden Rilke-Verständnis getan.

 
 

Anmerkungen

Egon Holthusen: Rainer Maria Rilke mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. Hamburg 26. Aufl. 1992, S. 20.   zurück
Vgl. z.B. Ulrich Fülleborn: Rilkes Weg ins 20. Jahrhundert. In: Egon Schwarz (Hg.): Zu Rainer Maria Rilke. Stuttgart 1983, S. 55–68, und: U.F.: Rilke um 1900 unter der Perspektive der Postmoderne. In: Herbert Herzmann / Hugh Ridley (Hg.): Rilke und der Wandel in der Sensibilität. Essen 1990, S. 71–89.   zurück
Wolfgang Leppmann: Rilke. Sein Leben, seine Welt, sein Werk.Bern, München 1993, S. 65.   zurück
Bemerkenswert wären die Ergebnisse nicht weniger Arbeiten gewesen, beginnend bei der Adalbert Schmidt: Literarische Traditionen in Rilkes frühen Dichtungen. In: Kurt Bartsch / Dietmar Goltschnigg / Gerhard Melzer / Wolfgang Heinz Schober (Hg.): Die andere Welt. Aspekte der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Hellmuth Himmel zum 60. Geburtstag. Bern, München 1979, S. 165–185; des Weiteren etwa Manfred Koch: Der Gott des innersten Gefühls. Zu Rilkes ästhetischer Theologie. In: Der Deutschunterricht 50 (1998) 5, S. 49–59; Judith Ryan: Rilke’s Early Narratives. In: Erika A. / Michael M. Metzger (Hg.): A Companion to the Works of Rainer Maria Rilke. Rochester 2001, S. 67–89; Sascha Löwenstein: Poetik und dichterisches Selbstverständnis. Eine Einführung in Rainer Maria Rilkes frühe Dichtungen (1884–1906). Würzburg 2004.   zurück