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Wort und Bild als »Lebensformen des Literarischen«
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Der Princetoner germanistische Mediävist Michael Curschmann hat auf dem Forschungsfeld, das sich mit dem Verhältnis von mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Wort- und Bildkunst beschäftigt, in den vergangenen Jahrzehnten wegweisende Studien vorgelegt. Es ging (und geht) ihm dabei grundsätzlich um die Beschreibung der Rolle von bildender Kunst und Literatur »als gemeinsame Träger literarischer Inhalte in einer vielfach und vielfältig von mündlicher Verständigung bestimmten Umwelt.« (S. ix) Das Interesse Curschmanns gilt dabei am ›Faszinationsbereich‹ Text und Bild – vor allem, aber nicht ausschließlich im Blick auf das deutsche Sprachgebiet – jenem übergeordneten »allgemeinen kulturgeschichtlichen Prozess, in dem der gehobene Laienstand sich seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts eigene Räume repräsentativer Kunstübung, gesellschaftlichen Umgangs und kultureller Gedächtnisbildung erobert« (S. ix).
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Nun legt Curschmann mit den hier anzuzeigenden beiden Bänden seine hierher gehörenden Schriften gesammelt im reprographischen Nachdruck vor. Ihren Gegenstandsbereich fasst er in den programmatischen Untertitel »Medialität des Literarischen in Hochmittelalter und früher Neuzeit«. Die Bände vereinigen – auf fast 1000 Seiten – 29 Arbeiten, die Curschmann zwischen 1981 und 2005 veröffentlicht hat. Die chronologische Reihenfolge der Publikationen wurde beibehalten und nicht etwa zu Gunsten einer thematisch-stoffbezogenen Anordnung, die sich gleichfalls angeboten hätte, aufgelöst (vgl. S. ix).
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Den größten Teil der englisch- und deutschsprachig verfassten Arbeiten bilden seine Aufsätze, beispielsweise die mit einem Faksimile versehene Studie zum Dialogus Salomonis et Marcolfi (Nr. XIII), oder die fast hundertseitige Arbeit zum »Verhältnis von volkssprachigem Schrifttum und bildender Kunst vom 12. bis zum 16. Jahrhundert« (Nr. XXIII). Etwa ein Drittel der Beiträge entfällt aber auch auf Buchbesprechungen, teilweise kürzere, teilweise aber auch zu Aufsätzen ausgewachsene.
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Da einige Arbeiten, die man in dieser Sammelpublikation erwarten könnte, nicht mit aufgenommen sind (vgl. dazu S. xvii f.), gebe ich in Anmerkung 1 zur Information ein Inhaltsverzeichnis mit Nachweis der Erstveröffentlichungen (vgl. S. 895–898).
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Den nachgedruckten Schriften geht ein Vorwort sowie ein neuer, bislang nur in einer erheblich kürzeren Version publizierter Beitrag voraus, der sich der grundsätzlichen Frage nach einem »intermedialen epistemologischen Bewußtsein« (S. xi) im Mittelalter widmet (S. 21–67).
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Praxis als Theorie: Modelle mit Anspruch auf Wahrscheinlichkeit
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In dem knapp gehaltenen Vorwort (S. ix-xx) bündelt Curschmann die zentralen Problemkonstellationen, um die seine Arbeiten immer wieder kreisen, in mehrere Fragekomplexe:
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Wie kommen aus der Eigenständigkeit der Medien die verschiedenen Bezüge zustande, wie funktioniert das Verhältnis, und was für Konsequenzen hat das in der gesellschaftlichen Rezeption? Welche Rolle spielt in solchen Zusammenhängen der Faktor »Mündlichkeit«? (S. xi f.)
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Methodische Herausforderungen ersten Ranges für dieses Frageprogramm sind für Curschmann beispielsweise »Sonderversionen« (S. xv) oder »Verkürzungen« (S. xv), die visuelle Medien von literarischen Sujets hervorbringen können. Als (freilich extreme) Beispiele verweist er exemplarisch auf einen 7cm hohen Griff eines elfenbeinernen Haarteilers, der die Baumgartenszene im Tristan anzitiert, oder englische Miserikordien, in denen die Iwein-Geschichte »auf das vor einem Fallgitter abgeschlagen herabfallende Hinterteil eines Pferdes reduziert ist.« (S. xvi)
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Was beim (Wieder-)Lesen der vorliegenden Studien, die vielfach den Status von Meilensteinen für die interdisziplinäre mediävistische Forschung zum Gegenstandsbereich einnehmen, vor allem beeindruckt, ist – ganz abgesehen von ihrer thematischen Vielfalt und der Umsicht, mit der Curschmann sich seinen Gegenständen nähert – ihre sprachliche Dichte und gleichzeitig die unprätentiöse, gleichwohl aber präzise Beschreibungssprache. Besonders instruktiv scheint mir eine Art methodisches ›Credo‹ Curschmanns zu sein, das seine Herangehensweise und seinen Frageansatz eindrucksvoll veranschaulicht:
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Ich habe mich [...] einmal als Leser des unsystematischen Pragmatisten und Semiotikers Charles S. Pierce ›geoutet‹ (Nr. XXIV), allerdings erst auf Ansuchen meiner Herausgeber. Theorie ist doch das, was wir praktizieren – jedenfalls solange und soweit sie sich auf die Erhellung historischer Phänomene beziehen soll. Diese Phänomene aber fordern dem Interpreten gerade auf dem hier begangenen Gebiet hohe methodische Flexibilität ab und zugleich versagen sie ihm meist die Gewißheit, die sich getrost nach Hause tragen läßt. Was möglich ist und was natürlich nicht nur ich immer wieder versucht habe, ist dies: Aus dem durch Anschauung und Lektüre Eruierten Modelle zu bauen, die im jeweiligen historischen Zusammenhang eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich haben. Daß wir die Bedingungen unserer eigenen Existenz dabei nicht ausschalten können, ist klar, aber mit einiger Vorsicht in dieser Hinsicht sieht man dann doch wenigstens, wie es allem gegenwärtigen Anschein nach gewesen sein könnte. Wichtig ist deshalb aber auch, daß diese Modelle transparent und offen bleiben, so daß neue Erkenntnisse und neue Perspektiven sowie die Ergebnisse angrenzender Forschung inseriert werden können, ohne das Konstrukt gleich wieder zum Einsturz zu bringen. (S. xvii)
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Durchblick: »Epistemologisches am Schnittpunkt von Wort und Bild« (S. 21–67)
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Ein solches Modell mit Anspruch auf historische Wahrscheinlichkeit (re-)konstruiert Curschmann in dem die Bände eröffnenden Neubeitrag. Auf der Grundlage einer »Versuchsreihe« (S. 26), die sich ausschließlich auf Handschriften stützt, fragt er hier nach einem mittelalterlichen »Bewußtsein von der Komplementarität der Medien« (S. 26).
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Dabei skizziert er einen
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Spannungsbogen, der von der christlich-lateinischen Schriftkultur der Karolingerzeit bis zur Etablierung einer zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit oszillierenden, profanen Gesellschaftskultur reicht, in der das bebilderte Buch in der Volkssprache zum Gegenstand gesellschaftlichen Gesprächs avanciert. (S. 26)
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Das Material, auf das er sich dafür bezieht, reicht von der berühmten Chi-Rho-Jota-Initiale im Book of Kells (Abb. 1) bis zu Text und Bild des Liedes 186 im Codex Buranus (Abb. 13, Suscipe, flos, florem, quia flos designat amorem und vor allem die angehängten Schreiberverse Flos in pictura non est flos). Steht ersteres für eine enge Verflechtung von Text und Bild in einem dominant theologischen Diskurs, beschreibt Curschmann letzteres systematisch als den »Schnittpunkt zweier Kulturen« (S. 59), an dem das Verhältnis der Medien nicht mehr theologisch, sondern erstmals dezidiert »ontologisch-ästhetisch« (S. 67) reflektiert wird. Die neue Situation ist dabei nicht zu verstehen im Sinne einer modernen Ästhetik, sondern als »Vorspiel« (S. 66), in dem eine »radikale Säkularisierung« (S. 65) der mittelalterlichen Diskussion des Verhältnisses der Medien sichtbar wird. Dieser (von mir stark verkürzt wiedergegebene) epistemologische »Durchblick« bietet die Grundlage für eine auf erweiterter Materialbasis noch zu schreibende ›Theorie der Medien in Mittelalter und früher Neuzeit‹, für deren Ausarbeitung Curschmanns Arbeiten insgesamt vorzügliche Fallstudien bereitstellen.
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Verlegerische Abstriche
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Für den Wiederabdruck der Arbeiten wurde das reprographische Verfahren gewählt, was Vor- und Nachteile mit sich bringt. Dem potentiellen Qualitätsverlust bei der Wiedergabe der Abbildungen, die im Übrigen alle schwarz-weiß sind, ist man dadurch begegnet, dass »für die meisten Abbildungen die ursprünglichen Photovorlagen substituiert« (S. x) wurden. Das hat sich auch gelohnt, denn mit ganz vereinzelten Ausnahmen sind die Abbildungen von guter Qualität, die immer das nachvollziehen lassen, was Curschmann an seiner Materialgrundlage beschreibt. Dabei hat der Verlag auch die mehrfache Abbildung identischer Objekte nicht gescheut, um sie in den ursprünglichen Zusammenhängen der Studien zu belassen. Ein eigenständiges Verzeichnis der Abbildungen gibt es nicht; sie sind aber durch die Register problemlos und vollständig erschließbar.
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Was mir allerdings gerade angesichts des gewählten fotomechanischen Reproduktionsverfahrens als völlig unverständlich erscheint, ist die Tatsache, dass man das Kunststück fertig gebracht hat, die ursprüngliche Seitenzählung der Originalbeiträge an allen Stellen zu tilgen. Dies hat zunächst einmal zur Folge, dass die Arbeiten nur nach einer hier neu inserierten fortlaufenden Seitenzählung zitiert werden können. Diese wird sich wohl kaum durchsetzen und dürfte allenfalls Verwirrung stiften.
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Noch schwerer wiegt dabei allerdings, dass offenbar auch Curschmann selbst nicht mit dieser Möglichkeit gerechnet hat, denn die Verweise auf eigene Arbeiten in seinem Vorwort und seinem einleitenden Beitrag beziehen sich durchwegs auf die Seitenzahlen der Originalpublikationen. Diesen – nicht wenigen – Verweisen kann man nun nicht unmittelbar folgen oder man muss sie sich mit Mühe und im Rückgriff auf die Originalpublikationen selbst zusammensuchen. Dasselbe gilt natürlich auch für alle Verweise Curschmanns auf eigene Arbeiten innerhalb der reproduzierten Schriften. Der Verlag hat damit einen entscheidenden Vorzug, den das reprographische Verfahren ermöglicht, offenbar verkannt.
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Vorzügliche Erschließbarkeit: Die Register
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Was die Bände trotz dieses Mankos zu einem wertvollen Nachschlagewerk für ein wissenschaftliches Lesepublikum macht, sind die mit großer Sorgfalt erarbeiteten, neunzig Seiten umfassenden Register (S. 899–988). Die angegebene Seitenzählung bezieht sich hier immer und eindeutig auf die neue Nummerierung. Sie erschließen die Beiträge in vorbildlicher Weise hinsichtlich herangezogener Materialien, Ikonographie und Bildgestaltung sowie moderner Forschungsliteratur. Verzeichnet sind, um hier nur die reiche Materialgrundlage von Curschmanns Arbeiten zu beziffern, allein ca. 250 Handschriften, etwa 70 Drucke und mehr als 200 Kunstwerke bzw. Künstler. Im Einzelnen sind die Register in die folgenden Unterabteilungen gegliedert:
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I. Historische Namen, Orte, Sachen und Begriffe (S. 901–928)
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II. Quellen (S. 929–960)
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A) Autoren, Werke, Kompilationen und literarische Stoffkreise
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B) Kunstwerke nach Standort oder Künstler
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C) Handschriften
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D) Drucke
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III. Ikonographie, Bildgestaltung (S. 961–975)
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IV. Forschung (S. 976–988)
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In Abteilung II hat Curschmann mehrfach von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, sachliche Angaben zu präzisieren und zu korrigieren (vgl. S. 900). Besonders nützlich ist die Abteilung III zur Ikonographie und Bildgestaltung, auch wenn die Beschreibungen Curschmanns meist keinen Anspruch auf systematische Vollständigkeit erheben, sondern sich auf signifikante Details konzentrieren. Mitverzeichnet sind auch die Bezüge von Schrift und Bild. Gemeint sind damit nicht nur integrale Bestandteile von Bildern, wie etwa Schriftbänder, sondern auch textuelle Elemente außerhalb von Bildern, die einen engen Bezug zum Bild aufweisen (vgl. S. 900).
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Fazit
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Dass Curschmanns Schriften zur Medialität des Literarischen in Hochmittelalter und früher Neuzeit nun gesammelt vorliegen, ist zweifelsohne ein Gewinn für alle, die sich aus kunst- oder literaturwissenschaftlicher Perspektive mit dem Forschungsfeld Wort und Bild beschäftigen und seine verstreut publizierten Arbeiten im Zusammenhang lesen und benutzen möchten. Bedauerlich bleibt freilich, dass der Verlag dabei für wissenschaftliche Leser Grundlegendes offenbar im Vorfeld nicht genau bedacht hat.
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Sollte Curschmann trotz seiner »intuitiven Abneigung gegen diese Art duplizierender Retrospektive« (S. ix) jemals auf den (begrüßenswerten) Gedanken kommen, seine hier nicht eingeschlossenen Studien zu anderen Gegenstandsbereichen in einer Sammelpublikation herauszugeben, wäre das Angemerkte zu bedenken. Gewiss aber scheint mir, dass die künftige Forschung auch weiterhin mit reichem Ertrag auf seine Arbeiten zurückgreifen wird. Das liegt nicht zuletzt an der Offenheit der Modelle, die sie entwerfen und plausibel zu machen suchen. Es ist schön zu wissen, dass Curschmann das offenbar ganz ähnlich sieht (vgl. S. x).
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