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Presse als Institution der Literaturvermittlung
in Österreich-Ungarn

  • Norbert Bachleitner / Andrea Seidler (Hg.): Zur Medialisierung gesellschaftlicher Kommunikation in Österreich und Ungarn. Studien zur Presse im 18. und 19. Jahrhundert. (Finno-Ugrian Studies in Austria 4) Wien, Berlin: LIT 2007. 304 S. Paperback. EUR (D) 34,90.
    ISBN: 978-3-8258-0500-5.
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Mit Recht wird im Vorwort des zu besprechenden Sammelbandes hervorgehoben, dass die Pressegeschichte für viele historische Disziplinen einen Quellenfundus von unschätzbarem Wert darstellt. Dies gilt auch für den Literaturhistoriker, namentlich wenn er sich einer sozialgeschichtlichen Betrachtungsweise verpflichtet sieht. Umso weniger verständlich ist die Zurückhaltung, mit der das Feld der Beziehungen, das zwischen Pressegeschichte und Literaturgeschichte ausgebreitet liegt, bisher beackert worden ist. In besonderer Weise gilt dieser kritische Befund für das Gebiet der österreichisch-ungarischen Monarchie, wo allerdings schon die Sprachenvielfalt des Vielvölkerstaats einer konzertierten Presse- und Literaturforschung beträchtliche Hindernisse entgegensetzt. Auch mag in den »Nachfolgestaaten« gegenüber den »deutschen« Teilen des kulturellen Erbes lange Zeit eine gewisse Distanzhaltung wirksam gewesen sein. Um all diese Barrieren zu überwinden, bedarf es immer noch besonderer Konstellationen.

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In der Herstellung einer solchen Konstellation liegt schon das erste und nicht geringste Verdienst der Herausgeber: Der Band versammelt neun Beiträge österreichischer und osteuropäischer Forscher/innen und repräsentiert so ein auf dem engeren Gebiet der Presseforschung bereits erprobtes, hoffentlich aber noch oft wiederholtes Modell der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Über das Zustandekommen dieser Kooperation wird keine Auskunft gegeben: Ein spezieller Anlass (wie etwa eine Tagung oder ein Projekt) wird nicht genannt, auch werden die Beiträger nicht mit Biogrammen oder ihren institutionellen Verankerungen vorgestellt. Der Band wirkt ansonsten sorgfältig redigiert und ist auch vom Layout her angenehm lesbar, Bildbeigaben vermitteln einzelnen Themen größere Anschaulichkeit.

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Die Forschungslage:
Fortschritte bei den bibliographischen Grundlagen

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Einen guten Einstieg gewährt das kurze, aber ausgesprochen informative Vorwort der Herausgeber, das in die Forschungslage einführt, insbesondere in die in jüngster Zeit stark verbesserten bibliographischen Grundlagen der historischen Presseforschung, sowohl für das Gebiet des heutigen Österreich als auch des heutigen Ungarn. Was von diesen neuen Errungenschaften wie der Österreichischen Retrospektiven Bibliographie (Reihe 2 zu den Zeitungen 1492–1945, 5 Bde., erschienen 2001–2003), oder den von Margit V. Busa (Magyar sajtóbibliográfia [Ungarische Pressebibliographie] 1705–1849 (1986) und 1850–1867 (1996)) und Mária Rósza (Deutschsprachige Presse in Ungarn 1850–1920) erstellten Verzeichnissen nicht abgedeckt wird, muss – vor allem auf dem Zeitschriftensektor seit 1809 1 – noch aus älteren Darstellungen erschlossen werden. Diese werden in dem Vorwort ebenfalls sachkundig benannt, zusammen mit weiteren dokumentarischen Vorarbeiten, in denen die Entfaltung des Pressemarktes sowohl in Cisleithanien wie Transleithanien fassbar gemacht wurde. Trotz dieser beachtlichen Fortschritte gibt es aber – wie auch der vorliegende Band demonstriert – noch viel zu tun.

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Die Zeitschriften des 18. Jahrhunderts
als Orte gelehrter und nationalpolitischer Diskurse

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Das Spektrum der Beiträge reicht von Überblicksdarstellungen und Querschnittuntersuchungen bis zu Einzelporträts von Zeitschriften; die Reihung folgt in der Hauptsache chronologischen Gesichtspunkten. Zeitlich am frühesten setzt Andrea Seidler an, die nach den Entstehungsumständen der ersten Gelehrten Zeitschrift in Ungarn im späten 18.Jahrhundert fragt. Als wesentliche Faktoren nimmt sie dabei die Mehrsprachigkeit im damaligen Königreich Ungarn, die Errichtung Gelehrter Gesellschaften und die daraus resultierende Gründung der ersten Zeitungen und Zeitschriften in diesen Raum in den Blick. Neben dem (im Adel und unter den Gebildeten lange bedeutsam gebliebenen) Latein spielte die Minderheitensprache Deutsch eine wichtige Rolle in der Etablierung einer aufklärerischen Kultur; Bestrebungen zur Forcierung der ungarischen Sprache hatten aber bereits eingesetzt und wurden durch den Erlass weiter angefacht, mit dem Kaiser Joseph II. das Lateinische als Amtssprache durch die deutsche Sprache ersetzen wollte. Die wissenschaftsorganisatorische Tätigkeit Einzelner (v.a. des Pressburgers Karl Gottlob Windisch) führte zur Herausbildung von inländischen und grenzüberschreitenden Autoren-Netzwerken und zur Gründung von Zeitschriften (Ungrisches Magazin), mit deren Hilfe der Anschluss an das westliche Geistesleben gesucht wurde. Dabei waren nicht nur Entwicklungsrückstände im gesamten Druck- und Publikationswesen zu überwinden, sondern auch konfessionelle Trennlinien.

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Das Ungrische Magazin spielt auch im Beitrag von Ágoston Zéno Bernád eine zentrale Rolle; er untersucht die wissenschaftliche Leistung des Siebenbürger Pfarrers Johann Seivert (1735–1787), der einer der wichtigsten Mitarbeiter des Magazins gewesen ist. Die Tiefenschärfe, mit der diese Studie ausgeführt ist, erlaubt exemplarische Einblicke in die Situation eines Gelehrten, der – noch bemerkenswert vielseitig in seinen Interessen – die Einschränkungen und Hindernisse reflektiert hat, die einer systematischen, spezialisierten Forschungstätigkeit im ausgehenden 18.Jahrhundert entgegen standen.

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Wie sehr das Aufkeimen der Wissenschaften mit nationalen Identitätsfragen zusammenhing, beleuchtet Annamária Biró, indem sie die Siebenbürgische Quartalsschrift (1790–1801) nach Zügen der Rivalität zwischen den Siebenbürger Sachsen und den anderen beiden dort vertretenen »Nationen«, den Ungarn und den Széklern, untersucht. Hier erwies sich der Einfluss des österreichischen Staatspatriotismus als bedeutend; die Quartalsschrift tendierte zu einer klaren Vormachtstellung der deutschen Traditionskomponente, obwohl sie de facto doch mehr Artikel zu ungarischen Themen brachte. Aufschlussreich, wie – teils schon vor August Ludwig von Schlözers Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen und diese beeinflussend, teils daran orientiert – die Historiographie in den Dienst politisch-nationalistischer Argumentation genommen worden ist. Auf diese Weise gewinnt auch der aus der einzelnen Zeitschrift abgeleitete Befund paradigmatischen Charakter: Die gelehrte Szene jener Zeit war auch ein Ort der Ideologieproduktion.

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Zeitungen:
buchhandelsgeschichtliche Quellen erster Ordnung

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Vom Blickwinkel her spezieller angelegt, im Informationswert aber beeindruckend ist die fast 50 Seiten starke Studie von Ilona Pavercsik über »Zeitungen als Kommunikationsmedium des Buchhandels am Ende des 18.Jahrhunderts«. Zwar haben wir seit 1990 eine Geschichte des Buchhandels in Ungarn von György Kókay, aber die einzelnen Epochen werden dort notgedrungen in knapper Form behandelt. Der Beitrag von Pavercsik hingegen erweist sich als eine wahre Fundgrube für den Buchhandelshistoriker, denn die Auswertung von tausenden Buch- und Buchhändleranzeigen sowie von Pränumerationsankündigungen lässt nicht nur die Bedeutung der vier behandelten deutsch- und ungarischsprachigen Zeitungen für die buchhändlerischen Kommunikationsverhältnisse hervortreten, sondern es werden auch Detaileinsichten in die buchhändlerischen Distributionsnetze und allgemein in die Literaturversorgung in Ungarn vermittelt. Denn nicht zuletzt erhellen die akribischen Nachforschungen auch das Bücherangebot jener Epoche und damit den aufstrebenden ungarischen Buchmarkt. Die Anzeigen auswärtiger Firmen bezeugen die Offenheit des Marktes für Anbieter aus Wien, Brünn oder auch aus Leipzig. Auf diese Weise stellt die Studie eine wertvolle Ergänzung zur Erforschung auch des Buchhandels im gesamten deutschsprachigen Raum dar.

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Literatur und Tageszeitung im 19. Jahrhundert

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Ebenfalls hoch ertragreich, aber in der Methodik wesentlich anspruchsvoller und stringenter ist der Beitrag von Norbert Bachleitner, der unter dem Doppelstichwort »Politik und Unterhaltung« einen zeitlichen Querschnitt durch die Wiener und Pester Tagespresse des Jahres 1855 legt und deren Funktion im literarischen Prozess der Zeit aufzeigt. Beeindruckend, wie Bachleitner in raschen Strichen einen theoretisch-historischen Verständnisrahmen zimmert, der auf geradem Weg in die Spezifik der Literaturverhältnisse jener Zeit hinein führt, u.a. mithilfe der aus Bourdieus Feldtheorie abgeleiteten Unterscheidung zwischen autonomer und heteronomer Literatur. Die Analyse selbst schafft nicht nur Grundlagen für eine sozialgeschichtliche Rekonstruktion des Publikums (bzw. der unterschiedlichen Publika von Wien und Pest), sondern führt auch vor, wie sich die Analyse sozialer Strukturen mit jener von medialen Strukturen, ja sogar mit der Analyse von Textstrukturen verknüpfen lässt. Alles dies beruht auf genauer Auswertung zahlreicher Presseorgane; die als Anhang beigegebene Liste der in den untersuchten Tageszeitungen abgedruckten Literatur unterstreicht die Eindringlichkeit der Untersuchung. Eine Fortsetzung dieser Forschungen erscheint wünschenswert, da sich hieraus nicht nur weitere Erkenntnisse zur Widerspiegelung national- und sprachpolitischer Tendenzen in den Literaturauswahlen, sondern auch grundlegende Einsichten in die herausragende Rolle der Tageszeitung für die Literaturentwicklung jener Epoche ergeben dürften.

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Die Familienzeitschrift als Literaturmedium

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Solche Erwartungen bestätigen sich auch in dem gewichtigen Beitrag von Dorottya Lipták zur Illustrierten Bildungs- und Unterhaltungspresse in der Donaumonarchie zur Zeit Kaiser Franz Josephs I. (1850–1914). Im Mittelpunkt stehen hier die epochentypischen populären Familienzeitschriften von Budapest und Prag (die Wiener Presse ist ohnedies deutlich besser erforscht). Auch Lipták geht methodisch reflektiert vor, auf der Basis eines Modernisierungskonzepts sowie der Überzeugung, dass es heuristisch zweckmäßig ist, Mediengeschichte als »interaktiven soziokulturellen Prozess zu interpretieren« (S. 177). In der Tat ergibt sich aus der ebenfalls überaus gründlichen und kompetent durchgeführten Untersuchung der vielfach am Vorbild der Gartenlaube ausgerichteten illustrierten Familienblätter eine Fülle von Einblicken: in die gesellschafts- und bildungshistorische Bedeutung dieses Mediums, in die sozialen und generationellen Schichtungen des Lesepublikums, dessen nationale oder kosmopolitische Ausrichtungen u.a.m. Die behandelten Presseerzeugnisse waren vereint im Bestreben, die Bedürfnisse des Publikums nach Information und Unterhaltung gleichzeitig zu befriedigen, besetzten dabei aber jeweils klar abgegrenzte Positionen. Als Instanz der Literaturvermittlung standen sie, besonders im Bereich der Romanproduktion, auch in Konkurrenz zur Tagespresse; Koppel- und Verbundgeschäfte ähnlich wie die Zeitungseditionen unserer Tage waren damals bereits üblich. Die beabsichtigte Einbettung der Familienzeitschriften in die historische Entwicklung des mitteleuropäischen Sozial- und Kommunikationssystems ist jedenfalls gelungen; treffende Zeitschriftenporträts und kluge Analysen führen hier zu überzeugenden Konklusionen.

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Strukturen der Medienmärkte –
Einblick in aktuelle Forschungen

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Einblick in ein laufendes Forschungsprojekt geben Gabriele Melischek und Josef Seethaler unter dem (mit dem Projekt nahezu gleichlautenden) Titel Entwicklung und literarische Vermittlungsfunktion der Tagespresse in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. 2 Auf einer bereits bemerkenswert dichten Materialbasis aufbauend, können Melischek/Seethaler die Entwicklung der Tageszeitung – des Mediums also, das den entscheidenden Beitrag zur »Verdichtung des öffentlichen Kommunikationsraums« (S. 236) geleistet hat – bereits in aufschlussreiche quantitative Befunde fassen. Verstanden wird die Tageszeitung dabei als Kopplung von publizistischem und ökonomischen Produkt, denn Medienmärkte sind in ihren Kommunikationsleistungen von beiden Faktoren bestimmt. Entsprechend gilt die Aufmerksamkeit sowohl der politischen Dimension des Pressewesens wie auch den dahinter stehenden Wirtschaftsunternehmen. Vergleiche zwischen der Wiener Neuen Freien Presse und dem Pester Lloyd machen Unterschiede in der Kulturberichterstattung und der Literaturvermittlung (Kanonisierungsfunktion) zwischen Österreich und Ungarn sichtbar; auch Aspekte der Medienwirkungsforschung (Agenda setting, Framing) finden Eingang in diesen analytischen Ansatz. Aufgezeigt wird, dass in den jeweiligen Pressehemisphären die österreichische Literatur vorzugsweise in ein deutsches Bezugssystem gestellt wurde, die ungarischen Autoren in ein internationales.

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Fazit: ein Gewinn für die Erforschung der
medialen Öffentlichkeit Österreich-Ungarns

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Die Beiträge sind, wie bei Sammelbänden dieses Typs nicht anders zu erwarten, von unterschiedlichem Gewicht; viele von ihnen haben jedoch den Charakter von Pionierleistungen. In methodischer Hinsicht weniger überzeugen können die beiden abschließenden Beiträge, der eine, mit allzu voraussehbaren Ergebnissen, über die frühe feministische Zeitschrift Die Emancipation (Wien 1875), der andere, historisch unergiebig, zur Inseratenwerbung im Pester Lloyd (1854–1930). Wirkt der Band so auch nicht völlig homogen, so stellt er in seiner Gesamtheit doch einen echten Gewinn für die schwerpunktmäßig behandelten Forschungsfelder dar. In jedem Falle lässt er die Bedeutung des Pressewesens für die Ausbildung politischer und kultureller National-Identitäten innerhalb der Monarchie hervortreten; eindrucksvoll dokumentiert wird aber auch der innere Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Pressewesens und der Literaturentwicklung in allen Teilen des Vielvölkerstaates. Historiker aller Richtungen, insbesondere Medien-, Presse-, Literatur- und Buchhandelshistoriker, die Interesse an der Auseinandersetzung mit dem Habsburgerstaat und dessen medialer Öffentlichkeit haben, werden die Überblicks- und Fallstudien mit Gewinn heranziehen. Eine Intensivierung dieser Forschung im transnationalen Verbund erscheint daher unter allen Umständen wünschenswert.

 
 

Anmerkungen

Für den davorliegenden Zeitraum vgl. Andrea Seidler, Wolfram Seidler: Das Zeitschriftenwesen im Donauraum zwischen 1740 und 1809. Kommentierte Bibliographie der deutsch- und ungarischsprachigen Zeitschriften in Wien, Preßburg und Pest-Buda. Wien, Köln, Graz: Böhlau 1988 (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zu Erforschung des 18. Jahrhundert, Bd.1).   zurück