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Das Ende der DDR liegt zwanzig Jahre zurück. Während es ein immer noch nicht beruhigtes Nachleben führt, hat die Phase seiner Historisierung begonnen. Das betrifft nicht nur die politische Geschichte, sondern auch die Geschichte der Literatur. Kerstin Reimanns Buch über die sogenannte ›Wendeliteratur‹ hat Teil an dieser schwierigen Historisierung. Sie schreibt nicht das erste Buch zum Thema. Die Arbeiten von Julia Kormann und Frank Thomas Grub
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sind ihm vorausgegangen. Diesen gegenüber versucht Reimann dadurch Profil zu gewinnen, dass sie anders als Grubs überblickartige Arbeit einzelne Texte eingehender bespricht und dass sie anders als Kormann
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das Ereignis ›Wende‹ präziser zu bestimmen versucht, um auch aus der Charakteristik des Ereignisses unterschiedliche literarische Anschlussmöglichkeiten zu erweisen.
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Zwei Phasen der ›Wendeliteratur‹
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Strukturbildend für Reimanns Arbeit ist die Periodisierung der ›Wendeliteratur‹, die sie vornimmt. In einer ersten Phase dominierten die essayistischen und autobiographischen Auseinandersetzungen mit der Wende, erst in einer zweiten Phase gewännen die Autoren hingegen jenen Abstand, der es ihnen erlaube, das Ereignis im eigentlichen Sinne zu literarisieren, d.h. vornehmlich zu fiktionalisieren. Die Periodisierung ist mithin eine Periodisierung der Gattungen.
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Mit dieser Periodisierung geht es Reimann auch um historische Gerechtigkeit, denn den Schriftstellern, die aus der DDR kamen, machte das bundesdeutsche Feuilleton häufig den Vorwurf, sie hätten zu den Ereignissen geschwiegen. Reimann kann zeigen, dass dieser Eindruck vornehmlich daraus resultiert, dass Äußerungen der Wendezeit häufig einen eher intimen, autobiographischen Charakter hatten, zudem häufig in Kontexten standen (Demonstrationen, Runde Tische etc.), in denen sie weniger gut wahrnehmbar waren. Teilweise sei die Diagnose des Schweigens auch einfach darauf zurückzuführen, dass die Autoren den Erwartungen des Feuilletons an einen ›Wenderoman‹ nicht entsprachen. Vielleicht wäre als Argument zu Reimanns Korrektur hinzuzufügen, dass der Vorwurf des Schweigens, abgesehen von einer letztlich verständlichen historischen Überwältigung, auch Ausdruck eines asymmetrischen Zugangs zu den kommentierenden Medien ist. Insgesamt haben diese ersten, überblicksartigen Abschnitte des Buches weniger das Ziel, Neues zu bieten, als bündig zu informieren und die Auswahl der Texte aus dem (literatur)geschichtlichen Lauf der Ereignisse heraus zu rechtfertigen.
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Die erste Phase
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In der Chronologie dieser Periodisierung bespricht Reimann zunächst die faktualen Gattungen: Rosenlöchers Wendetagebuch Die verkauften Pflastersteine, Königsdorfs Protokollband Adieu DDR und etwas überblicksartiger eine Reihe autobiographischer Texte. V.a. die Abschnitte zu Texten der ersten Phase und ihr Ertrag lassen sich ausgesprochen schwer wiedergeben, weil sie große, zu große, Teile in das Referat der Inhalte investieren. Der eigentliche interpretative oder erklärende Anteil, der hier darzustellen wäre, hebt sich nur schwach von diesen Referaten ab. Die Schlüsse, die Reimann aus ihren Textbeschreibungen zieht, bleiben oft allgemein und vage und verhalten sich ausgesprochen indifferent zu den vorangegangenen Referaten. Immer wieder ist von ›Befindlichkeiten‹ die Rede, die im Buch ausgedrückt würden und die ›Befindlichkeiten‹ einer verletzten, zerstörten, irritierten, irgendwie jedenfalls problematisch gewordenen Identität seien. Rosenlöcher liefere mit seinem Tagebuch ein »zeithistorisches Dokument, das Stimmungen der Wendezeit widerspiegelt und das Auf und Ab der täglichen Veränderungen im Jahr 1989/90 festhält« (S. 98). Es werde die »Auseinandersetzung des Diaristen mit sich selbst evident« (S. 294). Königsdorfs Protokollband erweise sich als »Zeitdokument, das Auskunft über das letzte Jahr der DDR und seiner Bewohner erteilt« (S. 117). »In jedem der hier genannten Beispiele biographischen Schreibens«, heißt es schließlich in einem resümierenden Abschnitt über die autobiographischen Texte, »bedeutet die Wende einen Einschnitt in das Leben der Schriftsteller(innen), dem sie produktiv begegnen« (S. 126). Das kann man sich im Prinzip auch alles denken, ohne dass man die Texte liest, die Reimann bespricht. Was sollte auch sonst passieren in dokumentarischen, chronistischen Texten von Autoren, die aus der DDR kommen und es für sinnvoll halten, den Systemwechsel schreibend zu begleiten? Reimanns Analysen tendieren dazu, in allen Texten dieselben Betroffenheiten, Entwertungsgefühle und Identitätskrisen zu identifizieren.
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Die zweite Phase
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Es hätte vielleicht als Aussage über die Sache ernst genommen werden müssen, dass über das Referat hinausgehende Aussagen über die Texte erst in dem Moment möglich werden, in dem die ›Wendeliteratur‹ in ihre ›zweite Phase‹ eintritt. Erst hier können die formalen Strategien des Textes überzeugend aus dem Gegenstand des Textes erhellt werden. Im Fall von Rosenlöchers Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern ist das der Umgang mit Zeit – seine Verlangsamung und die Allegorisierung der Zeit. Denn für Rosenlöcher besteht die Wende nicht zuletzt in einer Wende der Zeiterfahrungen im Sinne unterschiedlicher Tempi des Lebens. Auch im Fall von Burmeisters Roman Unter dem Namen Norma kann Reimann zeigen, dass die Notwendigkeit, die Wende und ihre Folgen im Roman zu bearbeiten, nicht zuletzt der Schwierigkeit entspringt, dass die Vergangenheit der ›Ostdeutschen‹ schon kurz nach der ›Wende‹ in den Raum der Spekulation abdriftet und als ›wahre Geschichte‹ nicht mehr verfügbar ist. Brussigs Roman Helden wie wir schlägt aus seiner kontrafaktischen Erzählung der Wendeereignisse kritisches Kapital im Bezug auf den vermeintlich revolutionären Charakter der Wende. Die Symmetrie der beiden Erzählstränge in Hensels Erzählung Tanz am Kanal parallelisiert die Zeit vor und nach 1989.
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Es fällt aber auf, dass just da, wo sich die Texte von der Pflicht zu irgendeiner Art von Widerspieglung oder Kommentierung des historischen Ereignisses befreien und ihre ästhetische Autonomie wieder gewinnen, ihr Bezug zur ›Wende‹ immer loser wird. Die Texte von Burmeister und Hensel etwa verweisen noch auf die Zäsur des Systemwechsels, ohne dass sie im eigentlichen Sinne als Darstellungen der Wende gelesen werden könnten. Reimann selbst konstatiert das gelegentlich. Damit stellt sich aber auch die Frage, ob die Entwicklung innerhalb der ›Wendeliteratur‹ – vom faktualen zum fiktionalen Text – der Arbeit nicht die begriffliche Grundlage abgräbt, die nämlich der ›Wendeliteratur‹. In dem Moment, so ließe sich die von Reimann konstatierte Entwicklung dann auch beschreiben, in dem die ›Wendeliteratur‹ im emphatischen Sinne zu Literatur wird, hört sie auf, Literatur über die Wende zu sein. Es ist symptomatisch, dass Reimann ihre anfangs getroffene Bestimmung der ›Wendeliteratur‹, mit der sie sich etwa von der Arbeit Kormanns abzuheben hoffte, ohne weiteren Kommentar modifiziert: »Als Wendeliteratur kann also vor allem jene Literatur gelten, die retrospektiv um DDR-Lebensgeschichte kreist.« (S. 299) Sicher kann man sagen, dass sich der Erinnerungsraum DDR als Gegenstand der Literatur erst im Moment des Endes der DDR konstituiert. Aber es ist dann eben keine ›Wendeliteratur‹ mehr im Sinne einer Literatur, die die ›Wende‹ zum Gegenstand hat. Auch die Textauswahl Reimanns hätte dann anderes begründet werden müssen.
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Diskurswandel Wolf
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Allerdings wird Reimanns Arbeit nicht allein durch ihre Unterscheidung der beiden Phasen der ›Wendeliteratur‹ strukturiert. Mit Bedacht setzt sie zwischen ihre Besprechung der beiden Phasen eine Zäsur mit Christa Wolfs Erzählung Was bleibt und der daraus resultierenden Debatte in den bundesdeutschen Feuilletons. Ihr kommt die Funktion eines ›Diskurswandels‹ oder, wie Reimann auch sagt, eines ›Paradigmenwechsels‹ zu. Reimann zeigt, dass die Kritik weder auf die ästhetischen Merkmale des Textes reagiert noch die darin vollzogene »moralische Selbstdemontage« (S. 148) der Autorin zur Kenntnis genommen habe. Vielmehr gehe es um die Abrechnung zunächst mit der Literatur und den Intellektuellen der DDR und schließlich mit der Nachkriegsliteratur in Ost und West, die eher soziomoralischen und politischen als ästhetischen Idealen entsprungen sei. Natürlich verraten die Urteile, die Greiner und Schirrmacher in diesem Zusammenhang fällen, einen ebenso strengen wie bequemen Moralismus. Ob diese Einsicht freilich zur historischen Rettung Wolfs beiträgt, die Reimann immer auch im Auge hat, ist fraglich, denn ausgerechnet an Wolfs Texte legt man mit dem moralischen ja den Maßstab an, nach dem die Texte auch beurteilt werden wollen, wenngleich anders als es das Feuilleton tat.
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Dieser Zwischenschritt ist im Bezug auf die einzelnen von Reimann besprochenen Texte von unterschiedlichem Ertrag. Während man sich bei Königsdorf, Rosenlöcher und Burmeister fragt, ob sich ihre Texte tatsächlich auf die Zäsur beziehen lassen, die der Literaturstreit darstellt – Reimann jedenfalls kommt nicht wieder darauf zu sprechen –, gewinnt Brussigs Roman in der Abgrenzung von der moralisch-engagierten Schreibweise Wolfs und dem damit verbundenen Bild des repräsentativen Intellektuellen Kontur. Tatsächlich setzt sich ja der Roman mit Wolfs moralisch-engagiertem Literaturverständnis und der Rolle als öffentlicher Intellektueller auseinander, die sie in der Wendezeit spielte, freilich ausgesprochen komisch durch die Brille jenes Klaus Uhltzscht, der ›unsere Christa‹ mit der Eiskunstlauftrainerin Jutta Müller verwechselt. Man kann sich zwar darüber streiten, ob man das »plump« (S. 268) finden muss, da ja die sachliche Unangemessenheit der Auseinandersetzung durchaus als Aussage über die Sache gelesen werden kann, die eine solche Auseinandersetzung nicht mehr zu rechtfertigen scheint. Hier aber hat die Strukturierung der Arbeit durch die Zäsur Wolf einen konkreten Ertrag.
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Der Begriff der ›Wendeliteratur‹
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Die Probleme (nicht nur) dieser Arbeit resultieren in gewisser Weise aus dem Begriff, mit dem sie arbeitet, und der Art und Weise, in der sich ihr Gegenstand nach Maßgabe dieses Begriffs konstituiert. Die sogenannte ›Wendeliteratur‹ ist eine Periodisierung, die sich einzig und allein aus der Referenz auf ein bestimmtes historisches Ereignis ergibt. Er erweist sich in historischer ebenso wie in poetologischer Hinsicht als zu eng. Beide Verengungen hängen systematisch miteinander zusammen. Historisch ist er zu eng, weil sich eine Verwendung des Begriffs durchgesetzt hat, die ihn ganz auf die Bezeichnung der politischen Ereignisse zwischen dem Sommer 1989 und dem Herbst 1990 einschränkt. Damit wird implizit eine Auswahl der Faktoren getroffen, die möglicherweise für literarische Texte relevant werden. Es sind v.a. politische und ideologische Veränderungen und diese, insofern sie unmittelbar zur Erfahrung werden. Schon die ökonomischen Veränderungen des Literatursystems und die strukturellen Veränderungen der literarischen Öffentlichkeit, die sich anders und v.a. in anderen Zeiträumen als in denen eines Jahres vollziehen, werden von Reimann zwar als relevante Faktoren benannt, spielen aber für die Beschäftigung mit den Autoren keine Rolle mehr und können es auch gar nicht, wenn man die literarischen Texte mit dem Begriff der ›Wendeliteratur‹ an die Frist eines Jahres und an die Repräsentation eines bestimmten Gegenstandes fesselt. Darin nämlich bestünde die zweite, poetologische Verengung, die der Begriff der ›Wendeliteratur‹ nach sich zieht. Es ist kein Zufall, dass in Reimanns Buch die literarischen Texte häufig ›widerspiegeln‹ und ›illustrieren‹. Aus der Perspektive des Begriffs ›Wendeliteratur‹ können sie auch gar nichts anderes als Repräsentationen eines historischen Ereignisses zu sein. Damit verpflichtet man sich und die Texte aber auf ein bestimmtes ästhetisches Paradigma, Wolfgang Hilbig hat es als ›postsozialistischen Realismus‹ bezeichnet.
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