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Ein neuer Blick
auf Koeppens literarische und persönliche Welt

  • Günther Häntschel / Hiltrud Häntzschel (Hg.): Ich wurde eine Romanfigur. Wolfgang Koeppen 1906-1996. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006. 175 S. Broschiert. EUR (D) 25,00.
    ISBN: 978-3-518-41769-0.
  • Günther Häntzschel / Hiltrud Häntzschel (Hg.): Wolfgang Koeppen. Leben Werk Wirkung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006. 160 S. Broschiert. EUR (D) 7,90.
    ISBN: 978-3-518-18212-3.
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Erneuerung der Koeppen-Forschung

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Zum 100. Geburtstag und zehnten Todestag von Wolfgang Koeppen haben Günther und Hiltrud Häntzschel zwei Bände von großer Bedeutung für die literarische Kritik über den Schriftsteller herausgegeben: Ich wurde eine Romanfigur. Wolfgang Koeppen 1906–1996 und Wolfgang Koeppen. Leben Werk Wirkung. Erstgenannter Bandist Ergebnis der Ausstellung in der Münchner Stadtbibliothek 1 , mit welcher er in Titel und Inhalt übereinstimmt: mit bis dahin unbekannten, im Greifswalder Archiv aufbewahrten Fotos, Dokumenten, Bildern und Manuskriptabbildungen durchläuft das Buch auf »labyrinthische« Weise Koeppens Leben. 2 Der zweite Band hingegen ist eine schematischere Biographie, die in drei Sektionen unterteilt ist: in Leben, Werk und Wirkung, von denen jede chronologisch aufgebaut ist – die übersichtliche Gliederung des Bandes zeigt sich insbesondere auch im Anhang an der detaillierten Zeittafel und der Bibliographie.

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Trotz unterschiedlichem Aufbau zielen die zwei Biographien in dieselbe Richtung: sie erneuern die Koeppen-Forschung und legen Zeugnis ab vom engen »Binom« zwischen Kunst und Leben des Autors. Sie erzählen die neunzig Lebensjahre des Schriftstellers, der am 23. Juni 1906 in Greifswald geboren wurde, und konzentrieren sich auf die wichtigsten Erfahrungen seines Lebens: die schwierigen Kindheitsjahre, die ersten literarischen Versuche, seine Theaterbestrebungen, die journalistische Arbeit in Berlin, die unglückliche Liebe zur Schauspielerin Sybille Schloß, das Exil in Holland bei der Familie Michaelis, den Erfolg als Filmautor mit einigen Drehbucharbeiten, die Begegnung mit Marion Ulrich und der Traum von einem glücklichen Leben mit ihr und später das schwierige Eheleben mit dieser alkoholsüchtigen, oft kindisch-launischen Frau 3 , den Kreuzweg der Krankheit (Koeppen litt an Parkinson) und sein Tod in München am 15. März 1996.

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Koeppens ›Musen‹:
Seine Mutter Maria, Sybille und Marion

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Günther und Hiltrud Häntzschel richten ihre Aufmerksamkeit insbesondere auf die drei bedeutendsten Frauen in Koeppens Leben, die Motive und auch Figurenbildung seiner Werke beeinflussten: seine Mutter Maria, eine starke und kämpferische Frau, die ihm sehr zugetan war und ihn allein aufzog, aber sehr jung an einem Hirntumor erkrankte und im Jahr 1925 daran starb; die Schauspielerin Sybille Schloß, die den Schriftsteller wegen ihres oberflächlichen Verhaltens und kapriziösen Spiels mit dessen Gefühlen so verletzte, dass er sich für lange Zeit in schöpferische Lethargie, in Einsamkeit und Leiden zurückzog; seine spätere Frau Marion Ulrich, die zweiundzwanzig Jahre jünger war als er (als er sie kennenlernte, war er 38 Jahre alt, sie erst 16), die aber einen störrischen und autoritären Charakter zeigte. Gerade das war Ursache und Auslöser für viele Probleme Koeppens: wegen ihrer kindischen Launen und vor allem aufgrund ihrer Alkoholsucht wurde sie noch aggressiver und streitsüchtiger, sodass Koeppen infolgedessen in schriftstellerische Inaktivität und Schreibhemmungen versank.

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Wahrheit und Dichtung

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Die Innovation von Ich wurde eine Romanfigur. Wolfgang Koeppen 1906–1996 und Wolfgang Koeppen. Leben Werk Wirkung liegt nicht nur in der theoretischen Verkettung zwischen Koeppens Kunst und seinem Leben, sondern auch in der konkreten, formellen Gegenüberstellung von biographischen Daten des Autors und fingierten Gegebenheiten. Die Herausgeber zeigen, wie sich bestimmte Lebensereignisse Koeppens in seiner Kunst spiegeln und wie sich dadurch eine Übereinstimmung zwischen Realität und Fiktion ergab; man kann an gewissen Stellen seines Werks erahnen, dass sich die Gefühle, die er seinen Figuren einschreibt, auf seine eigenen zurückführen lassen. Dass Wahrheit und Dichtung einander bei Koeppen entsprechen, wird durch seine eigene Definition seiner selbst als »Romanfigur« 4 erhärtet.

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Was den bibliographischen Inhalt betrifft, behandeln die zwei Bände seine wichtigsten Werke: die ersten beiden Romane Eine unglückliche Liebe (1934) und Die Mauer schwankt (1935), die Trilogie Tauben im Gras (1951), Das Treibhaus (1953) und Der Tod in Rom (1954), bis hin zu den Reiseessays (1958–1961) und das Fragment Jugend (1976). Günther und Hiltrud Häntzschel stellen nicht nur die Themen der Werke vor, sondern sie konzentrieren sich auch auf die vom Schriftsteller benutzten Erzählmittel und erklären einige für seine literarische Produktion grundsätzlichen Begriffe: die (thematische, temporale und syntaktische) Simultaneität, die Theorienferne, seine Schreibkrisen, sein Schweigen, das heute zur Legende geworden ist, und seine Rolle als Außenseiter sowohl im Leben als auch in der Kunstszene.

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Bei jedem dieser Begriffe dreht es sich um die konfliktuelle Beziehung Koeppens zum Schreiben, das auf zwei parallelen Gleisen verlief: das des Leidens, der Krankheit und des Unbehagens, das ihn zur Entfremdung von der literarischen Welt und zum Schweigen brachte, und gleichzeitig das Gleis der Berufung, das ihn zur Liebe für die Literatur und zur Lust am Arbeiten führte. Trotz des Leidensdrucks waren Literatur und das Schreiben für Koeppen seit seiner Kindheit, wo er die Freude am Lesen entdeckte, bis an sein Lebensende ein Rettungsanker, als er sich trotz der Krankheit und der körperlichen Einschränkungen noch für seine Projekte begeisterte und sie mit seinem Verleger besprach.

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Während der letzten Jahre wurde er aber aufgrund seines Schweigens eine Legende. Er schaffte es nicht mehr, einen Roman zu vollenden:

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Koeppens hoher Anspruch spontan zu formulieren und den ersonnenen Figuren zu folgen, als befinde er sich mitten unter ihnen, seine Ziellosigkeit und seine Hemmung, sich für einen einzigen Weg zu entscheiden, bilden ihm Anreiz für bisher nicht gekannte Monumentalwerke. (Ich wurde eine Romanfigur, S. 70)
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Nach Koeppens Meinung bleibt nämlich jeder Text immer ein offenes Werk, da der Autor immer noch etwas Neues zu schreiben und zu ergänzen hat. Gerade diese Thesen veranschaulichen Koeppens Schwanken zwischen Lust und Leiden und die Unschlüssigkeit seiner Projekte (unter denen stechen v.a. Tasso oder die Disproportion, Ein Maskenball und Das Schiff hervor).

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Fazit

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Der wertvolle Beitrag für die Forschung und die Neuerungen dieser Bände in Bezug auf die vorhergehende Biographien sind deshalb unübersehbar: Wahrheit und Dichtung werden nicht mehr mittels biographischer und bibliographischer Daten rekonstruiert, sondern vor allem durch Koeppens Nachlass, der neue Forschungsrichtungen anregt und einen globalen Überblick bietet. Beleuchtet wird jedoch nicht nur der Schriftsteller, sondern auch der Mensch – der von der geliebten Frau enttäuschte, der aufgrund des schlechten Gesundheitszustandes seiner Frau leidenden Ehemanns. Die Bände zeigen einen Epikuräer im täglichen Leben, einen Außenseiter, der sich von der Masse abhob, und gleichzeitig einen Egozentriker, der sogar einen autobiographischen Film »über Wolfgang Koeppen mit Wolfgang Koeppen« (Ich wurde eine Romanfigur, S. 72) drehen und interpretieren und ein Selbstbildnis mit Fotografien gestalten wollte.

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Günther und Hiltrud Häntzschels Verdienst ist es, ein präzises und deutliches Bild von Koeppen mithilfe seiner eigenen Worte gestaltet zu haben; beim Lesen beider Bände kommt man seiner eigenen Welt nahe, die er so lange Zeit für sich selbst behielt, nähert man sich der Poetik seiner Werke und begegnet einem Schriftsteller, der »ab den sechziger Jahren als einer der Großen der deutschsprachigen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg« gilt –»ein Status, der heute unumstritten ist« (Leben Werk Wirkung, S. 123).

 
 

Anmerkungen

Die Ausstellung fand im Münchner Gasteig von 14. März bis 25. Juni 2006 statt.   zurück
Die Wahl der Labyrinthform ist kein Zufall: Koeppen selbst schrieb viele seiner Werke, vor allem die Romane der Trilogie, nach Piranesis Kunst, welche die klassische Perspektive ablehnt und durch Konstruktionsskizzen zur Verwirrung führen will.   zurück
Beweismaterial dieser problematischen Erfahrung ist der Briefwechsel zwischen Koeppen und seinem Verleger Siegfried Unseld, der im von Suhrkamp veröffentlichten und von Alfred Estermann und Wolfgang Schopf herausgegebenen Buch ›Ich bitte um ein Wort . . .‹ Der Briefwechsel Wolfgang Koeppen – Siegfried Unseld wiedergegeben wird.   zurück
In einem Interview mit Hans Ulrich Treichel erklärt Koeppen: »Und dann lebe ich auch etwas wie eine Romanfigur. […] Es gibt natürlich den Koeppen, der irgendwann geboren ist, irgendwo zur Schule gegangen ist, einmal Redakteur war und den man erkennungsdienstlich feststellen und festlegen könnte. Aber es gibt auch den surrealistischen Koeppen, eine literarische Figur, wo das alles nicht so sicher ist.« (In: Hans Ulrich Treichel: Einer der schreibt. Gespräche und Interviews. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 61–103).   zurück