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Diachrones Schreiben bei Paul Celan

  • Sandro Zanetti: »zeitoffen«. Zur Chronographie Paul Celans. (Zur Genealogie des Schreibens 6) München: Wilhelm Fink 2006. 273 S. 34 Abb. Kartoniert. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 978-3-7705-4300-7.
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Die Dissertation von Sandro Zanetti (Basel, Berlin) ist das Ergebnis eines ambitionierten Doppel-Projekts. Der Autor will in der ohnehin schon vielgestaltigen und facettenreichen Celanforschung, neben den Arbeiten etwa von Gellhaus, Emmerich, Menninghaus und anderen, eine wichtige Lücke schließen: »Eine umfassende Monographie zu den in Celans Arbeiten und Arbeitsspuren dokumentierten Zeitkonzepten hat bislang […] gefehlt.« (S. 29) Sein Erkenntnisinteresse besteht darin zu untersuchen, erstens, welche Zeitkonzepte in Celans Dichtung und in den Materialien, Varianten, Notizen und ähnlichem vorliegen und, zweitens, wie sich Zeit und Schrift verbinden in einer »Chronographie«, die Zanetti wie folgt definiert: »Mit diesem Wort soll – bezogen auf die Texte und Materialien Celans – die Art und Weise bezeichnet sein, in der Zeit in den von Celan überlieferten Texten und Materialien im Medium der Schrift zu bemerken und zu bedenken gegeben ist, um wiederum an Schrift bemerkbar zu werden.« (S. 15)

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Wie verfährt die Monographie mit ihrem anspruchsvollen Doppelthema? Orientiert an der einen Leitfrage (»Wie werden Gedicht und Zeit – und wie wird die Beziehung zwischen Gedicht und Zeit – in den von Celan überlieferten Texten und Materialien bestimmt?«, S. 9) zeigt die Einleitung vier Aspekte auf, an denen entlang diese grundlegende Fragestellung diskutiert wird. Die vier so genannten »Anhaltspunkte« (eher lässt sich, so wie Zanetti diese dann bestimmt, an verschiedene Typen des verwendeten Materials denken) sind die folgenden: 1) Texte Celans 2) Praktiken, Erfahrungen und Konzepte, die diesen Texten zugrunde liegen beziehungsweise für sie prägend waren, 3) Leerstellen in diesen Texten 4) Hinweise aus der Sekundärliteratur.

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Deutlich wird hier jedoch, dass diese vier Anhaltspunkte kategoriell verschieden sind. Neben die grundlegende Diskussion der den Celanschen Überlegungen die Stichworte liefernden bedeutenden Zeitphilosophien des 19., vor allem aber des 20. Jahrhunderts treten dann sehr ergebnisreiche und deshalb überzeugende Gedichtanalysen.

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Die Problematik des Bezeugens
in der Bremer Rede

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Im ersten Teil »Chronographie« (S. 33–48) steht Celans kurze Bremer Rede im Mittelpunkt der an der ambitionierten Zeitphilosophie der Zeit orientierten Überlegungen. Zanetti betont, dass Celan zeitphilosophische Überlegungen intensiv wahrgenommen hat, insbesondere Heidegger wird nicht nur erwähnt, sondern in vielen Parallelen zu Celans Werk umfassend diskutiert, parallelisiert und, wo es deutlich hervortritt, sorgsam auch abgegrenzt.

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Zanetti beginnt mit der Lektüre eines frühen Briefes an Diet Kloos (23.8.1949), der seiner Meinung nach das Celansche Zeitkonzept schon in nuce enthalte. In Celans Fokus auf radikale Endlichkeit, im Rückverweis auf eine katastrophische, traumatische Zeiterfahrung, im Bewusstsein, die Dichtung sei im Aufbegehren gegen die historische Zeit zu begreifen, im Akzent der Körperlichkeit des Schreibens mit der Hand, entstehen Motive, die dann für die Analyse der Bremer Rede und später im Meridian Verwendung finden. Zanetti analysiert Celan mit dem frühen Celan, die Verschiedenheit der Textsorten behindert diesen Transfer nicht, Zanetti wird auch kein Hindernis darin sehen, Gedichte Celans etwa mit der philosophischen Prosa Heideggers in enge Beziehung zu setzen.

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Im Mittelpunkt der Bremer Rede, deren Ansätze und Denkmöglichkeiten erst im Meridian konkretisiert werden, so Zanetti, steht die Problematik des »Bezeugens« (S. 54 f.): »Die Bremer Rede stellt den Versuch dar, einen Zugang zum Problem der Bezeugung zu gewinnen, in dem die Frage nach dem Verstummen nicht einfach übersprungen, der Ausschluss nicht abermals wiederholt wird, die Schwierigkeiten der Bezeugung aber auch nicht einfach ignoriert werden.« (S. 54 f.) An dieser mäandernden Formulierung wird die ganze Ambivalenz deutlich, mit der Zanetti Celans Zeitkonzept und seine Realisierung im Akt des Schreibens, Streichens und Durcharbeitens, begreift. Bezogen auf die Zeitauffassung bedeute dies, dass zwar alles, was in der Bremer Rede sich auf Sprache bezieht, vom Vergangenen her spricht und schreibt, daneben aber sei das Gedicht die Form der Rede, die die Möglichkeit habe und nutze, »zeitoffen« zu sein, das heißt, ohne eine starre Finalität zu entwerfen.

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Die Schrift sei dann, durchaus in Anlehnung etwa an Derridas Überlegungen, als Spur zum Zukünftigen zu denken. In diesem Kontext grenzt Zanetti den Begriff der »Geschichte« vom Begriff der »Diachronie« ab. In der Diachronie, die dem Denken von Lévinas verpflichtet ist, sieht Zanetti die Grundlage für Celans Umgang mit Zeit und Geschichte.

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Das Gedicht kennzeichnet er, gerade auch in der Figur der Dialogizität, nicht als Wechselrede, sondern als ein ins Offene weisendes ›Hindurchsprechen‹. Im Bild der Flaschenpost sieht Zanetti diesen Zusammenhang exemplarisch verdeutlicht. Die Flaschenpost wird mit einer bestimmten Absicht abgeschickt, ob sie jedoch ankommt, ist ungewiss.

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Das Offenhalten auch der Interpretation, worum Zanettis Auseinandersetzung deutlich bemüht ist, verdankt sich einem ethischen Aspekt, so wie er sich in seiner besonderen Ausprägung bei Celan lesen lässt: »Wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend« (S. 71) beschreibt Celan die eigene Rede und markiert so genau die Ambivalenz, an der Celans Zeitentwurf, der nichts anderes ist als ein Daseinsentwurf, ausgerichtet ist. Genau in der Mitte zwischen den beiden hier genannten Polen artikuliere und reartikuliere sich das lyrische Werk Paul Celans.

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Die Gestalt des Anderen im Meridian

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Im zweiten Unterkapitel dieses ersten Teils gerät unter dem Titel »Gestalt« die Meridian-Rede in den Blick. Sie erscheint in mancherlei Hinsicht als Präzisierung der Bremer Rede und fokussiert zunächst die Gestalt des »Anderen« und die besondere Dialogizität in Celans Werk, die mit ihr verbunden ist. Gerade im und am »Anderen« zeige sich die »Zeitoffenheit« bei Celan, gerade in den konkreten Gedichten ein »ebenso Unerhörtes wie Unabweisbares, ein ›Anderes‹, das ›es‹ ebenso wenig wie das Gedicht substantiell ›gibt‹, das aber [...] als Name für den Rest dessen stehen kann, was im jeweils Wirklichen eines Gedichts nicht aufgeht« (S. 83).

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Das Andere nimmt, so Zanetti, bei Celan eine große Bandbreite ein, es kann als Ansprache, als Konkretion in der Gestalt eines Anderen sich zeigen, aber auch völlig abstrakt gedacht werden als das »ganz Andere«. Gerade an porösen Stellen, an »Wundstellen« oder »Wendepunkten« werde es so möglich, das Andere, den Anderen und seine besondere Zeit zu bedenken, ihn nicht von vorneherein terminologisch auszuschalten.

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Den Lesenden kommt im gegenseitigen Gespräch die Rolle zu, »die Zeit der jeweils anderen Gestalt ›mitsprechen‹ zu lassen« (S. 93). Die berühmte »Atemwende«, die Celan im Meridian eingeführt hat, bleibt in Zanettis Überlegungen dabei etwas unterrepräsentiert, sie kommt nur als »Umkehr« (S. 99) in den Blick, ihre besondere Körperlichkeit etwa bleibt unausgeführt.

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Differenziert wird jedoch gleichwohl an vielen Stellen, zum Beispiel auch dort, wo das Andere nicht im Fremden aufgeht (vgl. S. 98) und dort, wo »Kunst« und »Dichtung« im Sinne Heideggers als getrennt voneinander zu betrachten sind, »Kunst« demnach als »Ich-Ferne« (S. 98) schaffend, »Dichtung« als der anvisierte Ausdruck unveräußerbarer Dinge.

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An dieser Stelle setzt Zanetti mit seiner Kritik am Meridian ein, wenn er bei Celan Suggestionen am Werk sieht, Setzungen, einen Anspruch, der sich als unveräußerbar geriert. Aufgabe von Interpretation sei es, diese Setzungen als solche kenntlich zu machen, Celans Werk auch dort, wo es sich selbst abschließen möchte, offen zu halten. An dieser Stelle möchte man dann auch mit dem Autor ins Gespräch kommen. Zu solchem Unveräußerbaren bei Celan gehört sicherlich die Datierung auf den »20. Jänner«, eine Datumschiffre, die sozusagen das Undatierbare datiert. An dieser Stelle ist aber Celans Setzung, das Nichtverhandelbare nicht nur mehr als verständlich, ja, nützt es gar nichts, hier distanzierend zu bemerken, hier werde eine Setzung vorgenommen. An solchen »Stellen« erscheint es doch notwendig, auf das Überlebenswichtige solcher Setzungen jüdischer Selbstbehauptung hinzuweisen, sie damit auch noch einmal zu unterstützen.

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Das Wort der »Stelle« steht in Anführungszeichen, weil es hier auf etwas verweist, das von Zanetti zu Recht im Kontext des Meridians erwähnt wird: die Raummetaphern, insbesondere die Bilder vom Weg, die im Zusammenhang mit der Zeitmetaphorik von besonderer Bedeutung sind.

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Medialität des Schreibens

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Im dritten Unterkapitel »Schrift« wird dann Celans Konkretion des Diachronen, das heißt die Zeitlichkeit und Zeitigung, die sich explizit nicht auf eine Finalität hin entwirft, betrachtet. Zanetti sieht diese Konkretion im Medium der Schrift realisiert und fügt entsprechende Fragen nach der Medialität des Geschriebenen und des Schreibens den schon eingeführten Überlegungen zur Gestalt des Anderen an.

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Der Schreiber ist mit dem Geschriebenen auf eine Begegnung aus, der körperliche Aspekt des Schreibens tritt so in den Vordergrund, das Wort erscheint als Hand-Schrift in seiner Schriftgestalt. Der Akt des Schreibens hat dann im besten Falle eine fast therapeutische Funktion:

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Daß das notwendig Wirkliche, auf das Celan die Bewegung des Gedichts zu beziehen erwägt, Erwirktes (Gezeitigtes) sei, das durch den Akt des Schreibens im Wortsinn Not zu wenden in der Lage wäre, gehört zu den Hoffnungen, die Celan mit dem Projekt Dichtung verbindet. (S. 120)
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Das Gedicht ist die Sprechart, die aus dem Stummen, dem Geschriebenen, herauszuhören ist, es schwingt mit dem Schweigen mit. Bleiben diese Überlegungen in ihrer Abstraktheit bei Zanetti dann noch sehr allgemein, so zeigt sich an der anschließenden Einzelanalyse des Gedichtes SINGBARER REST (S. 132 ff.), wie sich die Zeitoffenheit des Gedichtes als Geschriebenes zeigt.

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Dieses Gedicht beginnt mit einem Rest und der Möglichkeit, diesen Rest zu singen, und wird generell von Zanetti als Weiterführung der Auseinandersetzung gesehen, die im Meridian noch nicht zum Abschluss gekommen ist. Zanettis Lektüre des Gedichts ist am Detail orientiert, verfährt dabei aber durchaus hermeneutisch. Konfrontiert werden diese Befunde mit Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, wobei bald deutlich wird, dass Celan nicht einfach Husserl adaptiert, sondern vor allem Worte entlehnt: Bei »Zeitgehöft« etwa klingt »Zeithof« durch.

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Vom Verzweigen in der Zeit

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Im zweiten Teil, den »Fallstudien«, knüpft Zanetti an die beispielhafte Gedichtanalyse von SINGBARER REST an und führt an drei Gedichten (Wie sich die Zeit verzweigt, Schliere und Playtime) aus unterschiedlichen Schaffensperioden vor, was unter Celans »gezeitigter Sprache« verstanden werden kann.

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Zunächst die Ergebnisse des ersten Teils resümierend, führt Zanetti jetzt einen neuen Begriff ein, den des »Ethos«, der sich bei Celan eng mit dem der Wahrheit verbindet. An dieser Stelle zeigt Zanetti, wie weitgehend Celan Heidegger rezipiert hat, etwa dort, wo Wahrheit als Unverborgenheit, Wahrheit zudem als sprachliches Geschehen aufgefasst wird.

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Aber auch dort, wo Celans Heidegger-Rezeption bis in die Übernahme der Begrifflichkeit geht, akzentuiert der Verfasser letztendlich als entscheidenden Unterschied die Beobachtung, dass Celan im Gegensatz zu Heidegger keinen Ganzheitsentwurf des Seienden vertritt, sondern sein Gedicht öffnet zum Gespräch mit dem Anderen, sich also keine solche Fixierung erlaubt. Vielmehr sind bei ihm Pluralisierungen in der Form der »Gestalten des Anderen« und der Zeiten zu sehen, die eine von Heideggers Geschichtsauffassung ganz verschiedene Betrachtung der Geschichte als vor allem diachrones Geschehen begreift, das es notwendig macht, den Opfern geschichtlicher Prozesse eine Stimme zu verleihen. Mit den Gedichten ein Gegenwort zu wagen, gerade darin ist ein ethisches Moment verbunden.

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Wie Zeit geschieht, wie das sprachlich geschieht und wie sie im Medium der Sprache bemerkt werden kann, erörtert Zanetti in den folgenden exemplarischen Gedichtanalysen.

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Am Gedicht Wie sich die Zeit verzweigt (S. 158–187) wird gerade dies sichtbar: »Zeit ist das Geschehen der Teilung, Entzweiung, Verzweigung. Indem sie sich verzweigt, verräumlicht sich die Zeit, zeigt sich die Zeit, gewinnt die Zeit Gestalt, wird wahrnehmbar« (S. 163). In einer sehr genauen, auch lautlichen Analyse wird diese Grundauffassung in vielen Details vorgeführt. Gestützt wird dies dadurch, dass Zanetti die Bildlichkeit und Metaphorik im Spätwerk Celans gar nicht bildlich auffasst, da Celan sich dezidiert dagegen ausgesprochen hatte, die Sprache in seinen Gedichten als bildlich zu betrachten. Für das Frühwerk gelte dies aber noch nicht, und so kommen die Lesenden in den Genuss einer Interpretation, die sich von der Bildlichkeit leiten lässt.

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Zanettis Ablehnung der Metapher als Untersuchungskategorie auch für das Spätwerk Celans mag aber auch daher rühren, dass er solche Theorien, die geeignet erscheinen, seine »zeitoffene« Lesart zu unterstützen, nicht bemüht, zu denken wäre etwa an Hans Blumenbergs Begriff der »Sprengmetapher« in seinem Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit 1 oder natürlich auch an Metapherntheorien im Umfeld Paul de Mans. Das aber ist, auf das Gesamtprojekt hin gewendet, nur ein kleiner Makel.

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Celans Geschichtskritik, so vermag es Zanetti zu zeigen, tritt in erster Linie als Sprachkritik auf. Er zieht dafür einen weiteren frühen Text Celans heran: Edgar Jené und der Traum vom Traume. Anhand einer Lektüre dieses Textes mit Hilfe von Kleist, Brecht, Benjamin und Rilke wird deutlich, dass für Celan das grundsätzliche Problem darin besteht, »daß Sprache ›soviel Gesagtes / mit einschließt‹, seine [Celans] Gedichte können als Versuche gelesen werden, eine Antwort auf dieses Problem zu formulieren, indem sie einerseits den Bezug zu bestimmten oder unbestimmt bleibenden vergangenen Ereignissen erkennbar werden lassen, diesen Bezug aber zugleich so ausstellen, daß er als offener Bezug gegenüber einer Zukunft zur Geltung kommen und somit – in seiner jeweiligen Problematik – weiter tradiert und erinnert werden kann« (S. 187).

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Vom Schleier der Schliere

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Die folgende Analyse von Schliere bildet ohne Zweifel das Herzstück der Studie. Wahrnehmung werde in diesem Gedicht als Herausstellen einer Wahrnehmungsstörung aufgefasst, ein überaus genaues close reading, das, was in jedem germanistischen Grundkurs fast eine Todsünde wäre, hier aber gelingt, das heißt sogar Vers für Vers verfährt, bringt einen Dreischritt zu Tage: Es geht um etwas Vergangenes, um was genau, bleibt aber »schleierhaft« im Wortsinn, ein gegenwärtiges »Nun« wird abgelöst von der Forderung einer mnemotechnischen Bewahrung:

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Im Gedicht »Schliere« markieren die »Fäden« die Richtung dieses gegenseitigen Anspruchs, der allerdings weder einfach in eine Vergangenheit zurückweist, noch eindeutig auf eine Zukunft gerichtet ist, sondern wiederholt eine blinde Stelle umkreist, aus der heraus Vergangenes und Künftiges zunächst einmal in ihrer Nichtpräsenz erkennbar werden. (S. 202)
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Im vor allem akustisch wirkenden Mitlaut des »M«, das durch die letzen Verse hindurch klingt, ist Celans vorsichtiger Versuch, das Zeichen, das bewahrt werden soll, zum Klingen zu bringen, aufzuführen mithin. Das ist von Zanetti sensibel beobachtet und analysiert worden, es wäre lediglich hinzuzufügen, dass er die besondere Rhythmik, die Celan hier einsetzt, unbemerkt lässt.

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An die klassisch literaturwissenschaftliche Analyse schließt sich eine Analyse der Chronographie von Schliere an. Der materielle und mediale Aspekt ist sicher ein von der Forschung so noch nicht geleistetes Unterfangen, fügt aber, so muss kritisch bemerkt werden, den detailreichen Befunden nichts Entscheidendes mehr hinzu. Das Herzstück scheint mir tatsächlich die Interpretation zu sein, hier leistet Zanetti Außerordentliches, gerade weil sie sich auf alte hermeneutische Tugenden stützt und in einer Genauigkeit liest, die den meisten literaturwissenschaftlichen Arbeiten abhanden gekommen ist. Umso mehr ist zu loben, dass es hier jemand wagt, sich, zwar nicht nur immanent, sondern sehr kenntnisreich flankiert von den in Frage kommenden philosophischen Gewährsmännern auf die Geschehnisse im Text zu konzentrieren und davon genauestens Auskunft zu geben.

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Aus den Fugen geratene Zeit

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Die dritte große Einzelanalyse des »Fallstudien« genannten dritten Teils stellt das Nachlassgedicht Playtime in den Mittelpunkt. »Was ist los, wenn die Zeit aus den Fugen gerät?« fragt sich Zanetti hier zum Schluss. In Celans Playtime sind, so löst Zanetti dann gerade schwierigste Neologismen sehr plausibel auf, Anspielungen auf den gleichnamigen Film von Tati und zudem Anregungen aus Shakespeares Hamlet verarbeitet, die in so grundsätzliche Belange weisen, dass die Frage nach der Zeit, die aus den Fugen gerät, ganz passend gestellt ist.

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In Celans Gedicht werde das Problem der Mitteilbarkeit von Geschichte verhandelt und in diesem Kontext darauf verwiesen, welche Verharmlosungsversuche insbesondere der Geschichte der Nachkriegszeit vorliegen. »Wer unter dem – scheinheiligen – Vorwand, man müsse die Toten ruhen lassen, dem Mord am Lebenden zusieht, der mordet mit. Und verhöhnt damit alle Toten«, zitiert Zanetti den hier völlig unmissverständlichen Celan (Prosa aus dem Nachlass, [Nr. 38] 27, zit. nach Zanetti, S. 240, Anm. 44).

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Die Vergangenheit soll also, das ist Celans Anspruch an sein eigenes Schreiben, nicht abgeschlossen werden, sondern »zeitoffen« bleiben. Gerade diese Offenheit zeigt sich bei Celan auch in der Medialität seines Materials selbst. Celan hat Varianten seiner Gedichte, auch Notizen, sorgsam aufbewahrt und mit Datum versehen, im Zuge der so genannten Goll-Affäre und ihres Plagiatvorwurfs auch, um sich zu schützen, aber, so hat Zanetti zu Recht bemerkt, weil es ihm wichtig war, den Schreibprozess entsprechend zu dokumentieren und die Offenheit dieses Prozesses zu markieren.

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Resümee

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Zanetti wird seinem eigenen hohen Anspruch, die oben bedeutete Lücke in der schon umfangreichen Celan-Forschung zu schließen, gerecht. Sorgsam erarbeitet die Monographie das doppelte Thema, nimmt zahlreiche Fäden auf und verknüpft sie, um den Zusammenhalt von Zeitphilosophie auf der einen und Medialität des Schreibprozesses auf der anderen Seite auszuloten und so zu gewichten, dass die gesamte Analyse ihre Balance erhält.

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Die stärksten Passagen sind diejenigen, in denen Zanetti sich ganz klassisch hermeneutisch, mitunter sogar Zeile für Zeile, in Celans Gedichte versenkt. Da diese sensiblen Analysen einhergehen mit profunden Kenntnissen etwa der Zeitphilosophie (vor allem Heidegger ist hier zu nennen), ist diese Studie eine gelungene Mischung aus erhellendem Kontext und traditionellen germanistischen Tugenden. Das steht hier ganz ohne Ironie.

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Kritisch anzumerken ist Folgendes. Gerade zu Beginn gestaltet sich der Leseprozess sehr mühsam, was vor allem daran liegt, dass viel zu klein gedruckte, vor allem aber auch zu voll »gepackte« Fußnoten den Fließtext auf viel zu vielen Seiten verdrängen. Typographisch wird das noch unterstützt durch einen eigens abgesetzten Fragekatalog zu Beginn eines jeden Kapitels und mehr als zahlreiche Untertitel, die den Lesefluss immer wieder unterbrechen, dabei weniger orientierend wirken, als den Text vielmehr zu sehr zerschneiden. Das wird im weiteren Textverlauf besser, fast als habe erst später auch tatsächlich der Celan des Haupttextes das Terrain erobert und den Heidegger der Fußnoten verdrängt. Dass man auf Seite 30 unter der Überschrift »Formalia« erklärt bekommt, was Fußnoten sind, wirkt wie das Eingeständnis dessen, dass hier die Fußnoten zu reich bedacht wurden. Dies fällt aber nicht so ins Gewicht, dass der sehr gute Eindruck, den die Studie ansonsten hinterlässt, darunter gravierend leidet. Hervorzuheben bleibt die Originalität und der Mut, in Zeiten, in denen Literaturwissenschaft sich ihre systematischen und theoretischen Interessen oft genug teuer erkauft durch das Vernachlässigen ihrer eigentlichen primären Quellen, diese mit einer Sorgsamkeit zu behandeln, die zu loben ist.

 
 

Anmerkungen

Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. 4. Auflage. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993.   zurück