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Die »Nachtseiten« narzisstischer Persönlichkeitspathologien

Gerhard Oberlin liest Goethe und Schiller tiefenpsychologisch

  • Gerhard Oberlin: Goethe, Schiller und das Unbewusste. Eine literaturpsychologische Studie. (Imago) Gießen: Psychosozial-Verlag 2007. 314 S. Paperback. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 978-3-89806-572-6.
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Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller sind Klassiker nicht nur im epochenspezifischen Sinn. Als integraler Bestandteil eines wie auch immer gearteten literarischen Kanons wurden sie zum Bildungsgut über die Generationen hinweg. In seiner literaturpsychologischen Studie über Goethe, Schiller und das Unbewusste stellt Gerhard Oberlin einmal mehr die Frage nach den Ursachen hierfür: »Wie war es möglich […], dass Literatur von derartiger Brisanz […] zum Bildungskanon des Bürgertums und der Menschen bis heute wurde?« (S. 14)

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Die Antwort liege genau in dieser Brisanz begründet – welche Oberlin näher umschreibt als »Phänomene äußerster Destruktivität« (S. 14) –, da nämlich Goethe wie auch Schiller »dazu aufforderten, Verstecktes, Verborgenes […] bei der Lektüre oder im Theatersaal auszuagieren« (S. 14), und damit zu einem »öffentliche[n] Unbewusste[n]« (S. 14) geworden seien. Zwar räumt auch Oberlin ein, dass die Auseinandersetzung mit der Rolle der Psyche in der Literatur viel weiter zurück geht als bis in die Goethezeit, und verweist unter anderem auf die Dramentheorie des Aristoteles. Dennoch habe die frühe literarische Moderne, deren Beginn er in den Anfängen der Genieästhetik der Stürmer und Dränger ausmacht, es vermocht, das Unbewusste in bis dahin ungekannter Art darzustellen.

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Konstituierung der Subjektivität und
Wissenschaften vom Menschen

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Dies sei möglich geworden, da für einen Blick nach innen die Herausbildung der bürgerlichen Subjektivität notwendig gewesen war. Demnach führe die Frage »nach der Entdeckung psychischer Abgründe« (S. 12) geradezu zwangsläufig »in die Aufklärungsepoche zwischen Leibniz und deutschem Idealismus« (S. 12), wo auch gleichzeitig der Anfang der empirischen Humanwissenschaften anzusiedeln ist. Dem bürgerlichen Individualismus sei jedoch schon bald »die sich […] anbahnende Massenuniformierung der bürgerlichen Industriegesellschaft« (S. 33) gegenübergestanden. Dieser Umstand ebenso wie die konfliktreiche Kleinfamilie hätten schließlich Anpassungsleistungen gefordert, auf welche die Psyche mit Ablehnung reagierte: »In dieser Situation wächst mit den seelischen Konflikten und Krankheiten auch die Wahrnehmung der ›Nachtseiten‹« (S. 33).

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Sowohl Goethe als auch Schiller nahmen am anthropologischen Diskurs ihrer Zeit teil. Und zwar gemäß Oberlin nicht nur begründet im aktiven Wissen der beiden Dichter über den Stand der psychologischen Forschung ihrer Zeit – bei Schiller etwa war die Auseinandersetzung »mit der ›Experimentalphysik der Seele‹« (S. 14) Bestandteil seiner Ausbildung an der Stuttgarter Karlsschule; wobei ihn insbesondere sein Lehrer Abel beeinflusste, der einerseits für eine Vermittlung der psychologischen Avantgarde gesorgt und andererseits für eine Integration des psychologischen Diskurses in die Literatur plädiert habe. Sondern auch entsprechend der Kohut’schen These einer »künstlerischen Vorwegnahme« (S. 20), der zufolge durch die Dichter bereits psychologische Umstände angesprochen seien, die erst später zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung würden. Diese These stützt Oberlin nämlich insofern, als auch er davon ausgeht, dass die Künstler in erster Linie aus ihrem eigenen Selbst, »aus dem Unbewussten schöpfen und es so […] ›entdeckten‹« (S. 21).

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Was den aktuellen Bezug der Goethezeit-Literatur zur Gegenwart betrifft, so sieht Oberlin diesen einerseits angezeigt durch die Entsprechung des »neue[n] Interesse[s] an Charakterstörungen« (S. 15) in der Goethezeit mit der »forcierten Narzissmusforschung der vergangenen vier Jahrzehnte« (S. 15). Andererseits bezieht sich Oberlin, der Lehrverpflichtungen in Asien wahrnimmt, auch auf seinen Blick von der »asiatischen ›Warte‹« (S. 9) aus, der ihn die Werke der deutschen Literatur anders lesen lasse: Ausgehend von der Beobachtung einer gewaltsamen Industrialisierung in Asien erhielten die »alten« Klassiker neue Relevanz, indem nämlich »die Veränderungen von heute den Werken von damals aktuellen Hintergrund verleihen« (S. 9).

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Bindungsparadoxa und psychische Abhängigkeit:
Werther und die Räuber

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Am Anfang seiner chronologisch angelegten Analyse von Werken, denen Oberlin zuschreibt, »auf psychologischem und ästhetischem Gebiet Pionierarbeit« (S. 17) geleistet zu haben, stehen Die Leiden des jungen Werthers, die er betrachtet als »das Debüt moderner psychologischer Literatur in Deutschland« (S. 58). Grundlegend für Oberlins Werther-Lektüre ist die Identifizierung von Werther und Lotte als »eine aporetische Bewusstseinsfigur« (S. 51); dadurch, dass sie »ein strukturelles Paradox im Bindungskomplex« (S. 51) darstellten, sei denn auch von Anfang an eine glückliche Beziehung zwischen den beiden ausgeschlossen. Stattdessen werde Lotte mit ihrer Mütterlichkeit zum Ziel von Werthers Sehnsucht, die sich als »Suche nach einem archaisch-unpersönlichen, idealisierten Liebesobjekt« (S. 67) manifestiere, und verschlimmere so dessen durch endlosen Liebesbedarf gekennzeichnetes narzisstisches Mangelleiden – ohne dass Werthers Leiden in Wirklichkeit etwas mit der Person Lottes zu tun hätten. Dass sie also in erster Linie als die unbewussten Anteile Werthers gedeutet werden müsse, zeige sich auch schon im Einfluss, den ihr Verhalten auf sein Selbstwertempfinden habe: Eindeutig zeige sich Werthers »Selbstimago als Reflex der Partnerimago« (S. 67), wenn seine glücklichsten Momente diejenigen sind, in denen ihm Lotte offen ihre Wertschätzung bezeugt.

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Während sich Werthers Beziehung zur eigenen, »realen« Mutter insgesamt unterkühlt zeigt – »[e]r lässt ihr ausrichten, und sie lässt ihm ausrichten« (S. 92) –, werde Lotte mehr und mehr zur desexualisierten Übermutter stilisiert. In Kombination mit Albert ergebe sich so eine typische Ödipuskonstellation; »[o]b nun Modell oder Wiederholung der infantilen Leidensgeschichte: Die Werthertragödie zeigt mustergültig die Mechanismen der Übertragung« (S. 74). So unterlägen denn auch »alle sinnliche[n] Reflexe in Werther« (S. 84) einem Tabuzwang. Ebenfalls komme es zur »geradezu klassische[n] Identifikation mit dem Aggressor« (S. 85), wobei Werther sein freundschaftliches Verhältnis mit Albert als lächerlich bezeichnet und damit gleich selbst die Paradoxie verdeutlicht, welche diese Art der Beziehung prägt. Wenn Werther zu guter Letzt feststellt, dass einer von ihnen zu gehen habe, und er derjenige sein wolle, so artikuliere sich darin eine Selbstverurteilung, die in ein »Ritual der Opferhandlung« (S. 84) münden müsse.

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Auch in Schillers Drama Die Räuber arbeitet Oberlin eine narzisstische Pathologie bei den Protagonisten heraus und rückt so die Charakterprofile von Karl und Franz Moor einander näher, als es lange Zeit der Fall gewesen ist; damit schließt er sich der analytischen Annäherung der beiden Figuren in der Literaturwissenschaft erst der letzten Jahrzehnte an. Mit den beiden Brüdern greife Schiller zwei prominente Typen auf: Den »›erhabenen‹ Kriminellen und […] den ›heuchlerischen heimtückischen Schleicher‹« (S. 130). Nichtsdestoweniger unterlaufe das Stück diese Gegensätzlichkeit zugleich. Oberlin knüpft hier an den tiefenpsychologisch orientierten Ansatz von Gert Sautermeister an, der im Deutungsdiskurs der 90er Jahre zeigen wollte, dass Karls vermeintliche Heldenrolle eine in erster Linie narzisstische sei – und zwar aufgrund der »Würdigung der sadistischen Verbal- und Realbrutalität Karls« (S. 107). Diese trete vor allem im Räuberlied zutage. Lange verlegte sich die Forschungsmeinung darauf, dieses Lied aufgrund der Abwesenheit Karls als einen absichtlich gesetzten Kontrast zu diesem zu deuten. Oberlin sieht in der Abwesenheit Karls allerdings keine Exklusion desselben aus der Gesinnung der Räuberbande.

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Der verbale Gewaltexzess des Räuberlieds bringe eine sadistische Zerstörungswut zum Ausdruck, die psychologisch auffällig sei – »zumal sie mit Amokszenarien und masochistischen Straffantasien einhergeht, in denen sich Suizidwünsche verraten« (S. 134). Auch nach den Maßstäben des 18. Jahrhunderts handle es sich bei diesen Räubern nicht um normale Kriminelle, die es auf das Eigentum anderer Leute abgesehen hätten. Viel eher legten sie ein Verhaltensextrem an den Tag, bei dem es vor allem darum gehe, »in anderen zu bekämpfen und zu vernichten, was in [einem] selbst […] vernichtet wurde« (S. 134). Karl hatte seine ganze Hoffnung auf ein glückliches Leben an die Antwort des Vaters gebunden. Dass er unter einer »Selbstwert- und narzisstische[n] Störungsproblematik« (S. 149) leide, zeige sich bei Karl folglich zum einen schon an dieser übersteigerten Erwartungshaltung, wo die Antwort des Vaters zur Generalabsolution werden soll. Gleichzeitig offenbare sich die Problematik auch darin, dass sich Karl in seinem Bittbrief selbst sehr deutlich in Frage stelle. So sei es nicht die Leichtgläubigkeit Karls, die ihn die Intrige des Bruders nicht durchschauen lasse, »sondern der chronisch verfestigte Selbstzweifel« (S. 155). Die in der Glorifizierung des Vaters sich zeigende psychische Abhängigkeitskonstellation mache das Stück schließlich auch zu einem von Schillers »Fallbeispiele[n] falscher Erziehung« (S. 137) und weise den Dichter aus als »als intuitive[n] Meister der Tiefenpsychologie« (S. 160).

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Megalomanie und Selbstwertkonflikt:
Doktor Faust und Marienbad

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Mit Faust und Mephisto habe Goethe wiederum ein dynamisches Bewusstseinsmodell geschaffen, bei dem »Mephisto […] nicht nur die dunkle Triebsphäre« repräsentiere und »Faust […] nicht nur der leuchtende Rationalist« (S. 178) sei. Stattdessen käme es zu einer Durchmischung beider Anteile in beiden Figuren – Oberlin deutet Mephisto als das Unbewusste, als Instanz, die »Faust letztlich alles Verdrängte in sich ausagieren lässt« (S. 218). Und auch hier sei Goethe daran gelegen, Fausts Liebe zu den Frauen als eine Selbstbeziehung zu gestalten. Zur Untermauerung seines Ansatzes argumentiert Oberlin mit der Szene Hexenküche. Denn aufschlussreich sei insbesondere, dass nicht erst der Zaubertrank stimuliere, sondern Faust schon vor Mephistos Prophezeiung, von nun an in jeder Frau Helene zu sehen, einen Frauenleib im Spiegel erkennt: »Diese Konfrontation mit dem eigenen Spiegelbild […] spielt auf den ursprünglichen Narzissmythos an« (S. 194). Und wie zuvor dasjenige von Werther, sei auch Fausts Sehnen eines nach einem Mutter-Ideal, was zugleich das Scheitern realer Beziehungen bedinge. Denn das ersehnte Ideal könne niemals gefunden werden. Eine Ausgangslage, die eine Unersättlichkeit – »Speise die nicht sättigt« (Vs. 1678) – generiere, die dem Kohut’schen Konzept »des unstillbaren narzisstischen ›Objekthungers‹« (S. 227) entspreche.

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Dass Faust schließlich in seiner grandiosen Vision, »im irrealen Vorgriff auf künftige Taten, Ehren und Verdienste« (S. 232) das Glück des Augenblicks empfinde, zeige einerseits das für Megalomanien typische Vorauseilen; wobei Oberlin deutlich macht, dass megalomane Fantasien im Allgemeinen »zu den psychodynamischen Folgeerscheinungen von Erfahrungen des Ungenügens« (S. 221) gehören und der Leser also auch im Faust mit einem Selbstwertkonflikt konfrontiert wird. Andererseits weise dieser Umstand aber auch den wahren Grund für Fausts Sterben als einen intrinsischen aus: »weil er nur genießen kann, was nicht ist, und dabei das Leben ein für allemal überspringt« (S. 234). Wenn Faust die Spur seiner Erdentage nicht in Äonen untergehen sieht, habe er den Tod durch die Illusion einer Kontinuität überwunden. Damit sterbe Faust auf der Höhe seines Strebens und der Therapieweg habe sich gezeigt als »Sublimation durch Kulturleistung« (S. 237).

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So wie der Faust mit dem Stoßseufzer eines gealterten Gelehrten auf dem Höhepunkt von dessen intellektueller Karriere beginnt, gehe es auch in der Marienbader Elegie vornehmlich um eine »Eskalation narzisstischer Konflikte im Alter« (S. 18), die sich nicht im Abschied von der Geliebten erschöpfe, sondern vielmehr »einen Generalabschied vom Leben« (S. 248) suggeriere. In der Überhöhung des Liebesobjekts zeige sich, dass »der Partner als Selbstobjekt gesucht und benötigt wurde« (S. 264) und das Liebesobjekt damit zu einem Mittel der Selbstaufwertung funktionalisiert worden sei. Die im Zentrum des Konflikts stehende »Selbstwertirritation« (S. 259) werde bereits in den Anfangsversen der Elegie offenbart – »Zu Ihren Armen hebt sie dich empor« (Vs. 6) –, denn das Emporheben stehe »für eine Erlösungsapotheose, deren Essenz die Wiedergutmachung für den Objektverlust und die Aufhebung der damit verbundenen Erniedrigung ist« (S. 259).

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Eine »Kunst des Unbewussten«

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Oberlin legt eine dichte Studie vor, in der er nicht nur den narzisstischen Impetus der in den Texten agierenden Figuren aufdeckt, sondern die Thematik des Unbewussten auch im historischen Kontext verortet und die literarischen Erzeugnisse so als »Aufklärung der Aufklärung« (S. 183) wertet, unter anderem weil zur wirklichen Aufklärung auch »die Einsicht in Dynamik und Entwicklung der Psyche« (S. 172) gehöre.

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Mit den Parallelitäten zwischen den untersuchten Werken und den Biographien Goethes und Schillers thematisiert Oberlin zugleich die Paradoxie einer »Kunst des Unbewussten«, in der »das dynamische psychische Geschehen in wohl organisierter Form sich selbst zu überlassen« (S. 246) sei. Mit der Betonung dieses paradoxen Tenors weist Oberlin geschickt den Vorwurf an eine psychoanalytische Lesart zurück, welche das Moment der literarischen Konstruktion (und Organisation) zugunsten des immer nur spekulativ zu entfaltenden Innenlebens des jeweiligen Autors negiert.

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Die tiefenpsychologischen Erklärungen des Figurenverhaltens sind nachvollziehbar dargestellt und es ist nicht notwendig, jedem Auslegungsvorschlag zuzustimmen, um Oberlins souveränen Zugriff auf eine tief greifende Thematik als solchen anzuerkennen: Die Studie setzt sich mit einem komplexen Gegenstand in ebenso komplexer Art und Weise auseinander. Zuweilen stellt sich diese Komplexität leider selbst ein Bein, wenn in rasendem Tempo von einem Punkt zum nächsten und wieder zurück gesprungen wird, wobei das Springen in beide Richtungen nicht immer eine Strategie erkennen lässt. Auch wird ein Schlusskapitel vermisst, in dem der Verfasser die gesammelten Erkenntnisse noch einmal ordnend zusammenführt. Diese gelegentliche »Unordnung« vermag dem Gesamteindruck jedoch keinen Abbruch zu tun, der sich zusammenfassen lässt als ein sehr interessantes Lektüreerlebnis. Die präsentierte tiefenpsychologische Auslotung der gewählten Werke weist diese denn auch nicht nur als »alte« Klassiker neuer Relevanz aus, sondern rückt sie in der Tat auch ins Licht als Texte, »in denen die Nachtseiten nicht nur erlaubt, sondern kanonisiert sind« (S. 9).