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Vom ewigen Kampf der alten Götter

  • Martin Treml / Daniel Weidner (Hg.): Nachleben der Religionen. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zur Dialetik der Säkularisierung. München: Wilhelm Fink 2007. 280 S. 5 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 978-3-7705-4369-4.
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Laut einem häufig zitierten und gern kritisierten Diktum Carl Schmitts sind alle »prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe«. Odo Marquard hat diese Formulierung in Frage gestellt: »Gilt das – und gelten weiterreichende Säkularisationsbehauptungen […] nur für theologische Begriffe des Christentums, nur für Begriffe und Einstellungen monotheistischer Theologien? Oder gilt es, und zwar auch für unsere Welt, für religiöse Einstellungen und – falls es dergleichen gibt – theologische Begriffe auch des Polytheismus?« 1 Als der alte Schmitt diese Fragen Anfang des Jahres 1980 liest, notiert er sich lapidar an den Rand seines Manuskripts: »Es gilt nur für die Epoche des modernen Staates«.

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Dem vermeintlichen Ende dieser Epoche zum Trotz blieben Fragen nach dem Prozess der Säkularisierung virulent. Das Konzept wird nach wie vor ins Feld geführt, um politische Einheiten nach außen abzugrenzen und Differenzen im Inneren zu stabilisieren. Auf dem Sachgebiet, für das Schmitt seine Behauptung formuliert hatte, hielt Ernst-Wolfgang Böckenförde bis zuletzt an der legitimierenden Inanspruchnahme des Säkularisierungsgeschehens für den freiheitlichen Staat fest. 2

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Auch im Rahmen einer Diagnose der heutigen Lage der Rechtswissenschaft wird das Säkularisierungsnarrativ belehnt. In seiner Metapherngeschichte des öffentlichen Rechts hat Michael Stolleis für das Auge des Gesetzes eine »zunehmende Säkularisierung« und »Entpersönlichung« 3 ebenso verzeichnet wie die Irritationen, welche die einstmals selbstverständliche Frage nach materialer Gerechtigkeit angesichts einer nur noch formal operierenden Rechtsordnung auslöst. Niemand mag offenkundig nach der Trennung und Ausdifferenzierung der Sphären mehr so tun, »als ob es neben dem Baurecht und dem Straßenverkehrsrecht, dem Erbrecht und dem Urheberrecht auch noch gerechtes Recht gäbe.« 4

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Verlässt man das Recht und seine Geschichte, wo »saecularizatio« im Codex Iuris Canonici eine bestimmbare Herkunft hat, wird das Terrain bald unübersichtlich. In den vergangenen Jahren wurde dem Konzept eine unüberschaubar werdende Anzahl teilweise ausgezeichneter Forschungsarbeiten gewidmet. Die Analysen werden kleinteiliger, präziser, aber auch vielfältiger.

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Forschungsprojekte widmen sich der »Verweltlichung der Wissenschaft(en)« und gehen der Reziprozität von methodologischem Atheismus und christlichem Glauben seit der frühen Neuzeit nach. 5 Über die »Dialektik der Säkularisierung« verständigten sich bereits Jürgen Habermas und der ehemalige Kardinal Ratzinger, 6 während das Verhältnis von Säkularisierung und Sexualwissenschaft in Bezug auf jüdische und christliche Traditionen bestimmt wird. 7 Überhaupt wird der lange vernachlässigten jüdischen Perspektive auf den Säkularisierungsprozess inzwischen mehr Aufmerksamkeit geschenkt. 8

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Dass »die großen Debatten der 1960er und 1970er« zwischen Löwith, Blumenberg, Schmitt und anderen in der Auseinandersetzung um den Säkularisierungsbegriff »zwar immer wieder genannt, tatsächlich aber weitgehend ignoriert werden« (S. 11), wie Daniel Weidner und Martin Treml in ihrer Einleitung zum vorliegenden Band konstatieren, hat wohl auch mit dieser Ausdifferenzierung des Forschungsstandes zu tun. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund weiter nach der Fortdauer des Religiösen in der Moderne fragen?

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Gespenstergeschichten für Erwachsene

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Die »Dialektik der Säkularisierung« ist Gegenstand eines Forschungsschwerpunktes am Berliner Zentrum für Literaturforschung, der Schauplätze und Figuren einer europäischen Kulturgeschichte in den Blick genommen hat. Aus diesem Kontext, in dem u.a. »Figuren des Sakralen«, »Charis und Charisma« oder die »Poetologie der Körperschaften« untersucht wurden, sind zuletzt zahlreiche Publikationen hervorgegangen. 9 Im Mittelpunkt der programmatischen Überlegungen zu diesem Schwerpunkt steht die Suche nach religionsgeschichtlichen Voraussetzungen kultureller Phänomene. Der kulturwissenschaftlichen Perspektive wird dabei eine spezifische Sensibilität für solche Gegenstände zugeschrieben, deren Untersuchung keiner einzelnen Disziplin obliegt. Kulturwissenschaftliche Objekte fallen zwischen etablierte Sachgebiete und bedürfen damit zwischenfachlicher Aufmerksamkeit und Kompetenz. Kulturwissenschaft ist Wissenschaft von Übergängen und Relationen, das Fehlen scharfer Abgrenzungen definiens der untersuchten Gegenstände und ihrer Disziplin.

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Die Analyse des Säkularisierungskonzepts kann so unter Verzicht auf einsinnige Entwicklungsmodelle geleistet werden. Umbesetzung und Umsetzung vertikaler in horizontale Modelle erscheinen nicht zwingend als teleologische Verkettung von Heilsgeschehen und Fortschrittsgeschichte. Als Schwellennarrativ, das die Austauschprozesse zwischen gemeinhin als getrennt hypostasierten Sphären – Transzendenz/Immanenz, Religion/Politik, Kirche/Staat etc. – verhandelt, verzeichnet die »Dialektik der Säkularisierung« Übergänge in beide Richtungen. Als vielleicht »letzte große Erzählung« (S. 11) fällt sie dabei auch in den Einzugsbereich philologischer Kompetenz, die den rhetorischen Strategien solcher Narrative nachgeht. 10 Die Analyse textueller Gesetzmäßigkeiten liegt jedoch weniger im Fokus der vorliegenden Beiträge.

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Diese untersuchen das Säkularisierungsnarrativ unter einer doppelten Perspektive: Einmal werden mit dem Begriff des »Nachlebens« jene Schwellenphänomene bezeichnet, die als »Weiterleben, Überleben, Wiederholung, Wiederherstellung, Erbe, Übertragung, Überlieferung« (S. 12) die Moderne prägen. Dem »Nachleben« wird attestiert, das Unheimliche und Unentscheidbare dieser Phänomene wenn nicht dingfest, so doch immerhin namhaft zu machen. Der Begriff ist glücklich gewählt. Auch anderen rezenten Publikationen dient er dazu, einer linear gedachten Verlaufsform der Entleerung und Entkörperung des demokratischen body politic »Gespenstergeschichten« (Warburg) der modernen Demokratie entgegenzuhalten. In ihnen spukt der tot geglaubte Doppelkörper des Königs durch die modernen Parlamente und lebt bis in ihre Sitzordnungen nach. 11

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Die Einheit der Vielfalt der Beiträge wird zudem durch die These konturiert, dass Religion und ihre Geschichte insofern paradigmatischer Gegenstand der Kulturwissenschaft seien, als sich in ihrer Erforschung »per se verschiedene Methoden und Disziplinen verbinden: Philosophie, Anthropologie, Geschichts-, Literatur und Religionswissenschaft« (S. 10). Mangelnde Trennschärfe wird so als Stärke der kulturwissenschaftlichen Untersuchungsperspektive verbucht, auf eine weitere Präzisierung des Begriffs der Säkularisierung verzichtet. Seine Unentbehrlichkeit erweist sich wohl »bei aller Unschärfe und Unbestimmtheit« auch hier daran, dass er »eine Problemlage anzeigt, die sich anderen, präziseren Begriffen zu entziehen scheint.« 12

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Warnte Hans Blumenberg 1966 noch vor der scheinbar unbegrenzten Leistungsfähigkeit des Säkularisierungskonzepts, indem er »wahllos« Beispiele seiner Anwendung »versammelte«, 13 gibt die »Dialektik der Säkularisierung« dem vorliegenden Band ein Passepartout an die Hand, »den intellektuellen Diskurs der Moderne« (S. 177) zu entziffern. Und es stimmt ja, dass sich mit diesem Interpretationsschlüssel nach einer Vielzahl heterogener Phänomene und Transferverhältnisse fragen lässt: nach Heideggers Versuch, Europas Anfang zu denken und dabei die Idee der Säkularisierung zu umgehen (Rodolphe Gasché), seinem damit kompatiblem Unternehmen, sich von der Theologie durch Langeweile zu befreien (Christoph Schmidt), nach der Zeitlichkeit des Bildes bei Blanchot (Didi-Huberman), Derrida und Levinas (Stéphane Mosès), dem Gespinst aus textueller und territorialer Landnahme im israelisch-palästinensischen Konflikt (Angelika Neuwirth), dem Verlust des absoluten Adressaten und den Anschlussproblemen in der Beichtkommunikation bei Dostoevskij und Bachtin (Sylvia Sasse), sowie nach der Grenzfigur des christlichen Märtyrers in der Vormoderne (Thomas Frank) und seinen Nachfolgefigurationen im 20. Jahrhundert (Thomas Macho). Auch die gewichtigen und weitreichenden Fragen von Raphael Gross zum Nachleben des Christentums im Rassebegriff des Nationalsozialismus hätten Antworten verdient.

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Es stimmt freilich auch, dass jedes dieser Themen für sich einen Band getragen hätte. 14 Die Stärke der veranschlagten Verwendung des Säkularisierungskonzepts ist bisweilen auch die Schwäche einer Themen- und Perspektivenvielfalt, die sich in schlagenden Einzelbeiträgen dokumentiert, während eine schärfere konzeptionelle Profilierung im Ganzen ausbleibt. Die Überblendung der beiden unterschiedlichen Ausgangsfragen – nach der Fortdauer des Religiösen in der Moderne einerseits, nach seiner Bedeutung für die Formation der Kulturwissenschaft andererseits – verschleift bisweilen die Differenzen.

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Die Bündelung der Beiträge in die jeweiligen Kapitel –»Die erste Kulturwissenschaft und die Religion«, »Ursprung und Überleben«, »Topographien« sowie »Sakrale Figuren« – lässt sich denn auch leichter unter proportionalen als unter sachlichen Gesichtspunkten erfassen. Warum beispielsweise der Text von Renate Schlesier den Topographien zugeordnet wurde, erklärt sich eher aus seinem Titel (»Passagen und Sackgassen«) als aus seinen wissenschaftsgeschichtlichen Pointen. Wird Texten, die sich nun gedruckt hintereinander finden, attestiert, »auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun« (S. 19) zu haben, nährt dies fast unweigerlich die Befürchtung, auch auf den zweiten könne diese Einschätzung Bestand haben. Die Texte von Raphael Gross und Stéphane Mosès seien, »freilich auf ungewohnte Weise, Analysen der Folgen der Schoah.« (ebd.) Dieser neuen Rubrik ließen sich nach vorsichtiger Schätzung des Rezensenten knapp die Hälfte der Beiträge zuordnen. Aber sei’s drum.

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Zur Entstehung der Kulturwissenschaft
als Vorgang der Säkularisation

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Die Unschärfe des kulturwissenschaftlichen Feldes führt in steter Regelmäßigkeit zur Frage nach den Anfängen der Disziplin. Auch hier findet sich ein breites Spektrum von Vorschlägen. Wird Kulturwissenschaft als »Nachkriegswissenschaft in dem Sinne« profiliert, »dass die Rückfälligkeit in die Barbarei nicht so sehr ihr Gegenstand als ihre methodische Voraussetzung ist«, ist die historische Stunde Null zugleich die einer neuen Wissenschaft. 15 Für Friedrich Kittler ist Giambattista Vico »Gründerheld« 16 der neuen Wissenschaft. Erst mit ihm beginne »Kulturwissenschaft in unsrem Wortsinn«. Erst mit Vico? Kittler bestimmt diese Schwelle anhand der Frage, wann die Menschen sich zu dem von ihnen selbst Gemachten reflexiv verhalten, ihr ohnehin vorhandenes Wissen so in den Stand der Wissenschaft erhebend.

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Beim Übergang zur Moderne, liest man wiederum bei Niklas Luhmann »kommt es zur Erfindung von ›Kultur‹. […] Kultur ist zunächst einfach die Verdoppelung aller Artefakte, Texte eingeschlossen. Neben ihrem unmittelbaren Gebrauchssinn gewinnen sie einen zweiten Sinn, eben als Dokumente einer Kultur. Töpfe sind einerseits Töpfe, zum anderen aber auch Anzeichen einer bestimmten Kultur, die sich durch die Art ihrer Töpfe von anderen Kulturen unterscheidet. Und was für Töpfe gilt, gilt auch für Religionen.« 17 Zur Kulturwissenschaft braucht es folglich Texte, Töpfe und Religionen. Als Wissenschaft von Übergängen, Brüchen und diskontinuierlichen Prozessen erfordert sie vergleichende und selbstreflexive Aufmerksamkeit. Über die Bestimmung der Schwelle, an der sich der Übergang zu epistemologisch gefestigten und institutionell abgesicherten Wissensordnungen vollzieht, werden die jeweiligen Anfänge konturiert.

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Die Herausgeber des vorliegenden Bandes fassen unter dem Schlagwort einer ersten Kulturwissenschaft um 1900 eine wissenschaftsgeschichtliche Konstellation, in der die Auseinandersetzung mit Religion einen zentralen Stellenwert einnimmt und interdisziplinäre Aufmerksamkeit generiert. Insbesondere der erste Teil des Bandes ist damit Arbeit an einer Formation, deren Aneignung und Weiterentwicklung keinen wissenschaftsgeschichtlichen Normalfall darstellt. Eine Erinnerung dieser ersten Kulturwissenschaft hat es mit einem komplizierten Prozess des »writing back« zu tun. Die Wiederherstellung der Verbindung zwischen älteren und neueren Varianten kulturwissenschaftlicher Betrachtung, der aufwendige Reimport ihrer Errungenschaften versucht die »Wiederaneignung ihrer verdrängten Geschichte« 18 entlang der Brüche der deutschen.

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Obwohl diese Geschichte vor 1900 zurückreicht, verzeichnen eine Reihe von Beiträgen vergessene Traditionslinien und verschüttete Forschungskontinuitäten. Die hier praktizierte Kulturwissenschaft versteht sich als Teil der Prozesse, die sie erforscht. Sie lebt der ersten nach und bearbeitet dieses Nachleben analytisch. Und sie reproduziert ihre Fragen. Denn das Problem des Nachlebens und der Fortdauer des Religiösen ist eines, das unter Vorzeichen spezifisch westlicher Modernisierungs- und Rationalisierungstheorien auf den Plan tritt und sich global betrachtet so gar nicht stellt. Die These des Vorworts, der Islam habe »sein Nachleben noch vor sich« (S. 15), ist Teil desjenigen diskursiven Feldes, das zur Analyse ansteht.

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Der Beitrag von Martin Treml sucht nach der Denkfigur des Nachlebens bei Aby Warburg, dem sie für gewöhnlich zugeschrieben wird. Nach einem kurzen Überblick über die Geschichte des Wortgebrauchs kommt Treml, gestützt auf Arbeitsmaterialien Warburgs, zu dem überraschenden Befund, der Begriff selbst spiele bei diesem keine prominente Rolle. Der Mangel einer robusten Definition kann so nochmals exemplarisch als methodische Stärke ausgewiesen werden. Während sich im englischen Sprachraum im Rahmen evolutionärer Theorien, die Warburg vielfach rezipierte, verstärkt der Begriff des survivals findet, geht Warburg Modi des Nachlebens unter ganz verschiedenen Stichworten nach. In der Ambivalenz einer Vielzahl von Warburgs Begriffen wie Einfluss, Wiederaufnahme und Fortleben macht Treml die ›Unreinheit‹ kulturwissenschaftlicher Wissensgenese und ihre ›wilden‹ Ursprünge geltend. Dass bei Warburg eine exakte methodologische Einordnung fehlt, ermöglicht der Kulturwissenschaft umgekehrt, ihre Perspektive den untersuchten Gegenständen anzuverwandeln, ohne den Zugang durch Vorfestlegungen zu verstellen. 19

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Thomas Meyer will mit seinem Beitrag über »Ethik und Kultur statt Religion und Glaube« Bruchstücke einer Gegengeschichte offenlegen, die das »Gedankenlaboratorium Weimar« (S. 41) nicht auf die extremen Positionen festschreibt, über die es allzu häufig definiert werde. Den »Grobianen des Zeitgeistes« (S. 52) – heutigen wie damaligen – führt Meyer die redlichen Versuche synthetischen Denkens vor Augen, die auch in der erregten Atmosphäre der Zwischenkriegszeit ihre intellektuellen Positionen nicht kampflos räumen, sondern im Sinne der Aufklärung an der Umbuchung religiöser Konzepte in ethisch-kulturelle arbeiten. Mit Kurt Sternberg und Benzion Kellermann, v.a. aber Fritz Heinemann und Albert Lewkowitz sollen verschüttete Diagnosen zur Säkularisierung zunächst einmal freigelegt, dann aber durchaus auch reaktiviert werden. Zu einem Stück applikativer Hermeneutik geraten Meyers Überlegungen nämlich dort, wo sie selbstreflexiv die Nähe der eigenen, als gemäßigt behaupteten Position zu den analysierten Stellungnahmen der Zwischenkriegszeit suchen, und kontrastiv die Extremismen von Jetztzeit und Gewesenem dagegenhalten.

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Interessant ist der Kontrast dieser offensiven Inanspruchnahme gemäßigter Positionen der Zwischenkriegszeit »für Künftiges« (S. 53) zum folgenden Beitrag von Daniel Weidner. Um Aktualisierung geht es bei der Diskussion um »Güter und Götter um 1900«, so der Titel, nämlich dezidiert nicht. Vielmehr attestiert Weidner der Auseinandersetzung um den Wertbegriff zwar eine besondere Sensibilität für »Übertragungen, Transfers und Sprünge« (S. 56) zwischen den Diskursen. Als anschließbar erweist sich das Problem der Werte jedoch nicht in seiner argumentativen Dimension. Vielmehr geht es um die präzise Vermessung eines Schauplatzes, auf dem Diskurse noch in intensivem Austausch miteinander standen, die in der Folge getrennt werden sollten. In den Diskussionen um den Wertbegriff trafen sie sich und rangen miteinander, bevor die disziplinäre Ausdifferenzierung sie säuberlich separierte. Bei Rickert, Simmel und Weber zeigen sich nicht allein die Umbesetzungen ökonomischer in moralische Kategorien. Es werden auch die diskursiven Bruchlinien sichtbar, entlang derer der Wertbegriff disparate Semantiken zu integrieren suchte.

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Wenn Sein und Sollen auseinander treten, der Raum der Werte keine Transzendenzen mehr kennt, die ihn absichern, ist der Götterstreit, von dem Max Weber in »Wissenschaft als Beruf« berichtet, vorprogrammiert – »und zwar für alle Zeit«. Wie Weidner hervorhebt, artikuliert Weber dies in einer spezifischen Denkfigur: Die Grenze zwischen Tatsachen und Werten wird selbst noch einmal als Wert behauptet (S. 70). Die Beobachtung und Entfaltung solcher Paradoxien, so das Fazit Weidners, mache die Werttheorien um 1900 zu einer Urszene der ersten Kulturwissenschaft.

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In der Nachkriegszeit werden die Wechselbeziehungen zwischen finanzieller und moralischer Ökonomie in besonderem Maße politisch virulent. Die Frage, wie Enteignung, Verfolgung, Entrechtung, Zwangsarbeit und Mord ›wieder gut gemacht‹, Opfer und Hinterbliebene entschädigt werden können, nimmt einen zentralen Stellenwert im offiziellen Umgang mit der Vergangenheit ein, während man sich hinsichtlich der privaten Verstrickungen in »kommunikativem Beschweigen« (Hermann Lübbe) übt. Sigrid Weigel verlängert in ihrem Beitrag die Beobachtungen, die Weidner an der Formation der ersten Kulturwissenschaft vornimmt, in das Wertgefälle der Nachkriegszeit, wo eine »Entgeltung durch Geld« die gegenstrebige Fügung nicht-äquivalenter Tauschverhältnisse, moralischer und finanzieller Ökonomie bezeichnet. In großen Sprüngen skizziert ihr Beitrag zudem einige der kulturgeschichtlichen Fundamente solcher Austauschprozesse zwischen Erbsünde und ars memoriae, Heines Memoiren, Simmels Philosophie des Geldes und Shakespeares Merchant of Venice. In den Transfers zwischen Schuld und Schulden, erinnernder und materieller Restitution, Geldwert und Personenwert werden die Kulturgeschichte des Geldes und die der Schuld schlaglichtartig aufeinander abgebildet.

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Grenzen der ersten Kulturwissenschaft

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Die Konturen der ersten Kulturwissenschaft um 1900 hätten bei konsequenterer thematischer und theoretischer Zuspitzung deutlicher geschärft werden können. Im ersten Teil des Sammelbandes finden sich wichtige Ansätze hierzu. 20 Weitere Beiträge lassen sich zwanglos hinzufügen. So fragt, um noch ein Beispiel zu geben, der Beitrag von Renate Schlesier nach den wissenschaftsgeschichtlichen Gründen für den Erfolg der Anthropologie auf dem Feld der antiken Religionsgeschichte, während philologische Methoden zeitgleich in die Defensive geraten. Um 1900 treffen Konzepte des Rituals und des survival-Begriffs auf Überbleibsel humanistischer Vorstellungen, deren Ideale jedoch nicht mehr im Rekurs auf die Antike abgesichert werden konnten. Unter dem Druck der ethnologischen Praxis teilnehmender Beobachtung konzentriert sich die Suche auf anthropologische Fragen und findet schließlich in Übergangsriten und Initiationen einen »umfassend praktikablen Universalschlüssel«, der nach Schlesier »virtuell alle religiösen Phänomene zu allen Zeiten und an allen Orten theoretisch zu integrieren versprach.« (S. 148)

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Die Folgen für die Philologie der Antike sind verheerend, denn sie opfert nach Darstellung Schlesiers ihr komplexes methodologisches Rüstzeug der Suche nach anthropologischen Universalien in liminalen Zuständen. Dabei handelt es sich bei den Dokumenten (nicht nur) der Antike in vielen Fällen zunächst einmal und schlicht um Texte. Eine nur scheinbar selbstverständliche Beobachtung, denn sie müsste in einem zweiten Schritt den Kurzschluss zwischen Denk-, Gesellschafts- und Textform als unzulässig erweisen. Dies führt zurück auf die philologische Einsicht, dass der Begriff der Referenz »radikal aus einer Widerspiegelungslogik herauszulösen« (S. 153) ist. Eine solche Geschichte der Entmachtung der Philologie mit dem Versuch ihrer Restituierung wäre für andere Disziplinen noch zu schreiben.

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Auch Carl Schmitt wird von einigen Beiträgen benutzt, um einer ersten Kulturwissenschaft schärfere Konturen zu verleihen – zumeist durch scharfe Abgrenzung. Samuel Weber widmet sich explizit Schmitts Arbeit an einer Kultur des Todes anhand von Römischer Katholizismus und politische Form. Die Fähigkeit zur substanziellen Gestaltung des Lebens, die Schmitt der katholischen Kirche zuschreibt, erweist sich in der Überlegenheit der Form über die Materie. Als Hintergrund dieser Beseitigung des Amorphen identifiziert Weber Schmitts Repräsentationskonzept. Im Sinne der liturgischen Anamnese wird der Kreuzestod Christi Bestandteil des Lebens, der unsichtbare Tod der Immanenz sichtbar eingegliedert.

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Weber schlägt von hier aus sehr zu Recht die Brücke zum Ausnahmezustand der Politischen Theologie und zur Freund-Feind-Unterscheidung im Begriff des Politischen. In all diesen Fällen liegt die Überlegenheit der Form über die Materie darin begründet, prinzipiell Unfassbares fassbar zu machen. Zum Beleg der Radikalität dieser Vorstellung zitiert Weber Schmitts Verfassungslehre, nach der die Idee der Repräsentation darauf beruht, »dass ein als politische Einheit existierendes Volk gegenüber dem natürlichen Dasein einer irgendwie zusammenlebenden Menschengruppe eine höhere und gesteigerte, intensivere Art Sein hat.« 21 Die besondere Dignität dieser politischen Einheit gegenüber jeder natürlichen führt Weber auf die christliche Vorstellung von Einheit und Dauer zurück. Sie soll säkulare Variante des Kreuzesopfers sein.

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Wäre dem so, hätte Weber sicherlich auf einen schweren Webfehler von Schmitts Repräsentationstheorie aufmerksam gemacht. Denn das Problem politischer Einheitsbildung lässt sich in der Moderne nicht mehr auf der Grundlage vorgegebener Substanzen lösen. Ein Hinweis aus dem Zusammenhang, den Weber zitiert, weist jedoch in eine andere Richtung. Wenn Schmitt in Römischer Katholizismus schreibt, dass die »Repräsentation der Person des Repräsentanten eine eigene Würde [gibt], weil der Repräsentant eines hohen Wertes nicht wertlos sein kann,« 22 gehorcht dies einer Logik, die innerhalb der römisch-katholischen ecclesia gilt. Repräsentation in der Verfassungslehre meint aber gerade nicht mehr Darstellung eines zwar Unsichtbaren, aber immer schon Gegebenen, sondern Herstellung einer jenseits der Repräsentation gar nicht vorhandenen Größe.

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Das von Schmitt angenommene Wertgefälle zwischen natürlichem und politischem Sein visibilisiert so auch die Paradoxien einer ersten Kulturwissenschaft. Seine Arbeit am Politischen raunt hier nicht etwa in politisch-theologischem Grobianismus, sondern verweist auf den Umstand, dass sich die Inkommensurabilität der Entscheidung nicht dadurch erledigen lässt, dass man dem System der Werte auch noch einen Höchstwert hinzufügt.

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Fazit

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Abschließend stellt sich so die Frage, ob die Kulturwissenschaft sich weiterhin ihrer Traditionen versichern muss, indem sie die Brüche ihrer Geschichte analytisch wiederholt. Sicher, man kann ihr in Abgrenzung von Extrempositionen der Zwischenkriegszeit deutlichere Konturen verleihen und sie damit zugleich legitimatorisch in Anspruch nehmen. Wird dies aber der Gemengelage der Weimarer und der ihr voraus liegenden Theorielaboratorien gerecht? Ein erweiterter Schauplatz, auf dem eine erste Kultur- einer ersten Ideologietheorie begegnet – bei Benjamin, Cassirer, Heidegger, Nietzsche, Plessner, Schmitt, Simmel, Weber u.a. – ließe sich eröffnen. Die Arbeiten von Ernesto Laclau, Claude Lefort oder Chantal Mouffe weisen die Richtung, in der das Nachleben dieser Begegnung verzeichnet werden könnte.

 
 

Anmerkungen

Odo Marquard: Aufgeklärter Polytheismus – auch eine politische Theologie? In: Jacob Taubes (Hg.): Der Fürst dieser Welt. München: Fink/Schöningh 1983, S. 77–84, hier S. 77.   zurück
Auch wenn er inzwischen die »Schleifung dieser Bastionen« in Erwägung zieht. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert. München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung 2007 (Bd. 86), S. 18.   zurück
Michael Stolleis: Das Auge des Gesetzes. Geschichte einer Metapher, München: C.H. Beck 2004, S. 45. Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Jahrestagung des ZfL von 2004. Dort hatte Stolleis Überlegungen aus diesem Zusammenhang referiert.    zurück
Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 21997, S. 216.   zurück
Lutz Danneberg / Sandra Pott et al.: Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Band 1–3. Berlin: Walter de Gruyter 2002/03.   zurück
Jürgen Habermas / Joseph Ratzinger: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Freiburg: Herder 2005.   zurück
Christina von Braun: Gibt es eine ›jüdische‹ und eine ›christliche‹ Sexualwissenschaft? Sexualität und Säkularisierung. Wien: Picus 2004.   zurück
Vgl. einige der Beiträge in Jens Mattern (Hg.): EinBruch der Wirklichkeit. Die Realität der Moderne zwischen Säkularisierung und Entsäkularisierung. Berlin: Vorwerk 8 2002.   zurück
U.a. Daniel Weidner (Hg.): Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven. München: Fink 2006; Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München: Fink 2006; Albrecht Koschorke / Susanne Lüdemann / Thomas Frank / Ethel Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt/M.: Fischer 2007.   zurück
10 
Vgl. hierzu Daniel Weidner: Zur Rhetorik der Säkularisierung. In: DVjs 78 (2004), S. 95–132.   zurück
11 
Vgl. Philip Manow: Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 9 und passim.   zurück
12 
Daniel Weidner: Eine jüdische Perspektive auf Säkularisierung (27.01.2004). Rezension zu EinBruch der Wirklichkeit (siehe Anm. 8). In: IASLonline. URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=2483.   zurück
13 
Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1966, S. 19.   zurück
14 
Und ja auch trägt, wie die Publikationen des ZfL zeigen: Sigrid Weigel (Hg.): Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und Heiligen Kriegern. München: Fink 2007.   zurück
15 
Anselm Haverkamp: Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004, S. 7.   zurück
16 
Friedrich Kitller: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München: Fink 2000, S. 19.   zurück
17 
Niklas Luhmann: »Jenseits von Barbarei«. In: M. Miller/ H-G. Soeffner (Hg.): Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnosen am Ende des 20.Jahrhunderts. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 219–230, hier S. 225 f.   zurück
18 
Gerhart von Graevenitz: »›Verdichtung‹. Das Kulturmodell der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft«. In: Kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 12 (1999), S. 19–57, hier S. 20. Die Entwicklung des kulturwissenschaftlichen Paradigmas, das Abbrechen dieser Tradition und die Relektüre ihrer Problemstellungen untersucht aus kulturgeschichtlicher Perspektive bereits Stefan Haas: Historische Kulturforschung in Deutschland 1880–1930. Geschichtswissenschaft zwischen Synthese und Pluralität. Köln: Böhlau 1994.   zurück
19 
Vgl. auch Joseph Vogl: »Robuste und idiosynkratische Theorie«. In: KulturPoetik 7/2 (2007), S. 249–258.   zurück
20 
Auch andere Überlegungen Didi-Hubermans zum Nachleben bei Warburg hätten hier ihren Platz finden können. Vgl. L’image survivante. Histoire de l'art et temps des fantômes selon Aby Warburg. Paris: les Éd. de Minuit 2002, oder Artistic Survival. Panofsky vs. Warburg and the Exorcism of Impure Time. In: Common Knowledge 9:2 (2003), S. 273–285.   zurück
21 
Carl Schmitt: Verfassungslehre. Berlin: Duncker & Humblot 1928, S. 210.   zurück
22 
Carl Schmitt: Römischer Katholizismus und politische Form [1923]. München: Theatiner Verlag 1925, S. 29. Vgl. zu Schmitts genuin moderner Fassung des Repräsentationsmodells Uwe Hebekus: Ästhetische Ermächtigung. Zum politischen Ort der Literatur im Zeitraum der Klassischen Moderne. München: Fink 2008.   zurück