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Die Germanistik in ihrem Siegeslauf hält weder Bachelor noch Bologna auf?

Das erste Komplettlehrbuch für das
»BA-Studium Germanistik« liegt vor

  • Klaus-Michael Bogdal / Kai Kauffmann / Georg Mein: BA-Studium Germanistik. Ein Lehrbuch. (rowohlts enzyklopädie) Reinbek: Rowohlt 2008. 352 S. Paperback. EUR (D) 12,95.
    ISBN: 978-3-499-55682-1.
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Corrupti mores depravatique. Die Menschheit
im freien Fall

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Was uns Menschen und unsere Welt betrifft, gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte ist: Unsere Welt ist nicht in Ordnung. Die gute ist: Sie war es nie, und es ist noch immer weitergegangen. Schon Adorno beschwert sich über die anarchischen Verhältnisse von 1968. 1 Schon Shakespeares Hamlet leidet an der frühneuzeitlichen Welt, die aus den Fugen geraten ist. 2 Und schon die Klassiker klagen. »[C]orrupti mores depravatique sunt«, »verdorben sind die Sitten«, schreibt Cicero, 3 und Seneca: »quae fuerant vitia, mores sunt«, »was einst Laster waren, sind jetzt die Sitten«. 4 Am drastischsten aber heißt es bei Sophokles: »Ungeheuer ist viel und nichts / Ungeheurer als der Mensch.« 5

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So gesehen, befinden wir Menschen uns schon seit Jahrtausenden im freien Kultur- und Sittenverfall, und offenbar dauert er immer noch an. Wir sind durchs goldene, silberne und vermutlich auch durch einen Großteil des eisernen Zeitalters gerauscht. 6 Und ein Ende des Sturzes ist auch jetzt, im Informations-Zeitalter, nicht in Sicht. Daraus folgt dreierlei. Entweder die Fallhöhe ist immens groß. Oder wir fallen sehr langsam. Oder wir fallen überhaupt nicht.

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Bologna und Bachelor, eschatologisch

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Nun hat, wer sich den beklagten Zeitläufen zum Trotz der Kultur nahe fühlt, meist nicht nur einen kritischen Geist, sondern auch eine dramatische Ader und wird sich deshalb regelmäßig für die eschatologisch getönte Vorstellung vom kulturellen Fall aus dem Paradies entscheiden. Das ist jedenfalls zur Zeit in den Feuilletons zu beobachten, wo häufig die als »Bologna-Prozess« bezeichnete Universitätsreform und der damit auch in Deutschland eingeführte »Bachelor« samt seiner Wirkung auf die Studierenden als jüngste Symptome des allgemeinen Kulturverfalls gelten.

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Zwar wurde über diesen Verfall immer schon geklagt, so die These, aber erst heute wird er auch zu Recht beklagt: Im »Hinweis auf das Alter der Beschwerde über Studenten«, las man im März 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, liege »noch kein zureichender Grund, sie für unsachgemäß zu halten. Auch wenn es schon tausendmal gesagt wurde, könnte es ja heute stimmen.« 7 Und, glaubt man dem Feuilleton, es soll stimmen: Die Studierenden lesen angeblich keine Klassiker mehr, 8 und »die Professorenschaft« hat beim Bologna-Curriculum »versagt«. 9 Mit Bologna soll er nun endgültig da sein, der Kulturverfall. Jetzt aber wirklich.

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Faustischer Drang, pragmatischer Sinn

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So verstanden ist Bologna eine Art Bildungsapokalypse – nur dass eben im Unterschied zum Original vergangener Zeiten (Offb 10, 8–11) keine Bücher mehr verschlungen werden. Diese Vorstellung muss man kennen, um zu verstehen, warum es eine Germanistik vor und eine »Germanistik nach Bologna« geben soll, wie die Süddeutsche Zeitung in einer sehr kritischen Glosse über das hier zu rezensierende Lehrbuch BA-Studium Germanistik schrieb. 10 Von Germanisten wolle man wissen, heißt es da, »ob Anglizismen ärgerlich sind, was man seiner Tochter vorlesen sollte, welche Fontane-Ausgabe die beste ist« und »warum Baron Ochs im ›Rosenkavalier‹ so viel Platz beansprucht«. All diese Fragen, so das Verdikt, lasse das Lehrbuch offen, und deshalb enttäusche es.

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Klar: Die Schläge, die den Rücken dieses »wirr« und »brav« gescholtenen Lehrbuches treffen, gelten eigentlich dem Fach. Doch so, wie man von einer Deutsch-Fibel für die erste Klasse nicht die Problemlösung der neuen deutschen Rechtschreibung erwartet, ist ein Fachlehrbuch nicht zuständig für Reform oder Revolution des Faches. Im Gegenteil: Es soll verständlich so in das Fach einführen, wie es ist. Denn, »O tempora, o mores!«, 11 man wird heute im Examen eher nach Baudrillards Simulakrum gefragt als nach dem dicken Baron Ochs auf Lerchenau.

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Was man also von einem Bachelor-Lehrbuch erwarten sollte, ist ein verlässlicher Überblick über das Wissen, das man im Bachelor-Studium erwerben und im Examen demonstrieren soll. Dabei versteht sich von selbst, dass man aus Interesse an der Sache – wenn man so will: aus humanistischem oder faustischem Bildungsdrang – studieren sollte. Dennoch ist es nicht ehrenrührig, sondern zeugt von pragmatischem Sinn, gleichzeitig das Examen mit seinen möglichen Fragen im Auge zu behalten. Denn das Wissen, mit dem man sie beantwortet, ist nichts anderes als das, was früher »der Kanon« hieß.

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Aufbau und germanistisches Selbstverständnis
des Lehrbuches

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Gibt also das Lehrbuch BA-Studium Germanistik einen guten Überblick in diesem Sinne? Gegliedert ist es wie das Bachelor-Studium in Module. Drei Basismodule präsentieren die Germanistische Sprach- und Literaturwissenschaft sowie die Fachdidaktik. Zwei Aufbaumodule vertiefen Sprach- und Literaturwissenschaft; darauf folgen ein »Ergänzungsmodul Germanistische Medienwissenschaft«, ein »Ergänzungsmodul Deutsche Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur« und ein Kapitel über »Germanistische Arbeitstechniken«. Am Ende stehen zwei Bibliografien: eine sechsseitige Liste der zu den jeweiligen Modulen empfohlenen »Grundlagenliteratur« und sechzehn Seiten mit zitierter Literatur.

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Die Einleitung beginnt mit einem Abschnitt über den »Nutzen der Germanistik« (S. 9–12), der das Dilemma des Faches zwischen wissenschaftlicher Autonomie und »Brodgelehrten[tum]« (Schiller) thematisiert, mit dem sich Geld verdienen lässt. Wie also kann man in einer Zeit, in der sich die Menschen häufig als Humanressourcen unter Globalisierungsdruck begreifen, eine philologische Ausbildung in der – mit Nietzsches Formulierung – »Goldschmiedekunst und -kennerschaft des Wortes« 12 rechtfertigen? Die Antwort auf diese Frage streift zwar auch das heute etwas anachronistisch anmutende Argument, dass die Germanistik »als Nationalphilologie« einen zentralen »Beitrag für unser kulturelles Selbstverständnis liefert« (S. 11), argumentiert aber in erster Linie pragmatisch: Germanisten haben auch außerhalb von Schule und Universität ähnlich großen beruflichen Erfolg wie andere, funktional-wirtschaftsorientierte Akademiker. Das stimmt, und das beruhigt.

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Auf den »Nutzen der Germanistik« folgt die »Geschichte des Fachs« (S. 13–18), und ihre auf fünfeinhalb Seiten zusammengedrängte klare Darstellung lässt nichts zu wünschen übrig. Sie schlägt den Bogen von Georg Friedrich Beneckes Göttinger Berufung zum Extraordinarius für Deutsche Philologie im Jahr 1805 über Gervinius und die Grimms, über die erste Frankfurter Germanistenversammlung 1846 und Diltheys Verstehens-Begriff bis zur Germanistik nach 1945 mit ihren Protagonisten Kayser, Staiger und Szondi.

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Die Einleitung schließt mit der »Systematik des Fachs« (S. 19–22), zu dem hier auch die »Medienwissenschaft« zählt. Die Begründung dafür lautet:

[16] 
Traditionell verfügen die Philologien zwar nicht über die Deutungshoheit in Sachen Medien, wohl aber über die Kernkompetenzen, sind doch Sprache und Schrift als die dominierenden Medien der Vergangenheit und Gegenwart schon immer ihr Gegenstand gewesen. Es ist daher nur folgerichtig, wenn die Germanistik ihr Lehr- und Forschungsprofil auch auf die sogenannten neuen Medien ausweitet, die Demarkationslinien zwischen den verschiedenen Medien bestimmt, Definitionsmodelle entwickelt und den Wandel der kulturellen Wissensbestände im Verlauf ihrer medialen Transformation untersucht. (S. 22)
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Das ist erfreulich selbstbewusst, und das ist richtig, wie man aus der Erfahrung mit jener Ausprägung der Medienwissenschaften weiß, die sich selbst als nicht- oder sogar anti-philologisch begreift.

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Die Germanistische Sprachwissenschaft

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Das »Basismodul Germanistische Sprachwissenschaft« beginnt mit der Differenzierung von Meta- und Objektsprache und den unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes ›Sprache‹. Dabei stolpert man allerdings gleich über Ungereimtheiten. Völlig uneinheitlich etwa ist die Differenzierung von Gebrauch und Erwähnung – englisch: use und mention – 13 eines Wortes. So heißt es ohne irgendeine Markierung des Wortes ›Sprache‹, im Deutschen sei »der Ausdruck Sprache vieldeutig« (S. 23). Eine Seite später heißt es kursiv: »im Einzelnen bezeichnet Sprache jeweils Folgendes« (S. 24), später wieder sind erwähnte Wörter mal in doppelte, mal in einfache und mal gar nicht in Anführung gesetzt (vgl. z.B. S. 41), gelegentlich findet sich auch ein Wort in Majuskeln (S. 26). Das ist ein großes Durcheinander. Zugegebenermaßen ist die Use-mention-Unterscheidung nicht vollkommen trennscharf, aber dennoch sollte sich zumindest der sprachwissenschaftliche Teil eines Lehrbuches um ihre einheitliche Handhabung bemühen – wie auch um die Unterscheidung von ›Wort‹ und ›Begriff‹, die zu mehr Klarheit führen würde (vgl. z.B. S. 24).

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Von solchen Problemen abgesehen, erfährt man im linguistischen Basismodul Grundlegendes zu Saussure und Chomsky, zu Phon und Phonem, Morph und Morphem, zur Wort- und Satzlehre und zur Grammatik der Verben. Die Darstellung ist stark verdichtet, und häufig wird auf Beispiele verzichtet, die das Dargestellte veranschaulichen würden – zum Beispiel die Liste der verschiedenen Satzarten (S. 46). Irritierend ist, dass sich ausgerechnet in einem Satz über »Kriterien der Grammatikalität« die grammatisch falsche Formulierung findet: »sie sind beeinflusst von Störfaktoren wie kurzes Gedächtnis, Zerstreutheit des Sprechers […], Einflüsse der dialogischen Interaktion« (S. 57) – das »wie« muss natürlich den Dativ nach sich ziehen. Überhaupt ist der Stil manchmal zu lax. Etwas »macht durchaus Sinn« (S. 124; ähnlich S. 150 und, diesmal in Anführung, S. 136); das sollte es im Deutschen eigentlich nie. Solche Umgangssprachlichkeit steht in merkwürdigem Kontrast zu immer wieder verwendeten technokratischen Floskeln wie »[a]uf den Begriff des Äußerungsakts braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden« oder »[a]llerdings ist darauf hinzuweisen, dass« (S. 140) – Formulierungen, die grundsätzlich überflüssig sind.

[21] 

Das »Aufbaumodul Germanistische Sprachwissenschaft« bringt die Vorgeschichte des Deutschen und seine Sprachgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (S. 111–123); es folgen Abschnitte zu Semantik, Textlinguistik und linguistischer Pragmatik. Auswahl und Darstellung der Probleme und Begriffe sind plausibel und hilfreich.

[22] 

Basismodul Germanistische Literaturwissenschaft

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Das »Basismodul Germanistische Literaturwissenschaft« geht zügig in knappen Definitionen vor. Die erläuterten Begriffe sind: Fiktion, Gattung, Kanon, Autor / Leser, Epoche / Periodisierung, Archiv / Gedächtnis, Text / Kontext, Diskurs und Metapher / Metonymie. Über den »Begriff ›Fiktion‹« zum Beispiel erfährt man auf nicht einmal zwei Seiten (S. 59–61) die etymologische Herkunft, Platons Negativ-Verdikt und Aristoteles’ Einspruch dagegen, Coleridges Diktum vom »›poetic faith‹« als »›willing suspension of disbelief‹«, die Funktion von Fiktionalitätssignalen und die Verwandtschaft zum medientheoretischen Begriff der Virtualität. Das ist, wie auch durchweg in den anderen Abschnitten dieses Moduls, eine gelungene Informations-Auswahl.

[24] 

Ein Tribut an die Lesbarkeit mag sein, dass Zitate nicht immer nachgewiesen werden; gelegentlich lassen sie sich – so zum Beispiel die Eco- oder Kristeva-Zitate (S. 70) – ihrer Quelle gar nicht zuordnen, weil sie nicht im Literaturverzeichnis genannt sind. Ob die aus dem angloamerikanischen Raum stammende Gewohnheit besonders glücklich ist, Literatur im Fließtext durch das Publikationsjahr der zitierten Ausgabe nachzuweisen, sei dahingestellt – ein Schiller-Nachweis »1962, 751« (S. 10) wirkt zumindest auf das historisch empfindsame Gemüt schief. Und Studierende weisen zwar erfahrungsgemäß mit Angaben wie »Platon 2004« oder »Kant 2004« nach, wann ungefähr sie sich die Politeia oder die Kritik der reinen Vernunft zugelegt haben, wissen aber dennoch nicht immer, wann sie entstanden sind. Das wäre zu bedenken, wenn man bei den bibliografischen Angaben auf das Jahr der Entstehung oder Erstveröffentlichung verzichtet (vgl. die Angaben zur Zitierweise S. 314 f.).

[25] 

Auf die Definition der genannten Begriffe folgt ein Abschnitt über die »Grundtechniken der Literaturwissenschaft« (S. 77–91), der neben der Lyrik-, Dramen- und Erzählanalyse auch die Editionsphilologie umfasst. Sie ist hier wohl ein odd one out und dürfte heute im Bachelor-Studium so gut wie keine Rolle mehr spielen – sollte es Nostalgie oder gar ein schlechtes Gewissen vor der Historie sein, dass die Editionsphilologie noch in dieses Lehrbuch aufgenommen wurde? Möglicherweise handelt es sich auch um didaktisches Kalkül, dient doch das Lob philologisch zuverlässiger Ausgaben auch der »eindringlich[en]« Warnung vor dem »sogenannten Projekt Gutenberg«, dessen Texte »häufig unzuverlässig« seien – »korrupt, wie der Editionsphilologe sagt«. Daher gelte als Regel: »Die im Internet wiedergegebenen Texte sind noch nicht einmal als Leseausgaben zu gebrauchen.» (S. 79) In der Tat muss man das so deutlich sagen. Denn wer heute an der Universität arbeitet, kennt von den Studierenden nur zu gut die dunkle verführerische Macht des »Google-Copy-Paste-Wiki-Hausarbeiten.de-Wissens«, das der heuristischen Systematik und damit Verlässlichkeit entbehrt. Gleichzeitig gibt es natürlich auch zuverlässige Informationsquellen im Internet; einige werden am Ende des Buches genannt. (S. 319)

[26] 

Aufbaumodul Germanistische Literaturwissenschaft

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Das »Aufbaumodul Germanistische Literaturwissenschaft« beginnt mit einer 60-seitigen »Literaturgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart« (S. 153–212). Sie ist das längste Unterkapitel des vorliegenden Buches und konventionell, aber gut.

[28] 

Nicht so gelungen ist der folgende Abschnitt über »Literaturtheorie«. (S. 213–240) Dass eine »allgemeingültige, konsensfähige Definition des Gegenstandes unseres Faches, der Literatur, […] auch heute nicht in Sicht [ist]« und man »misstrauisch sein« sollte, »wenn das Gegenteil behauptet wird« (S. 217), sagt überhaupt nichts über die Frage, ob und wie sich der Gegenstand sinnvoll definieren lässt. Eher fällt mit dieser Aussage Licht auf einen im Fach immer noch ziemlich verbreiteten Pauschal-Reflex gegen Definitionen, die als Verallgemeinerungen, irgendwie, im Verdacht stehen sollen, falsch oder ungerecht zu sein.

[29] 

So häufen sich im Literaturtheorie-Abschnitt die Gemeinplätze. Literatur hat, irgendwie, etwas mit »soziokulturelle[r] Kommunikation« zu tun (S. 219, ähnlich S. 239), Aristoteles »sollte« man »gelegentlich konsultieren« und Horaz »zumindest zur Kenntnis« nehmen (S. 219), weil das »lehrreich und vergnüglich sein kann« (S. 223). Brauchbarer als solche Mitteilungen sind die Abschnitte zu Hermeneutik, Strukturalismus und Poststrukturalismus, Diskursanalyse und Dekonstruktion (S. 229–236) – wobei sich die Dekonstruktion in der Beschreibung ihrer »[d]ekonstruktive[n] Methoden« (S. 235) nicht unbedingt wiedererkennen wird.

[30] 

Medienwissenschaft

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Das »Aufbaumodul Germanistische Medienwissenschaft« klärt zunächst Grundbegriffe wie ›Medium‹, ›Primär-‹, ›Sekundär-‹, ›Tertiär-‹ und ›Quartärmedium‹ oder ›neue Medien‹. Als Beispiel dafür, wie technische Medien den Inhalt des in ihnen Mitgeteilten prägen, dient der »durch die SMS-Kultur etablierte Zwang zur Kürze«, der »innerhalb weniger Jahre eine ganz eigene Form schriftlicher Abkürzungszeichen geschaffen [hat] (*LOL*).« (S. 241–243) Dann kommt eine kursorische Blütenlese von Medientheorien: Neil Postmans Idee einer von neuen Medien imprägnierten Wirklichkeit, Luhmanns Definition des Mediums als Unwahrscheinlichkeitsverstärker, Hörischs Theorie vom Geld als ontosemiologischem Leitmedium. (S. 243–245). Es folgen ein- bis dreiseitige Kurzdefinitionen der Begriffe ›Virtualität‹, ›Aura‹, ›Information / Bit‹, ›analog / digital‹ und ›Oralität / Literalität‹, darauf wiederum Schlaglichter auf prominente Medientheorien von Horkheimer / Adorno, Marshall McLuhan, Neil Postman, Vilém Flusser, Jean Baudrillard und Niklas Luhmann. Diese Darstellungen gehören zu den dichtesten und besten des Lehrbuches. (S. 254–270)

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Ergänzt werden sie durch eine Mediengeschichte, die vom Codex Hammurapi über Rotulus und Codex, Papyrus und Papier, Lettern-Buchdruck und Zeitungen bis zu Kino, Radio, Fernsehen und Hörbuch führt. (S. 271–286).

[33] 

Fachdidaktik, Gegenwartsliteratur, Arbeitstechniken

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Zwei weitere Module bieten Grundlagenwissen in der Gegenwartsliteratur und – wie als Vorschau auf das Seminar zur Lehrerausbildung – der Fachdidaktik. In der Didaktik spielt die PISA-Studie aus dem Jahr 2001 eine zentrale Rolle. Man wird in der Schule damit zu tun haben, »dass in Deutschland 42 Prozent der 15-Jährigen nicht mehr freiwillig zum Buch greifen«. Außerdem, erfährt man, haben »Untersuchungen zum geschlechtsspezifischen Leseverhalten […] gezeigt, dass sich im Jugendalter die Lesehäufigkeit disproportional zuungunsten männlicher Jugendlicher verschiebt« – einfach gesagt: Jungs lesen, je älter sie werden, immer noch weniger. (S. 102)

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Was sie zum Beispiel lesen könnten, zählt das »Ergänzungsmodul Deutsche Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur« auf. Es beginnt mit der Unterscheidung von »deutschsprachiger« – also zum Beispiel österreichischer oder schweizer – und »deutscher Literatur« (S. 287), berührt dann kurz die »›innere Emigration‹« und die »Debatte um die Nichtrückkehr Thomas Manns nach Deutschland« (S. 289) und verbindet im Folgenden Autornamen mit Sammelbegriffen wie »Magischer Realismus«, »Naturlyrik«, »literarische Moderne«, »Junge Generation«, »›Gruppe 47‹«, »›Sozialistische[r] Realismus‹« oder »experimentelle Lyrik«. (S. 290–296) Am Ende stehen »Frauen-« und »postmoderne Literatur«, »postdramatisches Theater«, »neue Lyrik« und »Pop-Literatur«. (S. 299–303)

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Das Lehrbuch schließt mit einem Kapitel über literaturwissenschaftliche Arbeitstechniken, das unter Douglas Adams’ Motto »KEINE PANIK!« stehen soll. (S. 306) Es gibt Tipps zu Themenfindung, systematischer Recherche und zum Schreiben – samt einem Beispiel für das Deckblatt einer Hausarbeit. Am Ende stehen hilfreiche Internet-Adressen. Der letzte Hinweis – ein echter double bind – gilt ausgerechnet dem ›Projekt Gutenberg‹, das jedoch, wie hier noch einmal unterstrichen wird, »nicht zitierfähig« ist. (S. 319) Das erinnert ein bisschen an den Zauberer Petrosilius Zwackelmann in Otfried Preußlers Räuber Hotzenplotz, bei dem der Eintritt nicht nur »streng verboten!«, sondern »allerstrengstens verboten!!!« ist – deshalb allerdings nicht weniger verlockend. 14 Und doch wird am Ende alles gut.

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Resümee

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Das ist auch das Resümee dieser Rezension, denn das Lehrbuch BA-Studium Germanistik gibt in der Tat einen guten ersten Überblick über die zentralen Inhalte dieses sechssemestrigen Studiums. Selbstverständlich lässt sich unendlich viel dagegen einwenden, sie in ein einziges Buch mit 345 Seiten packen zu wollen, und diese Einwände wurden ja auch erhoben. Was an Kritik dieser Art allerdings nicht überzeugt, ist die mehr oder weniger ausgesprochene Unterstellung, ein Lehrbuch wolle das Studium selbst ersetzen. Das ist natürlich eine absurde Vorstellung. Ein Lehrbuch kann das Studium mit seiner literarischen und theoretischen Lektüre genauso wenig ersetzen wie ein Kochbuch das Festmahl.

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Wer dennoch irrtümlich glaubt, das wäre möglich, wird schnell so enttäuscht sein wie Plinius zufolge die Tauben, die an den von Zeuxis gemalten Trauben pickten und davon nicht satt wurden. 15 Diese Einsicht aber ist nichts anderes als die platonische Lektion, zwischen wirklichen Dingen und »schlechten Scheinerzeugnissen«, also den Dingen und ihrer virtuellen – mit Platon: »schattenhaften« (vgl. S. 244) – Repräsentation, zu unterscheiden. 16 Doch ohne Repräsentationen gibt es keine Erkenntnis, und daher darf man Platon zum Trotz genauso wenig den »nachbildenden Dichter« in die Verbannung schicken wie ein Lehrbuch, das nicht identisch mit seinen Inhalten ist.

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Leistung ist Arbeit pro Zeit. Gemessen am knappen Umfang des Lehrbuches BA-Studium Germanistik bietet es eine Menge Informationen – auch wenn sie großenteils eher genannt als umfassend erläutert werden. Wer das Buch nutzt, um sich Literatur, Theorien und Definitionen systematisch zu erarbeiten, wird im Studium Erfolg haben. Das aber ist die Voraussetzung, sich an der sicherlich wünschenswerten Verbesserung des real existierenden Germanistik-Studiums zu beteiligen. Dann lässt sich sagen: Die Germanistik in ihrem Siegeslauf hält weder Bachelor noch Bologna auf.

 
 

Anmerkungen

Theodor W. Adorno: Keine Angst vor dem Elfenbeinturm. Ein »Spiegel«-Gespräch. In: Ders.: Vermischte Schriften 1. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1986 (= Gesammelte Schriften, Bd. 20.1), S. 402–409. Das Interview von 1969 beginnt: »Spiegel: Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung ... Adorno: Mir nicht.«   zurück
»The time is out of joint. O cursed spite, / That ever I was born to set it right!« William Shakespeare: The Tragedy of Hamlet. Hg. von George Richard Hibbard. Oxford 1987 (= The Oxford Shakespeare), S. 196 (1.5.196f.).   zurück
M. Tullius Cicero: De officiis. De virtutibus. Leipzig 1971, S. 79 (II, 20).   zurück
L. Annaeus Seneca: Epistulae morales. Rom 1949, S. 139 (IV, 10).   zurück
Sophokles: Antigone. Tragödie, übersetzt von Wilhelm Kuchenmüller. Stuttgart 1986, S. 18 (Vers 332 f.).   zurück
P. Ovidi Nasonis Metamorphoseon libri quindecim. Metamorphosen in fünfzehn Büchern von P. Ovidius Naso, übersetzt und hg. von Michael von Albrecht. Stuttgart 1994, S. 12–17 (1. Buch, Vers 89–150).   zurück
Jürgen Kaube: Ohne Vorkenntnis. Das leere Versprechen des didaktisierten Studiums. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 70 (25. März 2008), S. 42.   zurück
So die dem Klappentext von Volker C. Dörr, Weimarer Klassik, München 2007 unterstellte Unterstellung. Jürgen Kaube schreibt dazu: »Genau so bemerkenswert wie die leider meist leere Versprechung ›Vereinfachung durch Didaktik‹ ist die Unterstellung des Klappentextes: dass ein ganzer Kreis von Studenten des Faches Germanistik existiert, der es als Pluspunkt wahrnimmt, wenn ›der Fixstern der deutschen Literaturgeschichte‹ ohne Vorkenntnisse aus erster Hand erschlossen werden kann. Es ist ganz, ganz wichtig, aber ihr bekommt es ganz, ganz leicht, so lautet die Reklame.« Ebd.   zurück
»Kommt man vor lauter Modulen wirklich nicht mehr zu den Werken? Dann hat die Professorenschaft bei der Erstellung des Pflichtprogramms versagt.« Ebd.   zurück
10 
Jens Bisky: Zerstückelung einer großen Dame. Die Germanistik nach Bologna: Ein wirres, braves Lehrbuch. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 35 (11. Februar 2008), S. 11. Das folgende Zitat ebd.   zurück
11 
M. Tullius Cicero: Orationes in L. Catilinam. Leipzig 1906, S. 249 (I,2).   zurück
12 
Friedrich Nietzsche: Morgenröte. In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1988, Bd. 3, S. 9–331, hier S. 17.   zurück
13 
»Confusion of things with their names, signs with their objects, is confusion of use and mention. [...] To mention a name, like anything else, you use a name of it. [...] [T]he quotation serves as a name of the name. A quotation names its insides.« Willard Van Orman Quine, Quiddities: An intermittently philosophical dictionary. Cambridge, MA 1987, S. 231.   zurück
14 
Otfried Preußler: Der Räuber Hotzenplotz. Stuttgart, Wien und Bern 1962, S. 70 f.   zurück
15 
C. Plinius Secundus: Naturalis historiae libri XXXVII. Hg. von Carl Mayhoff. Stuttgart 1967, Bd. 5, S. 253 (XXXV, 10). Zeuxis’ Täuschung wird schließlich noch von Parrhasius mit einem gemalten Vorhang überboten, den sogar Zeuxis für echt hält: »descendisse hic in certamen cum Zeuxide traditur et, cum ille detulisset uvas pictas tanto successu, ut in scaenam aves advolarent, ipse detulisse linteum pictum ita veritate repraesentata, ut Zeuxis alitum iudicio tumens flagitaret tandem remoto linteo ostendi picturam atque intellecto errore concederet palmam ingenuo pudore, quoniam ipse volucres fefellisset, Parrhasius autem se artificem.«   zurück
16 
Im zehnten Buch der Politeia lässt Platon den Sokrates über den »nachbildende[n] Dichter« sagen: »Können wir ihn also nicht jetzt mit vollem Recht angreifen und ihn als ein Seitenstück zu dem Maler aufstellen? Denn darin, daß er Schlechtes [schlechte Scheinerzeugnisse] hervorbringt, wenn man auf die Wahrheit sieht, gleicht er ihm […]. Und so sind wir wohl schon gerechtfertigt, wenn wir ihn nicht aufnehmen in eine Stadt, die eine untadelige Verfassung haben soll, weil er […] das Vernünftige verdirbt, […] [indem er] Schattenbilder hervorruft, von der Wahrheit aber ganz weit entfernt bleibt.« Platon: Politeia. In: Ders., Sämtliche Werke. In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung. Hg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck. Hamburg 1957, Bd. 3, S. 296 (605a).   zurück