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Zwischen epischer Breite
und spartanischer Beschränkung

Die Handschriftenkatalogisierung und ihre Zukunft

  • Bayerische Staatsbibliothek (Hg.): Katalogisierung mittelalterlicher Handschriften in internationaler Perspektive. Vorträge der Handschriftenbearbeitertagung vom 24. bis 27. Oktober 2005 in München. Bearbeitet von Claudia Fabian und Bettina Wagner. (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 53) Wiesbaden: Harrassowitz 2007. X, 221 S. Gebunden. EUR (D) 58,00.
    ISBN: 978-3-447-05667-1.
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Im Jahr 2005 fand unter der Gastgeberschaft der Bayerischen Staatsbibliothek in München eine Internationale Handschriftenbearbeitertagung statt, wie sie die DFG, Hauptförderer der Katalogisierung mittelalterlicher Handschriften in Deutschland, in der Regel alle drei Jahre ausrichtet. Die Tagung gliederte sich in die Themenblöcke Ziele und Methoden der Handschriftenkatalogisierung, Handschriften im Internet, illuminierte Handschriften sowie Spezialthemen der Handschriften- und Provenienzforschung. Der anzuzeigende Sammelband vereinigt aus diesen Themenblöcken eine Auswahl von 22 Beiträgen unterschiedlicher Länge und, soweit es sich um Projektberichte handelt, unterschiedlicher Halbwertszeit. Teilweise nehmen diese Beiträge Bezug auf die von der DFG 2001 verabschiedeten ›Neuen Konzepte der Handschriftenerschließung‹ 1 , die unter anderem angesichts der vielen noch unkatalogisierten mittelalterlichen Handschriften das Zurückstellen von ausführlichen Handschriftenkatalogen zugunsten von Inventaren empfahlen. Einen Schwerpunkt der Tagung bildeten Beiträge aus der Bayerischen Staatsbibliothek.

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Handschriftenkatalogisierung an der BSB München

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In einem schon an anderer Stelle publizierten Beitrag, dem der Titel dieser Rezension entnommen ist, gibt Hermann Hauke einen Überblick über die Geschichte der Handschriftenerschließung in Bayern und insbesondere an der Bayerischen Staatsbibliothek München (»Handschriftenkatalogisierung in Bayern«, S. 195–209). Bei den ersten Handschriftenkatalogen der Bayerischen Staatsbibliothek in München aus dem 19. Jahrhundert handelte es sich um Inventare, die den Ansprüchen der Wissenschaft jedoch schon bald nicht mehr genügten. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren von den 67.000 abendländischen Handschriften des Hauses 27.000 in gedruckten Katalogen oder Verzeichnissen inventarisiert oder beschrieben, mithin etwa 40 %. Ab 1960 wurde die Katalogisierung mittelalterlicher Handschriften in Deutschland durch die DFG gefördert. Ihre ›Richtlinien Handschriftenkatalogisierung‹ stellen einen Mittelweg zwischen einem Inventar und einer Katalogisierung in epischer Breite dar. Ab Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts war die BSB Handschriftenzentrum, in dem auch Bestände anderer Bibliotheken erschlossen wurden. Die beigefügte Bibliographie (»Handschriftenzentrum der Bayerischen Staatsbibliothek, Bibliographie der Kataloge abendländischer Handschriften«, S. 211–221) verzeichnet etwa 75 Handschriftenkataloge, die in diesem Zeitraum entstanden oder begonnen worden sind. Die Erschließungssituation der lateinischen, griechischen und deutschen Handschriften des Hauses kann als fortgeschritten bezeichnet werden. Hauptproblem sind die längst veralteten sieben Katalogbände, in denen zusammen 15.550 lateinischen Codices des Hauses erstmals erschlossen worden sind (Clm 1–27268), davon zwei Drittel aus dem Mittelalter. Eine dringend notwendige Neubearbeitung ist aus personellen und finanziellen Gründen utopisch. Als Kompromisslösung wurden einzelne Fonds wie Freising, Benediktbeuren und die Bestände der Mannheimer Hofbibliothek neu erschlossen. Trotzdem wäre eine einheitliche Erschließung dieses überaus wichtigen Münchener Kernbestandes auf dem Niveau der ›Richtlinien‹ trotz sein großen Masse eigentlich unumgänglich, auch angesichts der hohen Nutzungszahlen in diesem Bereich (siehe unten). Weitere Desiderate sind die Verzeichnung von zumeist neuzeitlichen Codices in anderen europäischen Sprachen. Inhaltlich schließt sich an diesen Beitrag ein Plädoyer für eine Tiefenerschließung von Karl-Heinz Keller an (»Die Bibliothek als Individuum – Überlegungen zu einer kohärenten Erschließung«, S. 155–162). Der Handschriftenkatalogisator habe als einziger den Gesamtüberblick über die Handschriften und ihren Provenienzzusammenhang, während sich die Wissenschaft meist nur Spezialthemen widme. Eine Tiefenerschließung, die sich Zeit lässt, sei eine sinnvolle Verwendung der Mittel.

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Auf der Grundlage der ›Neuen Konzepte‹ erarbeitete die BSB ein Online-Angebot ihrer Forschungsdokumentation zu ihrer Handschriftensammlung, die seit 2004 im Netz zugänglich ist. 2 Neben Belegexemplaren und Sonderdrucken werden 100 laufende Zeitschriften ausgewertet, der nötige personelle Aufwand ist, wie die Autorin Brigitte Gullath betont (»Die Forschungsdokumentation der Bayerischen Staatsbibliothek als Hilfsmittel der Handschriftenkatalogisierung«, S. 169–173), beträchtlich. Die Forschungsdatenbank schreibt einerseits bereits erschienene Handschriftenkataloge fort, andererseits bereitet sie neue Erschließungsprojekte vor. Die Auszählung der bis 2003 konventionell geführten Forschungsdokumentation mit 113.000 Nachweisen zeigt, dass der Forschungsschwerpunkt bei den lateinischen Handschriften des Hauses liegt, zu denen 79.000 Nachweise existieren, während die deutschen Handschriften nur mit 13.000 Nachweisen vertreten sind. Ein ähnliches Bild liefert eine Auswertung der Online-Version.

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Über laufende, kunsthistorisch relevante Projekte in München berichten Ulrike Bauer-Eberhardt (»Gezielte Funde oder gefundene Ziele: aus der konventionellen Arbeit einer Miniaturenforscherin«, S. 113–122) und Marianne Reuter (»Alte Bilder in neuen Rahmen: Die Codices iconographici Monacenses«, S. 123–134); beiden Aufsätzen sind Abbildungen beigegeben. Ulrike Bauer-Eberhardt stellt einen Katalog von etwa 500 illuminierten Handschriften italienischer Provenienz vor, die nach einem rigiden Zeitplan zu erschließen sind. Unter anderem werden drei Neufunde ausführlicher behandelt, darunter eine um 1330 wohl in Umbrien entstandene juristische Handschrift mit bisher unbekannten Pecienvermerken, durch die eine korrigierte handschriftliche Vorlage in einzeln verleihbare Segmente aufgeteilt wurde, sowie ein Fragment des 11. Jahrhunderts, das sich aufgrund einer Flechtbandinitiale Montecassino zuweisen lässt. Marianne Reuter arbeitet an den Bilderhandschriften der Codices iconographici Monacenses und damit der letzten Signaturengruppe Münchner Handschriften, zu der bisher noch kein gedruckter Katalog erschienen ist. Der Fonds setzt sich aus etwa 600 Einheiten zusammen. Inhaltlich dominieren Botanik, Zoologie, Architektur, Heraldik und Geographie. Im Falle der 130 mittelalterlichen und neuzeitlichen Codices ergänzt die Digitalisierung die Erschließung. 3

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Die Perspektive der Fachwissenschaft

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Die Sicht der Fachwissenschaft auf die Handschriftenerschließung tragen Franz Fuchs (»Erkenntnisfortschritte durch Handschriftenkatalogisierung am Beispiel des Faches ›Geschichte des Mittelalters‹«, S. 1–13), Michele C. Ferrari (»Impuls und Bestätigung. Alte und neue Erfahrungen mit Handschriftenkatalogen«, S. 15–33) und Richard Sharpe vor (»The Contribution of Manuscript Catalogues to Identifying Medieval Latin Texts«, S. 51–60). Fuchs betont, dass die Handschriftenerschließung in Deutschland der Archivalienerschließung weit voraus sei. Handschriftenkataloge böten neue und völlig unbekannte Quellen, neue Textzeugen bekannter Werke und wären wichtige Hilfsmittel für prosopographische Forschungen. Ferrari hebt die Impulse hervor, die die Handschriftenkatalogisierung der Wissenschaft gibt. Die Anfänge der modernen Katalogisierung liegen im 15. und 16. Jahrhundert; ab dem 19. Jahrhundert ist in Europa eine Abkehr vom Inventar zur Tiefenerschließung zu konstatieren. Angesichts des Niedergangs der Hilfswissenschaften an deutschen Universitäten stelle sich die Frage, ob der Nachwuchs überhaupt noch mit Handschriftenkatalogen umgehen könne. Sharpe betont die Wichtigkeit der bibliographischen Angaben der Handschrift selbst, die nicht zugunsten moderner normierter Angaben übergangen werden dürften.

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Handschriftenerschließung
in anderen europäischen Ländern

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Über die Gegebenheiten der Handschriftenkatalogisierung in Österreich berichtet Christine Glaßner (»Bändigung der Massen: Ist das Inventar der Königsweg zur Lösung des Problems? Die Erschließungssituation der österreichischen Handschriftenbestände«, S. 37–49). Etwa 180 Institutionen des Landes besitzen mehr als 30.000 mittelalterliche Handschriften in lateinischer Schrift. Von den mehr als 25.000 Handschriften in größeren Bibliotheken ist nur etwa ein Fünftel in modernen Katalogen erfasst. Hier erscheint die Inventarisierung als das einzige Mittel der Bändigung der Massen. Neben der Überführung älterer gedruckter Kataloge in eine Datenbank sollten in erster Linie diejenigen Handschriftenfonds bearbeitet werden, zu denen bislang nur handschriftliche Kataloge vorliegen. Andererseits lässt das angewandte Stufenmodell Vertiefungen der Erschließung im Falle ausgewählter, besonders ertragreicher Handschriften zu. Fabienne Queyroux (»CERL’s Portal: Origins, History and Progress«, S. 61–69) stellt die verschiedenen Portale des 1994 gegründeten Consortium of European Research Libraries (CERL) für die Arbeit mit dem alten Buch vor. Neben der Hand Press Book Database, die das gedruckte Buch von den Anfängen bis 1830 erfasst, sind der CERL Thesaurus, ein Referenzwerk zur Buchgeschichte, sowie der CERL Pilot zu nennen, eine Handschriften-Metasuchmaschine. Thema von Monique Hulveys Beitrag (»Provenance Studies in a European Context: re-defining the history of the collections of the Bibliothèque municipale de Lyon«, S. 145–153) ist die Provenienzerschließung in der Bibliothèque municipale in Lyon. Die Handschriftenüberlieferung in dieser Stadt setzt mit merowingischen und karolingischen Codices der Kathedrale ein. Aufgrund seiner Lage und seiner historischen Bedeutung wurde Lyon im Mittelalter zum Sammelbecken vieler verschiedener Überlieferungsträger aus anderen europäischen Ländern. Die Provenienzdatenbank, die in Kooperation mit der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar erarbeitet wurde, ermöglicht die Suche in französischer, deutscher und englischer Sprache. Neben die verbale Erschließung tritt die Digitalisierung von Provenienzeinträgen.

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Über länderübergreifende Projekte der Handschriftenerschließung handeln Anne Mette Hansen (»The Danish-Icelandic Master Project«, S. 77–88) sowie Dominique Stutzmann und Piotr Tylus (»La nécessaire collaboration internationale pour le catalogage des manuscrits médiévaux français de la Staatsbibliothek zu Berlin«, S. 163–168). Hansen stellt einen Katalog vor, der dänische und isländische Handschriften virtuell vereinigt, die nach der Unabhängigkeit Islands von Dänemark 1944 als Folge langer Verhandlungen in den Jahren 1971 bis 1997 dorthin abgegeben worden waren. Stutzmann und Tylus handeln über die Erschließung von französischen Handschriften in Berlin und in Krakau. Darunter sind auch heute in Krakau aufbewahrte Handschriften der Staatsbibliothek zu Berlin. In Polen fehlen kodikologische Kenntnisse und Literatur zur Erforschung französischer Handschriften. Beide Autoren plädieren dafür, Handschriften in internationalen Zentren in den Ländern zu erschließen, in denen sie entstanden und die besten wissenschaftlichen Voraussetzungen gegeben sind. Kleinere Beiträge berichten über die Gegebenheiten der Handschriftenerschließung in Ungarn (András Vizkelety, János Balász Véber), Bratislava (Miriam Poriezová) und Bulgarien (Elissaveta Moussakova).

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Der vierte große Komplex der Tagung bildete die Erschließung illuminierter Handschriften, letztlich eine Spezialform der Tiefenerschließung, wozu auch die bereits erwähnten beiden Projekte in München gehören. Andreas Fingernagel (»Die Beschreibung des Buchschmucks in Handschriftenkatalogen«, S. 89–98) gibt einen Überblick über die Forschungslage in Österreich. Hauptziele der Kataloge illustrierter Handschriften seien die Klärung des Text-Bild-Bezugs, die vertiefte Skriptoriumsanalyse, die Realienkunde und die Materialienkunde. Nach einem Überblick über die Geschichte der Erschließung illustrierter Handschriften in Italien stellt Giuseppa Z. Zanichelli (»The role of stylistic analysis in the cataloguing of the illuminated codex: a few observations on the manuscripts of Parma«, S. 99–111) einen entsprechenden Fonds aus Parma vor. Sie betont die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit; der Buchschmuck habe nicht nur ästhetische Funktion, sondern bilde eine integrale Quelle für die Kodikologie des jeweiligen Codex. Mara Hofmann handelt schließlich über den ›Digital Catalogue of Illuminated Manuscripts‹ der British Library (S. 139–143). Die Bibliothek besitzt 9.500 westliche illuminierte Handschriften vor 1600, die in dieser Weise aufbereitet werden sollen. Neben kodikologischen Beschreibungen enthält der digitale Katalog eine Auswahl von Bildern.

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Eine Momentaufnahme der
Handschriftenkatalogisierung in Europa

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Die in diesem Sammelband veröffentlichten, ausgewählten Beiträge der Tagung bieten eine Momentaufnahme der Handschriftenkatalogisierung in Europa. Wie weit die Erfassung in den jeweiligen Bibliotheken gediehen ist, hängt ganz von dem Stellenwert ab, den man diesen Materialien eingeräumt hat und einräumt. Hier sind zweifellos die Anstrengungen der Bayerischen Staatsbibliothek in München hervorzuheben, deren Erschließungsarbeiten trotz aller Desiderate weit gediehen sind. Als Standard haben sich die ›Richtlinien Handschriftenkatalogisierung‹ der DFG im deutschsprachigen Raum weitgehend durchgesetzt. Unabhängig von finanziellen und personellen Ressourcen sollte jede Bibliothek am langfristigen Ziel festhalten, ihre mittelalterlichen Bestände in dieser Form komplett zu erschließen. Inventare erscheinen als Zwischenlösung dann sinnvoll, wenn große Rückstände zu konstatieren sind. Bei Katalogen illuminierter Handschriften ist die Tiefenerschließung von vornherein unabdingbar. Qualitätvolle Kataloge werden von einer laufend gepflegten Forschungsdatenbank sinnvoll ergänzt und fortgeschrieben. Gedruckte Kataloge sind auch weiterhin eine wichtige Form der Publikation der Ergebnisse von Katalogisierungsprojekten, die im günstigsten Fall geschlossene Fonds abhandeln und Provenienzzusammenhänge erkennen lassen. Digitale Angebote ergänzen diese Form der Zugänglichmachung sinnvoll, bieten die gewonnenen Beschreibungen komfortabler dar (so in der Handschriftendatenbank Manuscripta Mediaevalia) und reichern sie insbesondere um Buchschmuck und Provenienzen in Bildform an. Unabhängig von der Präsentationsart können jedoch nur die Ergebnisse zugänglich gemacht werden, die vorher erhoben worden sind, was den Primat der Tiefenerschließung unterstreicht. Letztlich bieten die Bibliotheken mit den Ergebnissen ihrer Handschriftenkatalogisierung, für die man, wie auch die einzelnen Beiträge zeigen, einen sehr langen Atem benötigt, ein hilfswissenschaftliches Angebot auf hohem Niveau, das eine potentiell von vielen wissenschaftlichen Disziplinen nutzbare, eminent wichtige Quellengruppe zugänglich macht. Wie vieles, was Bibliotheken produzieren, ist es angebots- und nicht nachfrageorientiert. Ob und wie die Wissenschaft, die ja durchaus auch von wechselnden Moden abhängig ist, es wahrnimmt, liegt außerhalb der Verantwortung der Bibliotheken. In jedem Fall wird mit der Handschriftenerschließung »Mosaiksteinchen für Mosaiksteinchen das Bild von jener vergangenen Welt, in der die Wurzeln unserer Kultur zu suchen sind« (Hermann Hauke), enthüllt.

 
 

Anmerkungen