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Die Ausgangslage
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Die Bibliothek des Pressburger Kollegiatkapitels ist neben der des Bistums Agram-Zagreb die einzige noch erhaltene aus dem Gebiet des mittelalterlichen Ungarns. Das Kapitel war im Spätmittelalter eine »internationale kirchliche Organisation mit großer kultureller Bedeutung im Dreieck des damaligen Ungarns, Österreichs und Mährens« (S. 8, Vorwort). Obwohl in Pressburg eine nicht unbedeutende Handschriftenproduktion und eine rege Betätigung des Kapitels (als »glaubwürdiger Ort«) im Bereich der Urkundenausfertigung zu konstatieren ist – bis 1526 wurden an die 5000 Urkunden verfasst –, war eine Untersuchung der Skriptorien- und Kanzleigeschichte bisher ein Desiderat der Forschung.
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Über die alte Bibliothek geben zwei Kataloge Auskunft: ein mittelalterlicher Katalog von 1426 (in einer Abschrift von 1432 überliefert, im Anhang der vorliegenden Untersuchung S. 278–280 neu ediert) und ein Katalog aus dem 19. Jahrhundert, der auch die frühneuzeitlichen Codices erfasst. Der heutige Zustand ist in einem modernen Katalog, beschrieben, dem aber fast 40 Handschriften fehlen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zerlegt und im antiquarischen Buchhandel verkauft wurden.
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Die im Kapitel entstandenen spätmittelalterlichen Urkunden sind nicht durch moderne Editionen erschlossen, in Regestenform liegen nur etwa 10% des überlieferten Materials vor.
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Methodik
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Juraj Šedivý untersucht in der vorliegenden Studie Handschriften und Urkunden, die im Stift oder seinem Umfeld bzw. für das Stift entstanden sind. Er unterzieht die einzelnen Stücke einer eingehenden kodikologischen, paläographischen und diplomatischen Analyse. Es gelingt ihm dabei, Zusammenhänge herzustellen, Schreiberhände zu bestimmen und vielfach neue Datierungsvorschläge zu machen. Eingebettet werden diese Einzelanalysen in eine generelle vergleichende Untersuchung sowohl der Schriftentwicklung – wobei Buch- und Urkundenschrift parallel betrachtet und sogar inschriftliche Denkmäler in die Untersuchung miteinbezogen werden – als auch der allgemeinen Entwicklung des Schrift-, Kultur-, und Bildungswesens von Stift und Stadt Pressburg.
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Im Vorfeld: Terminologische Fragen
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Die Arbeit beginnt mit einem allgemeinen Kapitel zur Nomenklatur der gotischen Schriftarten. Dabei ist es dem Verfasser wichtig, genau zu definieren, wie er selbst die jeweiligen Fachtermini verwendet. Diese terminologische Transparenz ist – unabhängig davon, wie seine Entscheidungen im Einzelnen zu bewerten sind – vorbildlich. Ergänzt wird die theoretische Einführung zur allgemeinen Schriftbeschreibung durch eine im Anhang präsentierte Zusammenstellung der verwendeten Termini zur Buchstabenbeschreibung mit entsprechenden Abbildungen.
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Šedivý verwendet für die generelle Einteilung von Schriften die Begriffe »Schriftstil« (Schrift einer Epoche, hier: gotische Schrift), »Schriftart« (z.B. Textura, Bastarda) und »Schrifttyp« (regionale Variante einer Schriftart). Die kalligraphischen Niveaustufen werden analog zur Lieftinckschen Unterteilung in »formata« – »libraria« – »currens« in »kalligraphischer« – »einfacher« – »geläufiger« Typ eingeteilt. Desweiteren werden Zier- und Textschrift unterschieden. Für die Beurteilung der Schreiberhände untersucht der Verfasser die Struktur der Einzelbuchstaben und den Gesamteindruck des Schriftbildes. Dabei arbeitet er mit den Begriffen »hell/dunkel« (Verhältnis von beschriebener und unbeschriebener Fläche), »Gewicht/Leichtigkeit« (Verhältnis von Buchstabengröße und Federzugbreite) und »Modul« (Verhältnis von Höhe und Breite).
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Bevor Šedivý sein eigenes Benennungsschema der gotischen Schriftarten vorstellt, skizziert er in einem Forschungsüberblick die gängigen Nomenklatursysteme, wobei er einen besonderen Schwerpunkt auf die Terminologie von Pavel Spunar und Jiří Pražác setzt, den Pionieren der modernen osteuropäischen Handschriftenerschließung.
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Der Verfasser selbst orientiert sich an dem System Karin Schneiders (Karolingische Minuskel – Karolingisch-gotische Übergangsschriften – frühgotische Minuskel – gotische Schriften: Textualis – halbkursive Übergangsschriften – ältere und jüngere Kursive – Bastarda).
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Šedivý spricht von »Karolingisch-gotischer Minuskel (carolino-gothica)«, wenn die (karolingische Minuskel-)Schrift gestreckt ist und bereits erste gotische Elemente aufweist, von »Frühgotischer Minuskel« (gothica primitiva), wenn die Schäfte einfach gebrochen und angeglichen sind und von »Gotischer Minuskel« (gothica textualis), wenn die Schäfte doppelt gebrochen sind und die Schrift die gotischen Bogenverbindungen aufweist. Diese Schrift zeichnet sich zudem durch kompliziert gebautes ›a‹ und ›g‹, durch glatte Oberlängen und ›s‹ und ›f‹ auf der Zeile aus. »gothica semicursiva« wird als »Textualis mit kursiven Elementen« definiert. ›S‹ und ›f‹ gehen unter die Zeile, ›a‹ und ›g‹ sind einfach, die Oberlängen glatt. Die Schrift ist wie die Textualis gestreckt und gebrochen. Die »Gothica cursiva« unterscheidet sich von ihr durch das Fehlen von ihr Streckung und Brechung. Dabei unterscheidet der Verfasser zwischen einer älteren (doppelstöckiges ›a‹, achterförmiges ›g‹) und jüngeren »Bücherkursive« (einfaches ›a‹, v-förmiges ›r‹, ›x‹ in einem Zug). Die »Gothica bastarda« definiert Šedivý als Schrift, die Elemente der Kursive (einfaches ›a‹ und ›g‹, ›s‹ und ›f‹ auf der Zeile, Schlaufen an Oberlängen) mit Elementen der Textualis (Bau der Buchstaben aus Einzelstrichen, Wechsel von Haar- und Schattenstrich) vereint.
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Die diplomatischen Schriften werden entsprechend der Buchschriften unterteilt in »gotische diplomatische Minuskel – Halbkursive – Kursive« und »Urkundenbastarde«, die ab der Mitte des 14. Jahrhunderts die Funktion der gotischen diplomatischen Minuskel als Schrift für feierliche Diplome übernimmt und die in dieselben drei Niveaustufen wie die Buchschriften unterteilt wird. Die gotische diplomatische Kursive wird ebenfalls in drei Niveaustufen unterteilt, allerdings in die Kategorien einfach, geläufig und individuell (es fehlt also die Niveaustufe »kalligraphisch«).
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Problematisch an Šedivýs Ansatz ist in erster Linie die Vermengung traditioneller Terminologie mit Begriffen aus der Lieftinck-Schule, ohne dass eine grundlegende Auseinandersetzung mit deren theoretischen Überlegungen stattgefunden hätte, was sich bereits darin zeigt, dass der Verfasser sich allein auf Liefincks Vorschläge aus dem Jahr 1954 bezieht, obwohl dieser sein System immer weiter modifiziert hat.
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So fragt man sich, ob Bezeichnungen wie »Halbkursive« oder »Bücherkursive« wirklich notwendig sind, die ja letztlich nur eine kalligraphische Niveaustufe anzeigen, wenn man sich bereits dazu entschieden hat, Schriftarten durch Namen und Niveauattribut zu definieren. So bleibt trotz aller definitorischer Bemühungen unklar, nach welchen Kritierien nun beispielsweise eine »einfache Bastarda« von einer »sorgfältigen Bücherkursive« getrennt wird, oder wie sich eine »geläufige Textualis« von der »gotischen Halbkursive« unterscheidet.
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Ergebnisse
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Bis zum Ende des 12. Jahrhunderts ist wenig über das kulturelle Leben des Kapitels bekannt, nur Einzelstücke können der Pressburger Bibliothek zugeordnet werden. Ob sie bereits dort geschrieben wurden, bleibt eine offene Frage.
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Ab dem 13. Jahrhundert erfährt das Kapitel einen wirtschaftlichen und politischen Aufschwung. Königliche und private Stiftungen erweitern den Bodenbesitz des Stiftes erheblich, die Pröpste stehen in engem Kontakt zum Königshof.
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In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts setzt eine rege Urkundenproduktion für die Bevölkerung von Pressburg ein, wobei ab 1280 eine Professionalisierung, sowohl der inhaltlichen Formalia als auch bei der Verwendung diplomatischer Schriftarten, festzustellen ist. Šedivý kann etwa der Hälfte der 94 im Original erhaltenen Urkunden einzelne Schreiberhände zuzuordnen.
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In der Blütezeit Pressburgs (Anjou-Periode bis 1387), das neben Prag, Wien und Krakau nun zu den wichtigsten östlichen Bildungszentren Mitteleuropas zählt, haben die Kanoniker im Durchschnitt einen höheren Bildungsgrad, Kapitelmitglieder sind als Lehrer der Stadtschule nachweisbar. Die Bibliothek wächst und die eigene Buchproduktion wird greifbar, v.a. in einer Gruppe Pressburger Missalia. Der Verfasser untersucht die einzelnen Handschriften und es gelingt ihm, Datierungen und Zuordungen zu korrigieren sowie einzelne Schreiberhände zu analysieren. Auch kann er die bestehenden Handschriftenbeschreibungen um zahlreiche neue Beobachtungen ergänzen. Schriftgeschichtlich interessant ist die Beobachtung, dass in dieser Phase vornehmlich kalligraphisch aufwendige Schriften (Textualis; für weniger aufwendige Stücke in einfacherer Ausführung) geschrieben werden und erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts Bücherkursive verwendet wird, während in der Urkundenschrift in den 70er Jahren der Übergang von älterer zu jüngerer Urkundenkursive festzustellen ist. In dieser Phase werden die Bürger der Stadt unabhängig von den schreibtätigen Dienstleistungen des Kapitels, da städtische Institutionen diese Funktion übernehmen, um dem zunehmenden Bedürfnis an schriftlicher Dokumentation von Rechtsgeschäften gerecht zu werden.
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Die Zeit bis zum Ende des 15. Jahrhunderts (Zeit des »Internationalismus«) bedeutet einen weiteren Umbruch in der Buchkultur, insofern, dass auch dieser Bereich der Schriftlichkeit bei Laien, v.a. wohlhabenden Patriziern, auf Interesse stößt und wertvolle Bücher zu Statussymbolen werden. Während diese »bürgerliche Schriftlichkeit« in der Stadt entsteht, wächst – auch dank großzügiger Spenden – die Bibliothek des Kapitels beträchtlich. Sie setzt sich aus Liturgica, Büchern zur Bibelauslegung, Theologie, Didaktik und einigen wissenschaftlichen juristischen Traktaten zusammen. Šedivý kann auch hier anhand eingehender paläographischer Analysen der bedeutendsten Missalia neue Zuordnungen machen und einige Handschriften neu datieren sowie die Entwicklung der Textualis genau beschreiben.
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Die Gründung der Universität Pressburg bescherte dem Kapitel einen letzten Aufschwung, ohnehin bereits »international« besetzt bekommt es weiteren Zulauf aus dem Ausland. In dieser Phase entstehen noch einmal 6 Prunkhandschriften, bevor auch in der Pressburger Bibliothek das gedruckte Buch immer stärker an Bedeutung gewinnt.
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An der Schwelle zur Neuzeit existieren in Pressburg mehrere institutionelle Bibliotheken, daneben Privatbibliotheken wohlhabender Bürger und Kanoniker. Die Urkundenproduktion ist in der Hand öffentlicher Notare, die teilweise auch für das Kapitel arbeiten.
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Die kulturelle Blütezeit des spätmittelalterlichen Pressburg endet mit dem Einfall der Osmanen und den Folgen der Schlacht von Mohács.
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Fazit
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Šedivý gelingt es eindrucksvoll, ausgehend von einer Fülle paläographischer und diplomatischer Einzeluntersuchungen, anhand der Schriftproduktion von Stift und Stadt Pressburg ein exemplarisches Gesamtbild der Entwicklung von hoch- und spätmittelalterlicher (Schrift-)Kultur zu entwerfen, wie sie überall in Europa so oder in ähnlicher Weise denkbar ist. Man würde sich für andere Bildungszentren ähnliche Studien wünschen, nicht zuletzt deshalb, weil hier gezeigt wird, wie die Anwendung von Paläographie und Diplomatik kulturhistorische Zusammenhänge und Entwicklungen aufzeigen kann und diese Fächer somit leistungsfähiger sind als von Hilfswissenschaften gemeinhin vermutet.
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