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Redensarten, Sprichwörter und andere feste Wortverbindungen von 1050-1350 systematisch erfasst

  • Jesko Friedrich: Phraseologisches Wörterbuch des Mittelhochdeutschen. Redensarten, Sprichwörter und andere feste Wortverbindungen in Texten von 1050-1350. (Germanistische Linguistik 264) Tübingen: Max Niemeyer 2006. IX, 490 S. Kartoniert. EUR (D) 122,00.
    ISBN: 978-3-484-31264-7.
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Das Ziel des Verfassers Jesko Friedrich ist bescheiden: Sein »kleine[s] phraseologische[s] Wörterbuch [soll] dem neuen großen Mittelhochdeutschen Wörterbuch 1 in einigen Fragen der Ansetzung und Darstellung phraseologischen Materials eine Entscheidungshilfe« (S. VI) sein. Daneben wünscht sich der Autor, dass es »vielleicht einmal dem einen oder anderen Leser eines mittelhochdeutschen Textes im schnellen, unproblematischen Zugriff bei Verständnis und Einordnung der einen oder anderen Textstelle helfen wird« (ebd.). Rezipienten sollen also einerseits Lexikographen sein, andererseits Menschen mit Interesse am Mittelhochdeutschen, die dann aber auch das 122 Euro teure Werk zur Hand haben müssen. 2

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Auf den ersten Seiten denkt der Verfasser offenbar wirklich an »jedermann« (S. 1–5). Den beiden Teilen »Untersuchung« (S. 7–72) und »Wörterbuch« (S. 73–490) ist ein fünfseitiges Glossar mit wichtigen Termini vorangestellt. Einleitend wird darauf hingewiesen, dass beispielsweise »übertragen« gegenüber »idiomatisch«, »wörtlich« gegenüber »literal« der Vorzug gegeben wird. Die Glossareinträge enthalten z.T. bloße Auflösungen von Abkürzungen, z.T. werden die Termini mit Synonymen erklärt (hyperbolisch: übertreibend) oder mit Paraphrasen (idiomatisch 3 : mit übertragener/bildlicher Bedeutung). Daneben wird aber doch linguistisches Basiswissen vorausgesetzt, wenn Langue und Parole zwar einzeln erklärt, aber gar nicht in Beziehung zueinander gesetzt werden. Letztlich erweist sich das Glossar als unnötig, da viele Begriffe in dem die Untersuchung einleitenden Kapitel »Was ist Phraseologie? Was ist ein Phrasem?« noch einmal erklärt werden. Wichtige Termini erscheinen hier im Fettdruck, was aber nicht bedeutet, dass die fettgedruckten Elemente Lemmata im vorausgehenden Glossar sind.

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An der Gegenwartssprache entwickelte Methoden
an der Sprachgeschichte erprobt

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Die grundlegende Orientierung erfolgt an Harald Burger. 4 Die Ermittlungskriterien sind demzufolge Polylexikalität, Festigkeit und Idiomatizität. Da diese Begrifflichkeiten nicht allein für phraseologische Fragestellungen gelten, erörtert Jesko Friedrich knapp ihre Geltungsbereiche. Das Folgende gilt für Untersuchungen, die historische Sprachstufen betreffen: Mangelnde Sprachkompetenz und lückenhafte Überlieferung erschweren den Zugang und die Interpretation. Im Besonderen geht es Friedrich um die »Nennform«, die – die Wörterbuchartikel zeigen es –, wie in der Sprachstufenwörterbuchschreibung üblich, eine normaldeutsche, in diesem Fall normalmittelhochdeutsche, sein soll.

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Das Korpus für die Untersuchung und das Wörterbuch basieren auf der Auswertung von über 300 mhd. Texten (S. 15), für Genaueres verweist der Verfasser auf das Siglenverzeichnis im Wörterbuch-Teil. Dieses enthält 381 Siglen, hinter denen sich Einzeltexte, Textsammlungen mit Urkunden u. ä., aber auch das »Althochdeutsche Lesebuch« 5 verbergen. Die Aufnahme althochdeutscher, altsächsischer, mittelniederdeutscher und frühneuhochdeutscher Belege eröffnet ein weites Feld, das deutlich über die Erwartungen, die der Titel der Studie bietet, hinausgeht. Wenn diese Belege tatsächlich nur hinzugezogen werden, »um zu zeigen, dass die mhd. Phraseologie als Teil eines zeitlichen und regionalen Gesamtzusammenhanges zu verstehen ist« (S. 15), ist das redundant.

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Die Kriterien für die Exzerption potentieller Phraseologismen müssen aufgrund der mangelnden Sprachkompetenz vielfältig sein. Ein ausschlaggebendes Kriterium sieht Friedrich darin, dass das Phrasem auch noch im Neuhochdeutschen vorhanden ist, wobei die Übereinstimmung sich auf wenige gleich lautende Elemente oder vage Bedeutungsähnlichkeiten beschränken kann. Dazu kommen Routineformeln und weitere formelhafte Wendungen, die als potentielle Wörterbuchkandidaten gelten, wenn sie häufig genug vorkommen. Ein klares Aufnahmekriterium ergibt sich durch Metasprachliches im Text, wie der Hinweis man sait. Weitere Phänomene müssen gepaart mit anderen auftreten, beispielsweise zweigliedrige Ausdrücke und Vergleiche plus Bedeutungsübertragung, Entsprechungen im Neuhochdeutschen oder häufiges Vorkommen. Zudem kann der Abgleich mit Wörterbüchern oder Monographien bei der Entscheidung für die (Nicht-)Aufnahme hilfreich sein.

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(Die Angemessenheit der) Aufnahme- und Einteilungskriterien

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Phrasemfähig sind Einheiten, die zehnmal mit derselben phraseologischen Bedeutung vorkommen. Allerdings gelten bei ganz eindeutigen Fällen auch schon zwei Vorkommen als ausreichend. Gelegentlich scheint das System im Wörterbuchteil durchbrochen. So wird unter dem Stichwort buoz (S. 130) nur ein einziger Beleg genannt, und zwar aus dem Lanzelet von Ulrich von Zatzikhoven. Es ist unklar, ob es nur diesen einen Beleg gibt oder ob alle Belege so wenig eindeutig sind, dass hinter die Kategorie »Sprichwort« ein Fragezeichen [vgl. 12] gesetzt werden muss.

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Hier die Klassifizierung, deren Gliederungseinheiten jeweils erläutert werden:

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1. Sprichwörter (ohne textverknüpfendes Element);

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2. Satzwertige Phraseme, kontextabhängig: Feste Phrasen;

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3. Nicht satzwertige Phraseme: Nominale Syntagmen;

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4. Nominale Syntagmen, Sondergruppe: Onymische Phraseme;

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5. Nicht satzwertige Phraseme: Verbale Syntagmen;

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6. Verbale Syntagmen, Sondergruppe: FVG;

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7. Verbale Syntagmen, Sondergruppe: Kinegramme;

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8. Nicht satzwertige Phraseme: Adverbiale Syntagmen;

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9. Synsemantische Phraseme;

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10. Sondergruppe: Routineformeln;

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11. Sondergruppe: Paarformeln, Drillingsformeln;

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12. Sondergruppe: Phraseologische Termini;

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13. Sondergruppe: Bildliche Negation.

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Zur Illustration werden immer wieder Beispiele aus der vor-mittelhochdeutschen Sprachperiode in den Text mit eingebunden. Das ist nicht störend, aber auch nicht nötig (vgl. Buchtitel, intendierter Rezipientenkreis). Befremdlich ist es allerdings, wenn ein ganzer Wörterbuchartikel auf einem ahd. Beleg basiert, so das Lemma tohter in der Wendung ›mit einer Tochter zwei Schwiegersöhne bekommen‹ (S. 408). Für das Mhd. werden keine Belege genannt. Das lässt den Schluss zu, dass der Rezipient eines mhd. Textes gar keinen Anlass hat, nachzuschlagen, welche Bedeutung ein Phrasem mit tohter als Kern hat. 6 Des Weiteren wird übrigens ein Beleg von Sebastian Franck angeführt, wieder ein Beleg, der vom Mhd. wegführt, diesmal in Richtung Gegenwartssprache, und das sind dann die zwei Belege, die zur Aufnahme in den Wörterbuchteil berechtigen. Ein tatsächlicher Mehrwert in diesem Abschnitt der Studie sind hingegen die Verweise auf illustrierende Wörterbuchartikel.

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Nachdem die Struktur von FVG (Funktionsverbgefügen) [vgl. 7] erläutert worden ist (S. 29) und die Argumentation darauf hinausläuft, dass Funktionsverbgefüge als Phraseme gelten können, kommt Friedrich zu dem überraschenden Schluss, dass er sie »doch eher als Belege für eine konventionalisierte übertragene [...] Bedeutung des jeweiligen Funktionsverbs« sieht und im Weiteren nicht berücksichtigt.

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Die folgenden Abschnitte behandeln – zum Teil sehr verknappt und kursorisch – die Entstehung von Phrasemen, ihre synchronen und diachronen Varianten und ihr »Aussterben« 7 .

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Die »Lexikographische Darstellung mhd. Phraseme«, steht zusammen mit dem kurzen Literaturverzeichnis am Ende des ersten Teils des »Phraseologischen Wörterbuchs« und hätte doch eigentlich viel besser an den Anfang des Wörterbuchteils gepasst. Es geht um die Ansetzung des Wortes, das als Bestandteil des Phrasems als Stichwort angesetzt werden kann, um die Anordnung der Phraseologismen (nach ansteigender syntaktischer Komplexität), um die Nennform, die Bedeutungsangaben und Informationen zum Gebrauch bzw. zu Gebrauchsbeschränkungen.

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Ein nützliches Hilfsmittel zur Erfassung mittelhochdeutscher Texte: die systematische Erfassung der Phraseologismen

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Die Artikel des Wörterbuchs sind nach den Richtlinien strukturiert, die Friedrich im ersten Teil der Publikation entwickelt hat. Dass sich hier und da noch Belege oder auch Artikel ergänzen ließen, ist dem Verfasser nicht anzulasten; er weist selbst zu Recht darauf hin, dass Vollständigkeit bei dem Umfang der Basistexte gar nicht angestrebt werden kann.

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Friedrich versucht nicht, genaue Bedeutungsangaben zu liefern, wenn die Kontexte es nicht zulassen. So gibt es zusätzlich zu der Klassifizierung auch noch das Fragezeichen hinter der Einordnung oder hinter der Bedeutung, um anzuzeigen, dass die Einschätzung bzw. Bedeutungsangabe unsicher ist.

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Jesko Friedrich behandelt nicht nur »onymische Phraseme« [vgl. 7], also solche, die in der Funktion von Eigennamen auftreten (wie âbentder heilige âbent), sondern er hat auch einen Wortschatzbereich mit bearbeitet, der in anderen Wörterbüchern stillschweigend oder explizit oft nicht erschöpfend oder gar nicht mit behandelt wird: die Nomina propria, und zwar sowohl Anthroponyme als auch Toponyme. Von insgesamt 1.108 Lemmata (einschließlich bloßer Verweislemmata) machen die Nomina propria insgesamt 41, also immerhin 3,7 %, aus. Als Bestandteil von Phraseologismen finden sie sich zu einem großen Teil im Kontext der Bibel. Wird das Nomen proprium in einem der vollständig bearbeiteten mhd. Standard-Wörterbücher 8 genannt, liefert das »Phraseologische Wörterbuch« im Vergleich dazu einen Mehrwert, indem eben ein Phraseologismus genannt wird, während bei BMZ oder Lexer nur der Name in seiner eigentlichen Bedeutung erscheint. Ein Beispiel hierfür ist Absalôn/Absolôn. Das BMZ nennt den Beleg »Dâvît smæhen sig erkôs dô Absalôn den lîp verlôs« aus Wolfram von Eschenbachs Willehalm (Bd. 1, Sp. 5). 9 Während sich in diesem Beispiel der Name auf die Person Absalôn bezieht, dient er im »Phraseologismenwörterbuch« im Sinne des Inbegriffs menschlicher Schönheit als Vergleichsgröße (S. 97). Einzig unter dem Stichwort Salomôn wird in BMZ mit einem Beleg aus Vridankes Bescheidenheit eine Form von Phrasem, übrigens auch ein Vergleich, angegeben (»wîser dan Salmônes drî«, Bd. 3, Sp. 42).

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Das »Phraseologische Wörterbuch des Mittelhochdeutschen« ist eine wichtige Ergänzung zu den vorhandenen mhd. Wörterbüchern, die Phraseologismen eher stiefmütterlich behandeln und eher unsystematisch in die Wörterbuchartikel integrieren. Mittelhochdeutsche Phraseologismen wurden auch schon vor der Arbeit Jesko Friedrichs präsentiert und analysiert; in ihrer systematischen Zusammenstellung sind sie jetzt aber in einem einzigen Werk nach einem einheitlichen Schema dokumentiert. Die Bedeutungsangaben, die exemplarisch geprüft wurden, überzeugen und weisen auf eine intensive Auseinandersetzung mit den Kontexten.

 
 

Anmerkungen

Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Herausgegeben von Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller und Karl Stackmann. Bd. 1ff. Stuttgart: Hirzel 2006ff. und MWB Online. URL: http://www.mhdwb-online.de/index.html (22.09.2010).   zurück
Dabei stellt sich auch grundsätzlich die Frage, ob ein Spezialsprachstufenwörterbuch in der »Reihe Germanistische Linguistik« adäquat untergebracht ist.   zurück
Das eigentlich gar nicht verwendet werden soll, dann aber, auch als Zweitelement von Komposita, in den einleitenden Erläuterungen (S. 10) eine wichtige Rolle spielt, um Phraseme differenzieren zu können.   zurück
Harald Burger: Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. 2., überarb. Aufl. Berlin: Erich Schmidt 2003 (= Grundlagen der Germanistik 36), mittlerweile in 4., neubearb. Aufl. 2010 vorliegend.   zurück
Althochdeutsches Lesebuch. Zusammengestellt und mit Wörterbuch versehen von Wilhelm Braune. Fortgef. von Karl Helm. 17. Aufl. bearbeitet von Ernst A. Ebbinghaus. Tübingen: Ernst Niemeyer 1994.   zurück
Würde sich ein entsprechendes Nachschlagen aufdrängen, hätte der Leser wohl einen Beleg gefunden, der nicht erfasst wurde, und der Artikel müsste umgeschrieben werden.   zurück
In dem Abschnitt »Univerbierung« (S. 55f.) argumentiert der Verfasser, dass durch den Prozess der Univerbierung »theoretisch« (S. 55) der Objektbereich der Phraseologieforschung verlassen würde. Sinnvollerweise nimmt er auch »univerbierte Belege ehemaliger Phraseme« (S. 56) auf – ansonsten würde die Entscheidung der Auf- oder Nichtaufnahme gegebenenfalls bei den Herausgebern der Editionen liegen.   zurück
Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1854–1866 mit einem Vorwort und einem zusammengefassten Quellenverzeichnis von Eberhard Nellmann sowie einem alphabetischen Index von Erwin Koller, Werner Wegstein und Norbert Richard Wolf. 4 Bde. u. Indexband. Stuttgart: S. Hirzel 1990 (= BMZ). URL: http://www.woerterbuchnetz.de (20.09.2010); Mittelhochdeutsches Handwörterbuch von Matthias Lexer (= Lexer). Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Benecke-Müller-Zarncke. Nachdruck der Ausg. Leipzig 1872–1878 mit einer Einleitung von Kurt Gärtner. 3 Bde. Stuttgart: S. Hirzel 1992 (= Lexer). URL: http://www.woerterbuchnetz.de (20.09.2010).   zurück
Lexer führt das Stichwort nicht.   zurück