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Masochismus als Grundstruktur in Kolonialdiskursen
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Sabine Wilkes Buch, das eine bemerkenswerte Fülle von Materialien aus Literatur, Film, bildender Kunst sowie der Pädagogik unter postkolonialer Perspektive auswertet und diskutiert, stellt eine anspruchsvolle und weit reichende These vor: Der Masochismus sei eine Grundstruktur in Kolonialdiskursen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und habe die Kolonialliteratur ebenso geprägt wie den Film der Weimarer Republik oder Texte der Nachkriegsliteratur. Masochismus und der deutsche Kolonialismus in Afrika seien zwei Bildbereiche, deren »Überlagerung« Wilke als »masochistische koloniale Imagination« bezeichnet,
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d.h. eine kuriose Vermischung von Topoi aus der Tradition des literarischen Masochismus und der europäischen Kolonialgeschichte, die in eine Struktur mündet, die der kulturellen Produktion als Imaginationsmuster unterliegt und die die koloniale Phantasie – und damit auch die Erwartungen, die an die koloniale Erfahrung herangetragen werden und die koloniale Praxis mitbestimmen – kennzeichnet. (S. 10)
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Masochismus als Bildstruktur und Figurenkonstellation
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Wilke definiert den Masochismus demnach nicht als Sexualpathologie im Sinne Krafft-Ebings, sondern als eine spezifische Bildstruktur und Figurenkonstellation, die sich in unterschiedlichen Medien reproduziert und immer wieder aufs Neue nachgestellt wird. Dabei ist die von ihr beobachtete »Überblendung« kolonialer und masochistischer Bildebenen selbst erst ein Produkt des 19. Jahrhunderts. In ihrer Einleitung skizziert Wilke eine kurze Literaturgeschichte des Masochismus. Sie zeichnet ausgehend von Eichendorffs Marmorbild über Theodor Storm bis zu Sacher-Masoch eine Entwicklung nach, die sich erst allmählich kolonialer Bilder bedient. Die Novelle Venus im Pelz von Sacher-Masoch, für Wilke eine Art ›Urszene‹ ihres Themas, enthält zahlreiche Bildbeschreibungen und Figurenkonstellationen mit der bekannten Ikonographie: Die Grausamkeit der dominanten Frau steigert die Lust ihres männlichen Betrachters. Zum kolonialistischen Modell wird die Erzählung aber erst darum, weil bei Sacher-Masoch auch »Negerinnen« mit Peitschen auftreten und die männliche Hauptfigur vor einem Pflug einspannen – eine Szene, die Friedrich Nietzsche in stundenlangen Sitzungen mit Salomé und Paul Rée nachstellte und fotografieren ließ.
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An dieser Stelle können wir genau beobachten, wie sich die masochistische Phantasie mit kolonialen Bildern überlagert und verstärkt: die hündische Stellung des masochistischen Sklaven gegenüber der grausamen Herrin, vormoderne Gesellschaftsstrukturen reproduzierend, wird intensiviert durch das Hineinphantasieren dieser Stellung in die klassische koloniale Struktur der Agrarwirtschaft, nämlich als Ochsen vor dem Pflug, mit dem die Kolonien bearbeitet und bereist wurden. (S. 41)
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Das Imaginationsmodell Masochismus in Kolonialdiskursen
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Die koloniale Einfärbung und Codierung des Masochismus ist selbst historisch bedingt eine Folge des zeitgleichen Aufschwungs von Kolonialismus und Imperialismus. Wilke greift damit eine These auf, die in der Forschung bereits verschiedentlich vertreten wurde. John Noyes etwa hat in seiner einschlägigen Studie den Masochismus als eine Reaktion auf die Moderne gedeutet, eine Art Rollenspiel, in dem die Kolonisierung Afrikas mittels masochistischer Gewaltszenen erotisch aufgeladen wird.
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Der Masochismus ist folglich auch für Wilke kein Phänomen des Alltags oder realer Herrschaftsverhältnisse, ganz im Gegenteil. Die dominierende Frau, zumeist im Zentrum masochistischer Imaginationen, habe in der Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts noch gar keinen Platz gefunden, obwohl sie in verschiedenen Bildszenarien bereits als ambivalente, ebenso anziehende wie grausame Erscheinung zur Darstellung komme. Wilke geht es um die Produktion und Codierung von Zeichen in Kolonialdiskursen, um ein Imaginationsmodell, dessen Faszinationskraft zwar nur vor der Realgeschichte der Kolonien zu verstehen ist – als »Antwort auf Modernisierungstendenzen in der europäischen Industriegesellschaft« (S. 32) –, darüber hinaus aber eine diskursive Eigenlogik entwickelt, die in der Literaturgeschichte besonders anschaulich wird.
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Methodische Herausforderung
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Mit ihrer programmatischen Einführung nimmt Wilke gewissermaßen die Pointe der nachfolgenden vier Kapitel vorweg. Ihr Projekt steht somit aber auch vor einer methodischen Herausforderung: Zum einen muss Wilke ihre einleitende These an konkreten Fallbeispielen erhärten, zum andern aber auf der Grundlage masochistischer Strukturmuster einen historischen Bogen spannen, der das 19. Jahrhundert mit der Nachkriegsliteratur verbindet. Herausfordernd ist vor allem das »und« zwischen Masochismus und Kolonialismus, die Engführung zweier Diskurse und die »Überblendung« ihrer Bildbereiche, aber eben auch der historische Verlauf, den Wilke mit ihren Kapitel absteckt: Das erste Kapitel handelt von den kolonialen Erziehungspraktiken in Afrika, im zweiten wendet sie sich der Kolonialliteratur zu, im dritten dem Film der Weimarer Zeit, bevor sie im letzten Kapitel prominente Beispiele der Nachkriegsliteratur analysiert, in denen der Kolonialismus auf eine andere Weise zum Thema wird. Zu fragen ist daher, ob jedes ihrer Fallbeispiele gleichermaßen vom Masochismus geprägt ist, und ob sich das von ihr skizzierte Strukturmodell tatsächlich anbietet, die Geschichte des deutschen Kolonialismus in Afrika noch einmal zu erzählen.
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Masochismus – ein Verhaltensmodell oder ein flexibles Strukturmuster?
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Nicht in allen Passagen ihres materialreichen Buches gelingt Wilke die methodische Begründung ihrer These. Zwar profitieren ihre Analysen davon, dass der Masochismus ein flexibles Strukturmuster ist, dessen konkrete Ausgestaltung sich auf unterschiedliche Weisen zeigen kann, zuweilen verliert der Masochismus daher aber auch seine ganz spezifischen Eigenheiten; was Wilke als Masochismus beschreibt, hätte sich stellenweise auch in anderen Begriffe fassen lassen.
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Dies zeigt sich bereits im ersten Kapitel ihrer Arbeit. Wilke wählt einen überaus sinnvollen und überzeugenden Einstieg in ihr Thema und diskutiert zunächst die pädagogischen Praktiken in den Kolonien als eine Art Verhaltensschule, in der vor allem eines gelernt werden sollte: »Die Freude am Aushalten«. (S 74). Wie Wilke mit einer Fülle von amtlichen Schriften plastisch herausarbeitet, ging es in den kolonialen Erziehungsanstalten um eine Typenbildung und ein Verhaltensmodell. Deutsche Missions- und Regierungsschulen lehrten eine Entsagungshaltung, in der jegliche Form von Abenteuerlust unterdrückt werden sollte: »Kolonialdienst bedeutet nicht: Sichausleben! Genußsucht und Sittenlosigkeit, sondern Kolonialarbeit heißt: Entsagung und Opferleben«, zitiert sie aus Matthias Erzbergers Ratgeber für Kolonial-Berufe von 1912. Ohne die überzeugenden und überaus reichhaltigen Funde von Wilke zu schmälern, es ließe sich dennoch fragen, wie sich das von ihr rekonstruierte koloniale Erziehungsprogramm etwa von den pietistischen Disziplinierungstechniken in der Heimat unterscheidet? Und wie es sich mit den Pädagogiken des 18. Jahrhunderts vergleichen ließe? Anders gefragt, ab wann ist es legitim, von einer »masochistischen« Erziehung zu sprechen und inwiefern markiert die Kolonialepoche eine Zäsur in der Geschichte der deutschen Pädagogik?
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Kolonialliteratur – Gewaltexzesse bei Gustav Frenssen
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Im zweiten Kapitel diskutiert die Autorin einige einschlägige und weniger häufig diskutierte Beispiele der Kolonialliteratur, die, so Wilke, zur »Ausschmückung« (S. 78) der in den Erziehungsprogrammen eingeübten masochistischen Grundstruktur beitragen. Mit Joachim Warmbold unterscheidet sie drei Phasen der Literaturgeschichte:
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eine Pionierzeit, in der vornehmlich koloniale Eroberungen und Feldzüge erzählt werden, einer zweiten Phase der Besiedlung mit neuen Beziehungsstrukturen in den Kolonien und einer dritten Phase nach dem Verlust der Kolonien, in der immer wieder Durchdringungsversuche kolonialer Räume (S. 82) geschildert werden. Die Dreiteilung macht es bereits deutlich: Auch in diesem Abschnitt kann der Masochismus nur dann als gemeinsames Charakteristikum gelten, wenn man ihn als eine entsprechend flexible Struktur begreift, die sich auf unterschiedliche Weisen ausdifferenziert.
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Frenssens Peter Moors Fahrt nach Südwest, Wilkes Einstieg in die Geschichte der Kolonialliteratur, zeigt in der Schilderung von Tötungsszenen und Gewaltexzessen eine masochistische Anlage, die in Gabriele Reuters Kolonistenvolk oder den Ostafrika-Romanen Frieda von Bülows ganz anders ausgefüllt wird. Frenssen bedient eine masochistische Lesephantasie, er steiget die Faszination an der Gewalt; Lustgewinn entsteht hier durch den Blick auf das Detail, die exakte Vorführung von Tötungsszenen:
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Nahkampfbeschreibungen ästhetisieren die libidinöse Besetzung von Kampfesgegnern und befriedigen masochistisches Verlangen durch den voyeuristischen Blick auf den lustbesetzten schwarzen Körper. Moor fungiert als masochistischer Betrachter bildlicher Szenarien. (S. 123)
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Verschiebungen masochistischer Strukturen – Siedlungsromane
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Ganz anders hingegen verlaufen die Blickachsen in den Siedlungsromanen, das ›masochistische Dreieck‹ wird hier neu bestimmt zwischen Kolonialherren, angeblich grausamer weißer Frau und schwarzen Dienerinnen. Gerade Wilkes Beobachtung von permanenten Verschiebungen masochistischer Strukturen macht ihr Buch so lesenswert, das masochistische Dreieck, so scheint es, bildet sich auch in noch so verschiedenen Beispielen der Kolonialliteratur immer wieder aufs Neue. Besonders eindringlich vermittelt sich das in ihren Kommentaren zu Hans Grimms Dina, einer Erzählung aus den Südafrikanischen Novellen. Es wird deutlich, dass der Masochismus nicht lediglich ein Thema in der Kolonialliteratur ist, sondern vielmehr eine Grundstruktur der kolonialen Textproduktion ausmacht.
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Film der Weimarer Zeit – Identifikation mit masochistischen Helden
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Den Einstieg in ihr drittes Kapitel über den Film der Weimarer Zeit findet Wilke über Carl Einsteins Negerplastik und den Primitivismus. In der Beschreibung der Skulpturen, bei der Einstein jegliche kunsthistorischen oder auch ethnographischen Zusammenhänge ausblendet, richtet er sein Augenmerk allein auf die in ihnen ›fixierte Extase‹ und ihre religiöse Funktion. Auch Einstein spekuliert über eine vormoderne Welt, in der sich die Betrachter von Negerplastiken noch einer religiösen Macht unterworfen haben, er schildert eine Regression ins Sklaventum, in der sich Wilke zufolge »gewisse Strukturparallelen […] zur Psychodynamik des Masochismus« zeigen. (S. 127) Denn ganz ähnlich verwickeln die Filme Josef von Sternbergs ihren Betrachter in masochistische Szenen, auch hier identifiziert sich der Zuschauer mit masochistischen Helden und deren fetischistischer Schaulust. Dessen Filme mit Marlene Dietrich sind für Wilke geradezu paradigmatische Beispiele für eine »masochistische Ästhetik«.
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Historische Sprünge – der Masochismus droht konturlos zu werden
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Auch in ihrem dritten Kapitel führt die Autorin masochistische Szenen und Blickszenarien eindringlich vor Augen. Jedoch zeigt sich in diesem Abschnitt auch, dass die Übergänge zwischen den einzelnen Kapiteln, zwischen den Diskursen und unterschiedlichen Zeitabschnitten methodisch durchaus schwierige Passagen enthalten. Die These, dass die Darstellung von masochistischen Szenarien in der Kolonialliteratur »zu der masochistischen Ästhetik führt, die viele Filme und Texte der Weimarer Zeit bin in die Nazizeit hinein bestimmt und die metonymisch mit kolonialen Tropen verknüpft ist« (S. 125), kann nicht verdecken, dass die Übergänge zwischen den Kapiteln etwas sprunghaft sind. Was genau »führt« von der Literatur zum Film? Spätestens hier zeigt sich auch, dass die Eigentümlichkeiten des Masochismus hinter seiner Vielseitigkeit zu verschwimmen drohen. In jedem Kapitel, so scheint es, ist der Masochismus Adjektiv eines anderen Sachverhalts –»masochistische Pädagogik«, masochistische Szenen der Literatur, »masochistische Ästhetik« –, dabei ist aber nicht immer klar, wer das Subjekt in den masochistischen Szenarien eigentlich ist, um wessen Imaginationen es sich handelt, und ob diese Phantasien noch im Zusammenhang stehen mit dem kolonialen Typus, den die Erziehungsanstalten formen? Durch die Verallgemeinerung ihrer These und die Verlagerung der Schauplätze rückt der historische Kontext zunehmend in den Hintergrund.
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Nachkriegsliteratur – kolonialistisch-masochistischen Grundstruktur bei Uwe Timm
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Ihr viertes Kapitel über Texte der Nachkriegsliteratur enthält wiederum überzeugende Analysen von Uwe Timm Morenga, Christa Wolfs Medea, Ingeborg Bachmann und Elfriede Jelinek. Besonders herausragend ist ihr Kommentar zu Timm, in dem sie ihre These noch einmal besonders eindringlich vor Augen führt: dass der Masochismus eine Form der Bildproduktion ist, die sich nicht als Thema oder Motiv vereinfachen lässt. In Timms vielstimmigen Roman werden vermeintlich authentische historische Dokumente bekanntlich in eine fiktive Rahmenhandlung eingebunden, damit aber auch mit den Mitteln des Romans perspektiviert und analysiert. Timms fiktionaler Text durchdringt die Kolonialstrukturen, wie Wilke zeigt, reproduziert dabei aber auch das masochistische Rollenverhältnis, das Stereotyp des weißen Herrn und der grausamen Frau. Die kolonialistisch-masochistische Grundstruktur bleibe demnach auch bei Timm noch bestehen. (S. 153)
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Fazit
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Wilke gelingt ein historischer Überblick dank glänzender Einzelanalysen. Nicht immer zwingend aber ist die Verbindung zwischen den Medien und Diskursen, der Übergang von einer Epoche des Kolonialismus zur nächsten. Fast scheint es, dass Wilke ihrem enormen Anspruch, eine Geschichte des Kolonialismus vom 19. Jahrhundert bis Elfriede Jelinek zu erzählen, zwangsläufig nur auf Kosten der Historizität ihres Interpretaments gerecht werden kann: Man fragt sich, ob der Masochismus in Bachmanns Texten noch derselbe ist wie jene »Freude am Aushalten«, die Wilke in ihrem ersten Kapitel geschildert hat, ob sich die anhaltende Faszinationskraft masochistischer Szenarien noch immer als Gegenreaktion auf die Moderne deuten lässt, und ob nicht auch Wilkes Geschichte des Kolonialismus eine Form der Typenbildung ist.
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Ihren überaus wichtigen Beitrag schmälert dies aber freilich nicht. Mit ihren zahlreichen innovativen Ergebnissen wird sie der Forschung nachhaltige Anstöße geben. Dies gilt auch für den Ausblick auf den deutschen Kolonialismus in der Südsee, mit dem Wilke ihren Band abschließt. Im Vergleich zum Kolonialismus in Afrika unterscheiden sich die Topoi der Südsee beträchtlich – die Imaginationen des Paradieses und des edlen Wilden gehorchen einer eigenen Bildlogik, und auch die sexuellen Codierungen sind andere. Wie Wilke andeutet, ist die koloniale Phantasie von regionalen Differenzen durchzogen; damit öffnet sie den Blick auf eine Kartographie kolonialer Imaginationsmuster und Verhaltensmodelle, deren Erforschung durchaus noch nicht abgeschlossen ist.
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