IASLonline

Sich überlagernde Projektionen
von Orient und Okzident

  • Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Orientdiskurse in der deutschen Literatur. Bielefeld: Aisthesis 2007. 363 S. Kartoniert. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 978-3-89528-555-4.
[1] 

Tagungen und damit auch entsprechende Tagungs- und Sammelbände über ›orientalische Motivik‹, ›Bilder des Orients‹ oder ›Orientdiskurse‹ haben in den letzten Jahren eine gewisse Konjunktur. 1 Angesichts der Ereignisse im Gefolge des 11. September ist das auch nicht verwunderlich. Indem auf die produktive Rezeption der Kulturen des Orients in der deutschen Literatur verwiesen wird, kann die Literaturwissenschaft ein Gegengewicht setzen gegen die politischen Fundamentalismen und Essentialismen auf allen Seiten, ohne ihr eigentliches Gegenstandsgebiet verlassen zu müssen.

[2] 

Bilder des Orients vom Mittelalter bis heute

[3] 

Das bedeutet nicht, nun alles schön reden zu müssen, denn wie der Herausgeber Klaus-Michael Bogdal feststellt, findet man in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts beides: »Bilder des Orients, die den Kampf der Kulturen und Religionen schüren, und Entwürfe zivilisatorischer Gemeinsamkeiten.« (S. 9)

[4] 

Der Band, der auf eine Tagung am Internationalen Begegnungszentrum der Universität Bielefeld zurückgeht, wählt keinen theoretisch-systematischen Ansatz zur Erarbeitung des Orientdiskurses in der deutschen Literatur, sondern einen historischen. Die Beiträge folgen, wie es Bogdal in der Einleitung formuliert, »den Spuren jener Dichter von Walther von der Vogelweide bis zu Arnim T. Wegner, die einen Weg in die Kulturen, Literaturen und Länder des ›Orients‹ gefunden haben« (S. 9). Das ergibt ein gewiss etwas zufällig zusammengesetztes, aber doch interessantes Bild über die Entwicklung des Orient-Diskurses über lange Zeiträume hinweg.

[5] 

Erweiterung von Saids Orientalismus-These

[6] 

Dennoch kommt keine Auseinandersetzung mit Orient-Bezügen in der Literatur aus ohne Stellung zu nehmen zu Edward W. Saids Studie Orientalism (1978) 2 . Im vorliegenden Band ist es vor allem Andrea Polaschegg, die sich mit den umstrittenen Thesen des palästinensisch-amerikanischen Literaturwissenschaftlers beschäftigt. Polaschegg, Autorin einer der gründlichsten Darstellungen der Orientbilder in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, 3 kritisiert an Saids Darstellung, die sie als »initiale Metaerzählung« der internationalen Orientalismusforschung bezeichnet (S. 51), die Allgemeinheit seiner Antwort auf die »ungestellte Frage nach Gründen und Bedingungen für die Existenz eines europäischen Orientalismus« (S. 53).

[7] 

Said führt die Beschäftigung mit dem Orient zurück auf die Ausübung von Macht: Der Orient ist eine homogenisierende Konstruktion Europas, um Macht über diesen in sich eigentlich sehr heterogenen Raum ausüben zu können. Beteiligt an diesem Herrschaftsdiskurs sind neben der für Said keineswegs neutralen Orientwissenschaft vor allem auch die Schriftsteller und Literaten. An die Stelle dieser ›überzeitlichen‹ und ›transdiskursiven‹ (S. 59) Funktionsbestimmung des Orientalismus versucht Polaschegg eine andere, den »spezifischen Problemzusammenhang« berücksichtigende. Statt einer Repräsentations- oder Konstruktionslogik schlägt sie einen »handlungstheoretischen Perspektivenwechsel« (S. 66) vor.

[8] 

Mittels einer auf Luhmann referierenden »gebrauchsgeschichtlichen Methodik« versucht sie Antworten zu finden auf die Frage, warum an einem spezifischen Ort, etwa dem einzelnen Kunstwerk, Orientalismen eingesetzt werden. »Die Aktualisierung von Orientalismen in der Literatur wird offenbar von anderen diskursiven Gesetzmäßigkeiten geregelt – von poetischen Programmen, von Gattungskonventionen oder den Gesetzen des literarischen Marktes – als Bezugnahmen auf den Orient im Rahmen des politischen Diskurses« (S. 68).

[9] 

Produktionsästhetisch gesehen ist das für den Nachvollzug des Konstruktionsprinzips des individuellen Kunstwerks sicherlich ergiebiger als die Rückführung auf die immer gleichen Mechanismen diskursiver Machtausübung. Nur werden die zu spezifischen, unterschiedlichen Zwecken benutzten Orientalismen – so könnte man einwenden – häufig eben doch wieder ›repräsentationslogisch‹ rezipiert und ergeben im Betrachter oder Leser ein Bild, das mit den real existierenden Ländern des ›Orients‹ gleichgesetzt wird und sich schließlich wieder in Handlungen gegenüber dem so Verstandenen niederschlägt.

[10] 

Die ›hässliche Orientalin‹ –
der europäische weibliche Blick auf den Harem

[11] 

Wie aufschlussreich Untersuchungen, die in durchaus kritischem Bezug von Said ausgehen, sein können, zeigt beispielhaft Ulrike Stamms Beitrag über Reiseberichte von weiblichen Reisenden des 19. Jahrhunderts. Als Kehrseite der gleichzeitigen Idealisierung und Sexualisierung der orientalischen Frau durch die männlichen Reisenden findet sich bei Ida Pfeiffer, Ida von Hahn-Hahn und anderen, die im Gegensatz zu den Männern auch Zugang zum Harem als dem Kernbereich des Orient-Phantasmas bekommen konnten, stereotyp das Bild der »hässlichen Orientalin« (so der Titel von Stamms Aufsatz). Stamm kann zeigen, wie die Orientalinnen »sowohl zu Trägern der eigenen verworfenen, materiellen Körperlichkeit wie auch zur Verkörperung einer unselbständigen Weiblichkeit« werden und wie sich »beide Formen der Projektionen überlagern und [gegenseitig] verstärken« (S. 159).

[12] 

Überlagerung von Fremd- und Selbstbildern

[13] 

Die Beschäftigung mit Orientdiskursen, so wird hier einmal mehr deutlich, gibt Aufschluss nicht nur über das Bild, das sich eine jeweilige Zeit vom Orient gemacht hat, sondern auch über die Urheber dieser Bilder selbst. Die Definition des Orients und seiner Bewohner ist immer auch eine Selbstdefinition. Wolfgang Behschnitt zeigt entsprechend am Aladdin-Drama Adam Oehlenschlägers, wie sich die Achsen von Eigenem und Anderem, Vertrautem und Fremdem überkreuzen und überlagern.

[14] 

Neben literatur- und kulturhistorischen Darstellungen – wie der Meinolf Schumachers, der zeigt, dass die Vorstellung des im Kreuzzug zu erobernden ›Heiligen Landes‹ erst durch die Literatur geschaffen worden ist, oder der Hendrik Birus’, der im Detail die Adaption oder auch Nicht-Adaption des Ghasel bei Goethe, Platen und Rückert demonstriert – finden sich stärker kulturwissenschaftlich orientierte Beiträge, unter denen der Artikel Uwe Lindemanns über die Begriffsgeschichte von ›Bazar‹ hervorzuheben ist. Als literarischer Belegtext wird von Lindemann Zolas Au Bonheur des Dames herangezogen. Literaturwissenschaftlich fruchtbar zu machen wäre das etwa für James Joyces Kurzgeschichte »Araby« aus den Dubliners, in der ein junger Ire einen Wohltätigkeitsbazar besucht, der auf einen realen Dubliner Bazar dieses Namens aus dem Jahr 1894 zurückgeht. 4

[15] 

Fazit

[16] 

Insgesamt beweist der Tagungsband – wie auch die eingangs genannten anderen Sammelbände –, wie aufschlussreich und in jeglicher Hinsicht – literarisch, kulturell, gesellschaftlich – gewinnbringend die Aufarbeitung literarischer Orient-Diskurse ist. Eine zusammenhängende Aufarbeitung ist trotz einiger Monographien, 5 die aber jeweils nur einen kleinen historischen Ausschnitt bearbeiten oder zu exemplarisch bleiben, zumindest für die Zeit nach der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach wie vor ein Desiderat.

 
 

Anmerkungen

Rüdiger Görner / Nima Mina (Hg.): Wenn die Rosenhimmel tanzen. Orientalische Motivik in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. (Publications of the Institute of Germanic Studies (Institute of Germanic & Romance Studies. School of Advanced Study, University of London) 87). München: Iudicium 2006; Charis Goer / Michael Hofmann (Hg.): Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850. München: Wilhelm Fink 2008.   zurück
Edward W. Said: Orientalism. With a New Preface by the Author. New York: Vintage 1994.   zurück
Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin / New York: de Gruyter 2005.   zurück
Vgl. Heyward Ehrlich: »Araby« in Context: The »Splendid Bazaar«, Irish Orientalism, and James Clarence Mangan. In: James Joyce Quarterly 35 (1998), S. 309–331.   zurück
Nina Berman: Orientalismus, Kolonialismus und Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900. Stuttgart: M & P 1997; Todd Kontje: Germans Orientalisms. Ann Arbor: University of Michigan Press 2004. Für einen Durchlauf durch die Faszinationsgeschichte des Orients in der deutschen Literatur, der sich auf die Zeit von 1770–1850 konzentriert, vgl. Andrea Polaschegg: Die Regeln der Imagination. Faszinationsgeschichte des deutschen Orientalismus zwischen 1770 und 1850. In: Goer / Hofmann (Anm. 1), S. 13–36.   zurück