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Implicite - Theorie und Praxis der Affekte im Zeitalter des Barock

  • Johann Anselm Steiger (Hg.): Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 43) Wiesbaden: Harrassowitz 2006. 1178 S. 50 Abb. Gebunden. EUR (D) 159,00.
    ISBN: 978-3-447-05336-5.
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Im Rahmen eines der wohl am nachhaltigsten wirkenden Kolloquien der Forschergruppe Poetik und Hermeneutik, dem Kolloquium zu Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, publizierte Erwin Rotermund seine heute noch grundlegende Studie zu Der Affekt als literarischer Gegenstand: Zur Theorie und Darstellung der Passiones im 17. Jahrhundert. 1 Diese Untersuchung, die er 1972 nochmals umfänglich ergänzte durch die Veröffentlichung seiner Habilitationsschrift zu Affekt und Artistik: Studien zu Leidenschaftsdarstellung und zu Argumentationsverfahren bei Hofmann von Hofmannswaldau 2 leistet gleich zweierlei: Erstens skizziert Rotermund in ihr die Felder, in denen die Affekte und Leidenschaften im 16. und 17. Jahrhundert behandelt wurden, und zweitens betrachtet er kursorisch die Darstellungen der Passiones in den europäischen Literaturen des Barock, wobei er zwar einen Schwerpunkt auf die deutsche Literatur dieser Zeit legt, jedoch auch die französische, italienische und englische Literatur gleichermaßen mit bedenkt.

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Den Ausgangspunkt seiner Argumentation bilden die Behandlungen der Affekte und Leidenschaften in den ästhetischen Theorien Friedrich Schillers und G.W.F. Hegels um 1800, um von diesem Kulminationspunkt der Ästhetik aus rückblickend die Differenz deutlich zu machen zwischen den Theorien der Passiones im Barock und denjenigen der Affekte und Leidenschaften im Zeitalter der Weimarer Klassik. Dementsprechend verfolgt Rotermund zunächst die Unterscheidung zwischen stoizistischen und peripatetischen Theorien der Passiones um 1600, indem er die medizinischen und philosophischen, aber auch diejenigen Theorien betrachtet, die man der theologischen resp. christlichen Anthropologie zuordnet. 3 Dabei hebt er hervor, dass die stoizistischen Theorien der Leidenschaften keineswegs die dominanten dieser Zeit seien, da diese nur in einigen Ländern, insbesondere von den Niederlanden ausgehend, Schule gemacht hätten.

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Darauf aufbauend präsentiert er eine Reihe von literarischen Leidenschaftsdarstellungen, die zwar das barocke Trauerspiel besonders berücksichtigen, jedoch auch bzw. gerade den Dramen von Corneille, Racine und Shakespeare Beachtung schenken. Hinzu kommt schließlich eine Betrachtung der erotischen Literatur des Barock, die ausgehend von Italien und dort speziell von Giovan Battista Marino europaweite Bedeutung erhielt, auch wenn insbesondere diese Form der Leidenschaftsdarstellung für die Theoriebildung ein mehr als großes Problem darstellte, das eher ausgeblendet oder zumindest als höchst problematisch ausgegrenzt und eben nicht in die betreffenden Diskurse integriert wurde. Auf diese Weise bietet Rotermund ein Tableau der Leidenschaften in Theorie und Praxis, das sowohl die Breite der Thematik erfasst als auch notwendige konzeptionelle Differenzierungen berücksichtigt.

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Implizit oder explizit zum Ersten

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In seiner Zusammenfassung dieses Referates kritisierte Herbert Dieckmann indes zwei zentrale Punkte, die ihn deutlich irritierten:

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Da der Verfasser [i.e. Erwin Rotermund] nicht nur von der Praxis, sondern auch, meist sogar vornehmlich, von der Theorie handelt, hat er auch eine der Fragen, die ich zur Vorlage von D. Tschižewski zu stellen hatte, implicite erwähnt. Dieses implicite und die Tatsache, daß die ästhetische Auffassung, für die eine Darstellung extremer Effekte, ja, der Affekte als solcher »außerästhetisch« ist, an den Anfang der Vorlage, das heißt vor die Darlegungen der Theorien des 17. Jahrhunderts gestellt wird, ist vielleicht nicht nur für mich, sondern auch für andere Leser verwirrend. Doch zeigt sich klar, daß Kriterien wie »außerästhetisch« relativ sind auf eine bestimmte Ästhetik, von der sie abweichen. 4
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Dieckmanns Kritik zielt auf zwei Punkte der Rotermundschen Studie: Zum einen moniert er, dass die Frage nach dem ›Außerästhetischen‹ der literarischen Leidenschaftsdarstellungen zu problematisieren sei, da diese, wie Rotermund selbst deutlich mache, immer nur unter der expliziten Berücksichtigung eines bestimmten Standpunktes erfolge, mithin nicht per se gesetzt werden könne. Demgegenüber bietet Rotermunds Studie nur eine implizite Reflexion dieses Problems, aber eben keine explizite, weshalb Dieckmann leicht irritiert nach der Position des Verfassers fragt, von der aus die Analyse der Passiones als Grenzphänomen des Ästhetischen erfolgte – denn diese könne er nicht erkennen. 5 Zum anderen fragt Dieckmann nach dem konzeptionellen und historischen Fluchtpunkt, auf den Rotermunds Analyse der Passiones hin ausgerichtet ist, da für ihn die Referenz auf Schiller und Hegel höchst problematische ist, insofern hier ein Gravitationszentrum gesetzt wird, das er selbst, d.h. Dieckmann, eher für diskussionsbedürftig halte und weniger für erklärend. Dementsprechend erfolgt der einleitende Bezug auf Schillers und Hegels ästhetische Reflexion der Affekte und Leidenschaften zwar explizit, doch wird damit allenfalls implizit angedeutet, woraufhin die nachfolgende Darstellung der Passiones abzielt. Kurz gesagt lautet Dieckmanns Argument: Weniger implicite und mehr explicite Argumentation hilft dem allgemeinen Verständnis.

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Betrachtet man von diesem mittlerweile selbst historisch gewordenen Hintergrund ausgehend das Buchcover zu dem im Jahre 2003 vom Wolfenbütteler Arbeitskreis Barockforschung organisierten Kongress zu Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit, dann erkennt man unschwer, wie sehr sich die Situation gegenüber den Zeiten von Rotermunds Habilitationsschrift zu Hofmann von Hofmannswaldau geändert haben: Findet sich doch hier mit Peter Paul Rubens Gemälde Der Raub der Töchter des Leukippos geradezu eine Ikone der erotischen Leidenschaftsdarstellungen des Barockzeitalters, die sowohl hinsichtlich der Farbgestaltung und der Bilddynamik als auch hinsichtlich der gewählten Thematik exemplarisch für den aktuellen kulturhistorischen Zugang der Forschung zu den Leidenschaften in der Frühen Neuzeit einstehen kann, ohne dass dies gleich mit allzu modisch-methodischen Vorbehalten gegenüber etwaigen turns, wie beispielsweise dem emotional turn einhergehen muss: 6 Denn die Vielzahl der Figuren, die auf je eigene Weise in die stark bewegte, dramatische Szenerie eingebunden sind, und zugleich selbst einen dramatischen Bewegungsbogen bilden, erlaubt es, paradigmatisch verschiedene Diskussionen der Affektdarstellung des Barockzeitalters zu thematisieren. 7

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Genannt seien für den Bereich der Kunstgeschichte nur die Diskussionen um den Vorrang von disegno und colore zwischen den Poussinisten und den Rubenisten, die Frage nach der Betrachteraffizierung, 8 die Frage nach der Natürlichkeit der Leidenschaftsdarstellung oder eben auch die Frage nach der Form und Funktion von Darstellungen erotischer bis hin zu transgressiven Leidenschaften.

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Fragen?

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Schlägt man daraufhin den ersten der beiden voluminösen Bände auf, dann wird man vom Inhaltsverzeichnis darauf hingewiesen, dass diesem Kongressdokument kein Vorwort beigegeben wurde, mithin, dass die Konzeption des Kongresses wahlweise bereits aus der Sache selbst resultiere oder eben implizit gegeben sei. Dementsprechend werden zuerst die vier Plenarvorträge des Barockkongresses abgedruckt, woraufhin die Beiträge der vier Sektionen zu Passion, Affekt und Leidenschaft in Theologie, Predigt, Rhetorik, Frömmigkeit und geistlicher Dichtung (I), Passion, Affekt und Leidenschaft in der musikalischen Passionstradition des Barock (II), Passion, Affekt und Leidenschaft in Theater, Oper, Ballett und Festkultur (III) sowie schließlich Passion, Affekt und Leidenschaft an der äußeren Grenze der Kultur und in der inneren Erfahrung (IV) folgen, die zusammen die fast 1200 Seiten des Werkes gestalten.

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Die Doppelung aus fehlendem Vorwort, das die übergeordnete Fragestellung sowie die zugrunde gelegte These hätte präsentiert können, und steter Wiederkehr der Trias von ›Passion, Affekt und Leidenschaft in …‹ bewirkt beim Rezensenten, aber wohl auch bei anderen Lesern, ein gewisses Erstaunen, da hierdurch eine Art Festschreibung der untergeordneten Themenbereiche erfolgt, bei der man gerne gewusst hätte, was deren übergeordnete Konzeption oder zumindest deren anvisierter Fluchtpunkt ist.

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Deutlicher formuliert: Es findet sich in den Tagungsakten weder eine explizite Fragestellung, die für alle Beiträge leitend war noch eine implizite Ausrichtung auf eine übergeordnete Fragestellung, wie dies noch bei Rotermunds Studie aufgrund der Publikation im Rahmen des Poetik und Hermeneutik-Bandes durch die Kolloquiumsthematik zu den Grenzphänomenen des Ästhetischen gegeben war. Die Wiederholung der Trias ›Passion, Affekt und Leidenschaft in …‹ unterstreicht diese Leerstelle dementsprechend nochmals. Dies ist indes bereits auf der historischen Ebene problematisch, da, wie in einzelnen Beiträgen hervorgehoben wird, etwa der Begriff ›Affekt‹ erst am Übergang vom Barock zur Frühaufklärung in die deutsche Sprache eingeführt wird, mithin keineswegs als gesetzt anzusehen ist für die hier interessierende Epoche. Die wiederholten Begriffe sind folglich weniger erklärend und mehr erklärungsbedürftig. 9

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Aufbau und Logik

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Wendet man sich von hier aus den vier Plenarvorträgen zu, um eine erste Orientierung auf dem Gebiet von Passion, Affekt und Leidenschaft zu erhalten, dann sieht man sich vier sehr unterschiedlichen, jedoch ausgesprochen interessanten Beiträgen gegenüber: Carsten-Peter Warnke thematisiert in seinem Beitrag zu Starke Frauen – starke Gefühle die Darstellung weiblicher Leidenschaft in der bildenden Kunst des Barock die piktoralen Inszenierungen der Leidenschaften im 17. Jahrhundert. Dabei bezeichnet das Kompositum ›weibliche Leidenschaft‹ sowohl einen Genitivus objectivus als auch einen Genitivus subjectivus, geht es Warnke doch sowohl um die Analyse von Gemälden, auf denen die Leidenschaften von antiken, mythologischen oder christlichen Frauenfiguren dargestellt werden als auch um Darstellungen von Leidenschaften, die von Frauen, genauer: Malerinnen ins Bild gesetzt werden. Hierfür wählt er vorzugsweise Werke der italienischen Kunstgeschichte aus, um das Zusammenspiel von historischer, theologischer und philosophischer Theorie und ästhetischer Praxis der Leidenschaftsdarstellung produktiv zusammenzuführen.

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Renate Steiger wendet sich ihrerseits der Affektdarstellung und Allegorese in Johann Sebastian Bachs Passionen zu und analysiert damit nicht nur die Passiones in der musikalischen Passion, sondern betrachtet auch eine Konfiguration der Leidenschaftsdarstellung, die vorzugsweise am Übergang von Barock und Frühaufklärung ihren Ort hat. Claudia Benthien untersucht das Schweigen als Pathosformel in der Frühen Neuzeit und bietet damit einen kurzen Einblick in ihre mittlerweile erschienene Habilitationsschrift zum barocken Schweigen. 10 Ralf Georg Bogner beschließt die Plenarvorträge mit einer Studie zum Thema Bewegliche Beredsamkeit, passionierende Poesie. Zur rhetorischen Stimulierung der Affekte in der lutherischen Literarisierung der Leidenschaftsgeschichte Jesu.

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Versucht man nun anhand der Plenarvorträge eine mögliche Konzeption des Kongresses zu erschließen, dann kann man zumindest eine erste Annäherung wagen, insofern zumindest drei Marksteine durch die Plenarvorträge gesetzt werden. Implizit werden erstens diejenigen Studien privilegiert, die sich der Passion im Sinne der Leiden Christi zuwenden, was in den Studien von Renate Steiger und Ralf Georg Bogner durchscheint. Damit verbunden wird zweitens nach den Ästhetisierungen der Passiones insofern gefragt, als diese eine Umsetzung eben jener Leidensgeschichte Christi bieten, wobei schließlich eine ebenfalls implizite Präferenz auf denjenigen Darstellungen in Theorie und Praxis liegt, die der protestantischen Kultur zugeordnet werden können. Dadurch wird drittens der deutsche, wenn nicht norddeutsche Sprachraum dominant in den Blick genommen, was durch den Beitrag von Warnke zur italienischen Kunst nur umso deutlicher hervortritt.

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Passiones und / oder Passion

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Die Sektion I, die sich Passion, Affekt und Leidenschaft in Theologie, Predigt, Rhetorik, Frömmigkeit und geistlicher Dichtung widmet, folgt dieser impliziten Logik insofern, als die meisten explizit nach den Passiones in der protestantischen Theologie und deren Umsetzungen fragen, wie etwa Johann Anselm Steiger in seinem Beitrag zu Zorn Gottes, Leiden Christi und die Affekte der Passionsbetrachtung bei Luther und im Luthertum des 17. Jahrhunderts oder in den Studien von Hartmut Laufhütte (Passion Christi bei Sigmund von Birken und Catharina von Greiffenberg) und Vanessa Lohse (Poetische Passionstheologie. Beobachtungen zu Catharina Regina von Greiffenbergs Betrachtungen des Leidens Christi). Aus diesen Rahmen fällt alleine der Beitrag von Ralf Georg Czapla, der sich explizit mit Jesuitische[r] Bildapologie und Bildmeditation. Johann Armbrusters Gedicht auf den Speyerer Ölberg beschäftigt.

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Diskussionen über die Leidenschaftsdarstellungen, wie sie etwa in der Kontroverse zwischen Jesuiten und Jansenisten geführt werden, oder auch tendenziell nicht-orthodoxe Formen geistlicher Dichtung, wie sie in dieser Zeit in Italien zu finden sind 11 , aber auch die berühmten geistlichen Spiele in Spanien sind hingegen nicht mit Beiträgen vertreten. Analog dazu steht im Zentrum der zweiten Sektion die Passionstradition des musikalischen Barock und d.h. vor allem: die musikalischen Passionen von Telemann und der Familie Bach sowie deren Umkreise. Da der Rezensent musikhistorisch kaum bis nicht bewandert ist, kann er zu diesen Studien wenig sagen, außer dass auch hier eine implizite Fokussierung auf die norddeutsche bzw. protestantische Passionstradition erfolgt.

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Protestantische Be- und Umarbeitungen

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Die dritte Sektion behandelt dann die Trias von Passion, Affekt und Leidenschaft in Theater, Oper, Ballett und Festkultur, wodurch zunächst ein deutlich weltlicher Rahmen gesetzt wird. Eine bemerkenswerte Wendung nimmt diese Öffnung zum Weltlichen hin, wenn man die Einleitung zur Sektion von Helen Watanabe-O’Kelly liest, heißt es doch dort bezüglich der leitenden Fragen:

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Hatte das frühneuzeitliche Theater eine eigene Theorie der Affekte, die von der der Antike abwich? Spielte da die Theologie die Hauptrolle, oder war es am Hof eher die politische Theorie, die maßgeblich war? Wie setzte sich die Theorie in Praxis um? Diente die Präsentation der Affekte im Theater der Schulung des Publikums oder derjenigen der Darsteller oder beidem? […] Welche Rolle spielte die Konfession? Wie hat sich die Übernahme von Gattungen und Theaterkonventionen aus dem katholischen Italien und Frankreich an lutherischen Höfen gestaltet? Wie wurden Stoffe aus dem Jesuitentheater für protestantische Schulbühnen umgearbeitet? […] 12
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Auch wenn der Beginn der Überlegungen noch eine Offenheit gegenüber Fragen suggeriert, die die Frühe Neuzeit sowohl in ihrer zeitlichen Abfolge als auch räumlichen Weite betreffen, erkennt man bereits am Anfang des zweiten Teils des Zitats eine Perspektivierung, die nicht notwendigerweise erfolgen muss, zumal diese dann mit einer weiteren Konzentration einhergeht: Wird doch nach den Übernahmen von katholischen Konventionen an lutherischen Höfen gefragt, wie auch vorzugsweise die Umarbeitung von Stoffen des Jesuitentheaters an protestantischen Schulbühnen interessiert. 13 Anders gesagt: Italien und Frankreich, wie auch das katholische Europa als Ganzes, sind nur insofern von Belang, als sie den Hintergrund bilden für die im Zentrum stehenden protestantischen Be- und Umarbeitungen. 14

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Versucht man von hier aus eine zweite Annäherung an die Konzeption der Tagung, dann kann man vermuten, dass es um die Erarbeitung von Theorien und Praktiken der Passionen, Affekte und Leidenschaften in der protestantischen Kultur des 17. Jahrhunderts geht, für deren Herausarbeitung es indes des gelegentlichen Blicks auf die französischen und italienischen, aber auch auf die englischen ›Quellen‹ bedarf, um deren Spezifik prägnant zu benennen. Dergestalt ist auch die Einbindung von Marino und Caravaggio, Corneille, Racine und Molière, von Shakespeare, Marlowe und Webster, aber auch von Calderon und Lope de Vega und vielen anderen, die Rotermund sich noch zu seinem Anliegen machte, nicht mehr unbedingt notwendig für die Beschreibung der Passiones im Barockzeitalter.

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Die vierte Sektion überschreitet diese Grenzen allerdings auf bemerkenswerte Weise und eröffnet derart viele Horizonte, dass eine Verbindung der einzelnen Beiträge, die sich hier finden, in der Einleitung zur Sektion eher über Metaphoriken des Innen und Außen gesucht werden, denn über eine gemeinsame Fragestellung. Die gemeinsame Schnittstelle von Studien zum Stellenwert der Affekte in der Pest-Prophylaxe nach 1348 (Gerhard F. Strasser), zur Krisen- und Leidenserfahrungen Fürst Christian II. von Anhalt-Bernburg (Andreas Herz) und zu japanischen Märtyrern in Cornelius Hazarts Weltgeschichte, so spannend diese im Einzelnen zu lesen und so informativ sie auch sind, erschließt sich zumindest dem Rezensenten nicht. Wenn es einen gemeinsamen Schnittpunkt geben könnte, dann findet er sich wohl im realen bzw. übertragenen Leiden des Menschen, vorzugsweise des Märtyrers oder zumindest des aus kirchlicher Verfolgung Leidenden, wie dies prägnant in Joseph Imordes ausgesprochen lesenswertem Beitrag zu Gustus Mysticus. Zur Geschichte und Metaphorik geistlicher Empfindsamkeit ins Bild gesetzt wird.

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Implizit oder explizit zum Zweiten

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Die Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung haben zum Ziel, den europäischen Barock in seiner ganzen Breite und Tiefe zu erarbeiten, um von einer gesicherten historischen Basis aus weiterführende Fragen zu stellen, die für die Forschung zur Frühen Neuzeit insgesamt leitend sein können. Betrachtet man den vorliegenden Band als Ganzes, dann bleibt man indes leicht irritiert zurück, da hier sehr viel implizit erforscht wird, wo etwas mehr explizite Fragestellung und Argumentation von Vorteil gewesen wäre. Hinzu kommt, dass der Titel Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit eher fehl- als anleitet, da vorzugsweise Studien zu den protestantischen Be- und Umarbeitungen von Leidenschaften im Barockzeitalter vorgelegt werden. Dies ist an sich kein Nachteil, vielmehr kann eine solche Konzentration, wenn sie explizit gemacht wird, als deutlicher Gewinn verstanden werden, da dann eine spezifische Frage verfolgt wird, um ein bestimmtes Forschungsgebiet umfänglich zu bearbeiten.

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Im vorliegenden Falle hat der Leser hingegen einerseits das Vergnügen, viele spannende und interessante sowie in der Sache auch mehr als ertragreiche Beiträge lesen zu dürfen, andererseits wird ihm selbst aufgetragen, eine leitende Fragestellung oder eine übergeordnete Konzeption herauszuarbeiten.

 
 

Anmerkungen

Erwin Rotermund: Der Affekt als literarischer Gegenstand: Zur Theorie und Darstellung des Passiones im 17. Jahrhundert. In: Hans Robert Jauß (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. München: Fink 1968 (Poetik und Hermeneutik III), S. 239–269.   zurück
Erwin Rotermund: Affekt und Artistik : Studien zur Leidenschaftsdarstellung und zum Argumentationsverfahren bei Hofmann von Hofmannswaldau. München: Fink 1972 (POETICA, Beiheft 7).   zurück
Siehe hierzu nach wie vor grundlegend Wilhelm Dilthey: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Gesammelte Schriften, II. Band. Stuttgart: Teubner, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1957, besonders der Abschnitt Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts, S. 416–492.   zurück
Siehe: Herbert Dieckmann (Vorsitz): Sechste Diskussion: Ausserästhetische Elemente in der Barockdichtung. In: Die nicht mehr schönen Künste, S. 621.   zurück
Betrachtet man die Habilitationsschrift Rotermunds, dann lässt sich diese Antwort ungleich leichter geben, da die Betrachtung der Passiones aus einem Blickwinkel erfolgt, der durch die Heldenbriefe und die Lyrik Christian Hofmann von Hofmannswaldaus vorgegeben ist, also von einem Standpunkt aus, der gerade die tendenziell als problematisch angesehene erotische Leidenschaftsdarstellung in den Mittelpunkt der literarischen Inszenierung stellt.   zurück
Genannt seien hierzu nur Gail Kern Paster: The Body Embarrassed: Drama and the Disciplines of Shame in Early Modern England. Ithaca NY: Cornell UP 2003, Susan James: Passion and Action: The Emotions in Seventeenth-Century Philosophy. Oxford: Oxford UP 2007, Gail Kern Paster / Katherine Rowe / Mary Floyd-Wilson (Hg.): Reading the Early Modern Passions: Essays in the Cultural History of Emotion. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2004, Gail Kern Paster: Humoring the Body: Emotions and the Shakespearean Stage. Chicago: University of Chicago Press 2004, Penelope Gouk / Helen Hills (Hg.): Representing Emotions: New Connections in the Histories of Art, Music, and Medicine. Farnham: Ashgate 2005, David Houston Wood: Time, Narrative, and Emotion in Early Modern England. Farnham: Ashgate 2009, Susan C. Karant-Nunn: Reformation of Feeling. Shaping the Religious Emotions in Early Modern Germany. Oxford: Oxford UP 2010, Stephanie S. Dickey / Herman Roodenburg (Hg.): The Passions in the Arts of the Early Modern Netherlands / De hartstochten in de kunst in de vroegmoderne Nederlanden. Zwolle: Waanders, 2010.   zurück
Bedauerlicherweise gibt es in dem Band keinen Beitrag zu Rubens und dessen piktoralen Affektdarstellungen. Verwiesen sei daher nur auf Svetlana Alpers: Manner and Meaning in Some Rubens Mythologies. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institues 30 (1967), S. 285–289, Martin Warnke: Kommentare zu Rubens. Berlin: de Gruyter 1965, Margaret D. Carroll: The Erotics of Absolutism and the Mystification of Sexual Violence. In: Representations, No. 25 (Winter, 1989), S. 3–30 sowie die neueren Ausstellungskataloge Ulrich Heinen / Andreas Thielemann (Hg.): Rubens Passioni: Kultur der Leidenschaften im Barock. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, Nils Büttner / Ulrich Heinen unter Mitarbeit von Birgit Franke (Hg.): Peter Paul Rubens: Barocke Leidenschaften. Ausstellung im Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig, 8. August bis 31. Oktober 2004. Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig, Kunstmuseum des Landes Niedersachsen. München: Hirmer 2004.    zurück
Das berühmteste Beispiel dürfte wohl die so genannte vecchiarella-Anekdote sein, innerhalb derer die Frage nach der Affizierung des Betrachters gebunden wird an die differenten Malweisen von Guido Reni und Domenichino. Siehe hierzu Felix Thürlemann: Betrachterperspektiven im Konflikt: Zur Überlieferungsgeschichte der ›vecchiarella‹-Anekdote. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 21.1986, S. 136–155    zurück
Siehe Anja Lobenstein-Reichmann: Affekt, Passion und Leidenschaft im Frühneuhochdeutschen – Anmerkungen zu einem ganz besonderen Fall von Sprachwandel. In: Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit, S. 251–269.   zurück
10 
Claudia Benthien: Barockes Schweigen. Rhetorik und Performativität des Sprachlosen im 17. Jahrhundert. Paderborn: Fink 2006.   zurück
11 
Verwiesen sei hierfür nur für den Bereich der Literatur auf Marc Föcking: Rime sacre und die Genese des barocken Stils: Untersuchungen zur Stilgeschichte geistlicher Lyrik in Italien 1536 –1614. Stuttgart: Steiner 1994 und für den Bereich der Malerei Valeska von Rosen: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren: Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600. Berlin: Akademie-Verlag 2009.   zurück
12 
Helen Watanabe-O’Kelly: Einleitung. In: Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit, S. 687.   zurück
13 
Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang der Beitrag von Rosemarie Zeller zu Tragödientheorie, Tragödienpraxis und Leidenschaften (S. 691–704), die explizit einen Vergleich zwischen den deutschen und französischen Tragödienkonzeptionen vornimmt.   zurück
14 
Die Ausnahmen von der Regel sind die Beiträge von Philine Lautenschläger zu Leidenschaften in Sprechtragödie und Oper: Racines Phèdre und ihre Vertonung durch Jean-Philippe Rameau (S. 739–759) sowie von Alan Maddox zu Singing to the Ear and to the Heart. Performance Practice and the Rhetorical Tradition in Early and Mid Eigtheenth-Century Italian Vocal Music (S. 829–836), der indes den Rahmen des Barock doch sehr ausdehnt.   zurück