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Forschungen in hörbaren Welten

  • Petra Maria Mayer (Hg.): Acoustic Turn. München: Wilhelm Fink 2008. 723 S. zahlr. s/w, 2 DVDs Abb. Gebunden. EUR (D) 94,00.
    ISBN: 978-3-7705-4389-2.
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Das Akustische als eine Wendemarke der Wissenschaft?

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Um die stetige Dynamik zu bezeichnen, welche die Entwicklung nicht nur der Geisteswissenschaften auszeichnet, hat sich in den letzten Dekaden der Begriff der ›Wende‹ etabliert. Der vorliegende Band zum ›Acoustic Turn‹ bezeichnet in diesem Sinne eine Wende hin zum Akustischen und weckt die Erwartung, dass sich damit Fragen stellen lassen, die zwar nicht im Sinne eines Paradigmenwechsels nach Kuhn zu einer Krise bestehender Wissensordnungen führen, aber doch geeignet sind, die enge Verbindung, die das Sehen und Erkennen in der abendländischen Kultur und Philosophie unterhält, um die lange marginalisierte Dimension des Hörens zu erweitern.

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In welcher Weise diese Erwartung tatsächlich in Form dieses gut 700 Seiten umfassenden und von zwei DVDs begleiteten Sammelbandes erfüllt wird, kann nur beurteilt werden, wenn man sich noch einmal auf die jüngere Geschichte wissenschaftlicher Wendungen besinnt. Denn angesichts einer Dynamisierung der Wissenschaften, die sich bei näherem Hinsehen zuweilen als Zunahme ihrer medialen Distributionswege, nicht aber als ein Mehr an Wissen entpuppt, steht jeder proklamierte ›turn‹ – wie die Herausgeberin Petra Maria Meyer eingangs anmerkt – im Verdacht, auch oder vor allem ein »fachpolitischer Schachzug« (S. 14) zu sein, mit dem die Stellung der eigenen Disziplin als Leitwissenschaft behauptet werden soll.

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Welche Entwicklungen gehen also dem ›Acoustic Turn‹ voran? Als bekannt gelten kann der ›linguistic turn‹, der auf eine Anthologie des Philosophen Richard Rorty zurückgeht 1 und gegen Ende der sechziger Jahre eine Entwicklung zusammenfasst, mit der in den Geisteswissenschaften die Sprache und ihre Strukturen zum leitenden Denkmuster avancierten. Zentral steht hier die Überlegung, die Struktur der Signifikanten zu erforschen und zwar nicht nur die Signifikanten der Sprache im engeren Sinne, sondern aller kultureller Systeme, die sich im weiteren Sinne als Text begreifen lassen. Mit dieser Formel wird die Einsicht der analytischen Philosophie und Sprachphilosophie auf den Punkt gebracht, der gemäß die Erkenntnis und Erfahrung nach der Logik der Sprache strukturiert ist und innerhalb der Grenzen der Sprache erfolgt.

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Befördert durch die zunehmende Medienkonvergenz hat sich zu Beginn der Neunzigerjahre eine ikonische Wende, beziehungsweise ein ›pictorial turn‹ vollzogen, mit dem man in den Geisteswissenschaften der zunehmenden Bedeutung visueller Kommunikation und technischer Bilder beizukommen versucht. Mit der ›ikonischen Wende‹ (Boehm) ist die Frage verknüpft, wie Bilder Sinn erzeugen und ob sie über einen der Sprache komplementären Logos verfügen.

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Komplementär zur ikonischen Wende spricht man in den Geistes- und Kulturwissenschaften zur selben Zeit auch von einem ›performative turn‹. Auch für diese Wende bildet die Medien- und Inszenierungsgesellschaft den Hintergrund, um Kultur nicht länger als Text verstehen zu wollen. An die Stelle des Bildes allerdings rückt hier die Idee der Kultur als Handlung, die aufgeführt werden muss. So rücken flüchtige Prozesse, wie sie etwa als Rituale, Zeremonien, Feste, Spiele, Sportwettkämpfe oder politische Versammlungen zu beobachten sind und den Gegenstand ethnologischer und soziologischer Forschung bilden, nun in den Fokus kulturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Analysen.

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Die Kunst- und Medienwissenschaftlerin Meyer zieht aus dieser – hier nur kursorisch wiedergegebenen – Entwicklung die Konsequenz, den bestehenden Wenden keine neue hinzufügen zu wollen, sondern »ins Bewusstsein zu rücken, dass jeder dieser ›turns‹ auch eine akustische Dimension impliziert« (S. 14). Wer also nach der Bedeutung des Sehens und der Bilder frage, könne nur dann zu umfassenden und neuen Erkenntnissen kommen, wenn mit dem Bildbegriff auch die Trennung von Sehen und Hören mitbedacht wird, wie sie etwa grundlegend für die kinematografische Aufnahmetechnik ist. Der Fokus auf den performativen Vollzug von Handlungen wiederum sei ohne die wirkästhetischen Prinzipien musikalischer und klanglicher Natur nur unzureichend zu entfalten, können doch gerade Musik, Klänge und Geräusche in ihrer Eindringlichkeit jene leiblichen Dimensionen der Erfahrung zu denken geben, wie sie als Ästhetik des Performativen entfaltet wurden. Mit dem vorliegenden Band Acoustic Turn deutet sich nun also eine erneute Wende an, diesmal aus kunst- und medienwissenschaftlicher Perspektive, und zugleich geht die Herausgeberin davon aus, dass sich mit den anderen Wendemarken immer bereits ein ›Acoustic Turn‹ vollzogen habe.

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Zweifellos eröffnet Meyer eine Metaebene von der aus das Feld der disziplinären Kämpfe beobachtet wird. Jedoch bleibt der Band trotz dieser theoretischen Rahmung erfreulich nah am Thema des Akustischen. Wollte man den Inhalt grob zusammenfassen, so geht es auf der Ebene der Phänomene im weitesten Sinne um Musik, Klänge und Geräusche in ihrem jeweiligen Bezug zu anderen Medien (Bild, Szene, Schrift). Das Akustische wird dabei primär anhand von Beispielen und Strategien der Avantgarden in den Künsten problematisiert, was wohl auch der langjährigen Tätigkeit der Herausgeberin im WDR ›Studio Akustische Kunst‹ sowie der institutionellen Anbindung an die Muthesius Kunsthochschule in Kiel geschuldet ist. Zugleich steht aus philosophischer Perspektive zur Disposition, wie das Ohr sich seine eigene Welt erschließt – besonders, da es sich nicht gegen seine Umwelt verschließen kann. Letztlich führt der Band (neue) Formate und kulturelle Praxen vor, mit denen akustisches Material angeeignet und transformiert wird und die etwa im Sound-Design, in der Architektur, in den akustischen Verbreitungsmedien (Radio, Tonträger) sowie in audio-visuellen Formaten (Film, Video, Theater) vorzufinden sind.

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In Medias Res

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Der Band ist klar gegliedert. In fünf Abschnitten wird das Spektrum der Erforschung des Akustischen aufgemacht. Der erste Teil widmet sich der begrifflichen Erfassung akustischer Phänomene, wobei ein Schwerpunkt auf phänomenologische und psychoanalytische Denkansätze gelegt wird. Der zweite Teil führt auf das Terrain Stimm- und Sprechkunst in Literatur, Radio und Theater. Der dritte Teil ist vor allen Dingen musikgeschichtlich konzipiert, während im vierten Teil ein Schwerpunkt auf akustische Phänomene in Filmen gelegt wird. Abgerundet wird das Kompendium durch einen Abschnitt zum ›Richtungshören‹, worunter die akustische Dimension der Raumgestaltungen etwa in Klanginstallationen zu verstehen ist. Die dramaturgische Idee dieser Einteilung ist, jeweils von einem spezifischen Medienwechsel auszugehen; vom geschriebenen Text zum gesprochenen Wort, von der Musik zum Bild, vom laufenden Bild sowie vom gebauten Raum hinüber zum Klang und Ton. In dieser Gliederung wird zugleich deutlich, dass der Band in seinem Aufbau einen interdisziplinären Ansatz verfolgt.

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Ein Blick auf ausgesuchte Beiträge soll im Folgenden die Bandbreite und den Gehalt des Kompendiums charakterisieren. In einem Abriss zur Geschichte ›akromatischer Philosophie‹, in welchem die Spuren dieses Denkens bei den Vorsokratikern, Leibniz, Herder, Nietzsche, Bergson und Merleau-Ponty aufgezeigt werden, geht Petra Maria Meyer der besonderen Erkenntnisleistung des Hörsinns nach. Diese bestünde in einer »gesteigerten Wahrnehmungsfähigkeit zeitlicher Veränderungen« (S. 49). Das Auge könne hingegen als besonders geeignet gelten, wenn es darum geht, räumliche Dimensionen, Strukturen und die Wahrnehmung von Dauerhaftem zu erkennen.

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Aus der Perspektive der neuen Phänomenologie setzt sich Hermann Schmitz in seinem Beitrag »Leibliche Kommunikation im Medium des Schalls« mit der leiblichen Erfahrung des Hörens auseinander. Dabei weist er auf die Analogie von Schall und spürbarem Leib hin: beide seien unscharf abgrenzbar. Interessant sind besonders Schmitz’ Ausführungen zu den so genannten Halbdingen, unter denen er Schmerz, Wind, Stimmen oder einen elektrischen Schlag fasst. Halbdinge haben nach Schmitz die Eigenschaft, dass sie unmittelbarer wirken als kausal begründete Einwirkungen auf den Leib. Der Wind widerfahre den Menschen beispielsweise als unmittelbar einwirkende Kraft ohne dass man in der Lage sei, dafür eine Ursache, wie etwa einen Druckunterschied in der Atmosphäre, anzugeben. Eine Folge sei nun, dass Halbdinge »Bewegungssuggestion« etwa in Form einer Gebärde eines gemeinsamen Rhythmus bewirken. Schmitz spricht vom Effekt der »solidarischen Einleibung« (S. 81).

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Die phänomenologische Denkfigur, welche immer von Ausblendungen in der Wahrnehmung ausgeht, wird in Ralf Bohns Beitrag »Tongabe und Bildopfer. Gottesstimmen im Science Fiction Kino« weiter ausgeführt. Bohn untersucht den Entzug von Bild und Ton als jenen Moment, in dem – psychoanalytisch gesprochen – die Struktur des Begehrens hervortritt. Besonders erhellend sind Bohns Ausführungen zum »ursprungslosen Sound« (S. 139), den er etwa im Science Fiction Film ausmacht: Man könne dem Bild des Alls keinen Sound zuordnen. »Wie der Schuss einer Pistole klingt, ist uns heute nur durch den Film bekannt – gleiches gilt für Klingonenschwerter, für die Untermalung von Katastrophen« (S. 137). Umgekehrt gibt es »Geräusche, deren Gegenwärtigung keinerlei Bildreferenz« (S. 138) entspricht. Diese Überlegungen gehen über die semiotische Unterscheidung in diegetische und extradiegetische Verwendung von Musik und Sound im Film weit hinaus. Denn Bohn knüpft seine Überlegungen zur unmöglichen Synchronisierung von Bild und Ton im Science Fiction an die Frage der Subjektkonstitution. ›Ursprungslose Sounds‹ seien eben jene, denen keine Stimme, kein sprachmächtiges Subjekt als Verursacher oder Adressat eindeutig zugeordnet werden könne, was ihnen einen unheimlichen Status verleihe. Auch wenn Schmitz’ Ansatzpunkt des ›eigenleiblichen Spürens‹ dem Vorwurf ausgesetzt ist, erneut einem Leib-Körper Dualismus zu verfallen, 2 so wirft dieser Ansatz wie Meyer und Bohn zeigen, tatsächlich neue Fragen nach einer hörend-vernehmenden Vernunft auf.

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Von wissenshistorischer Bedeutung ist der Beitrag von Florian Dombois über die Sonifikation. Darunter ist analog zur Visualisierung ein Verfahren zu verstehen, mit welchem abstrakte Daten nicht in Grafen sondern eben in Klängen dargestellt werden. Ein Geigerzähler zur Messung von Radioaktivität stellt ein Beispiel der Sonifikation dar. Der Autor weist auf die Bedeutung der Sonifikation im Zusammenhang mit der Notation von Musik hin. So unterscheide man für die Rekonstruktion vergangener Klangerfahrungen die Möglichkeit der Tonaufnahme, die Partitur und die Bewahrung des Originalinstruments, welches ein Klangspektrum zu überliefern vermag. Der Beitrag fügt diesen Notationsverfahren die Sonifikation zu, die vor allem für die Überlieferung elektronischer Musik geeignet sei, resümiert allerdings, dass in den Wissenschaften bislang visuelle Verfahren der Datenaufzeichnung und -ausgabe dominant sind.

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Zahlreiche Beiträge sind den Spuren des Akustischen in der Literatur, im Film, im Radio und in der Medienkunst der Moderne gewidmet und argumentieren daher eher von konkreten Beispielen ausgehend. So zeigt die Germanistin Gertrude Cepl-Kaufmann auf, wie sich die Lautpoesie als Antwort auf die Sprachkrise der Moderne unter anderem bei Arno Holz, Fritz Mauthner, Christian Morgenstern oder August Stramm entwickelte. Dieser Beitrag bereitet den historischen Boden für die Fülle von Beispielen, mit denen Gerhard Rühm sein poetisches Programm der Lautpoesie vorstellt. Weitere Schwerpunkte bilden das Hörspiel sowie das Radio als Produktionsort akustischer Kunst. Erhellend ist in diesem Zusammenhang, dass mit Andreas Wang, einem Redakteur des Norddeutschen Rundfunks, auch die Diskrepanz zwischen dem Radio als Distributionsmedium und dem Radio als Medium der Kunst dargelegt wird. Letzterem ist der längere Beitrag der Herausgeberin gewidmet, mit dem sie das technische Medium auf der Höhe der Kunsttheorie reflektiert. Dabei geht es insbesondere darum, gegen eine technizistische Medientheorie den Körper, die Rauheit der Stimme (Barthes) in Erinnerung zu rufen. Mit Antonin Artaud und Samuel Beckett schlägt sie dabei auch einen Bogen zur experimentellen Dramatik und Theaterarbeit.

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Während die Lautpoesie, die konkrete Musik und die Theater- und Radioarbeit etwa von Ruttmann und Artaud eher zum Kanon der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Klang und Geräusch zählen können, bieten drei bislang unveröffentlichte Texte zum Thema Film und Musik tatsächlich Neues und Ergänzendes. Sergej EisensteinsNotizen zur Geschichte des audiovisuellen Kontrapunkts, dem ein Beitrag des Slawisten Hans-Joachim Schlegel folgt, der dem Schaffen der russischen Filmavantgarde gewidmet ist, ruft die Vorgeschichte jener Synchronisationsleistung der A/V-Montage ins Gedächtnis. Der französische Filmwissenschaftler und Regisseur Michel Chion, der neben zwei Texten auch mit zwei Filmmusiken vertreten ist, die er zusammen mit Robert Cahen realisiert hat und die auf der DVD-Edition präsentiert werden, zeigt einmal mehr anhand zahlreicher Beispiele, wie mittels des Tons die filmische Erzählung in ihrer Zeitlichkeit synchronisiert, beschleunigt oder gedehnt wird. Sehr aufschlussreich sind auch seine Äußerungen zur Lokalisierung des Mikrofons beziehungsweise der Tonquellen im Bild – ein Problem mit dem sich schon Rudolf Arnheim auseinandersetzte.

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Weitere Beiträge verdienten eine ausführlichere Würdigung, was hier in der gebotenen Kürze einer Rezension unterbleiben muss. Es lässt sich immerhin konstatieren, dass sich der Band, je tiefer man in die Lektüre einsteigt, keineswegs darin erschöpft, verschiedene Aspekte der Erforschung des Akustischen nebeneinander zu stellen. Vielmehr lassen sich zahlreiche Querverweise über die Disziplinen und Gattungsgrenzen hinweg verfolgen, und es muss der Herausgeberin hoch angerechnet werden, dass sie den Kapiteln jeweils konzise Einleitungen vorangestellt hat sowie in der Dramaturgie der Einzelbeiträge darum bemüht ist, tatsächlich ein neues Forschungsfeld zu markieren. Diese Passagen sind insbesondere sehr hilfreich, um den Dialog zwischen den einzelnen Wissenschaftskulturen zu gewährleisten, da die Sprache und Begrifflichkeit etwa der Psychopathologie in Rudolf Heinz’ Beitrag »Über Bildersturm, Stimmenhören und weitere Abwegigkeiten« nicht ohne weiteres kompatibel mit den Argumentationsweisen der Kunst- und Medienwissenschaft ist. Und auch die Verästelungen kybernetisch und systemtheoretisch orientierter Reflexionen zum ›inneren Ohr‹ in Sven Lütgens »(Elektronische) Musik und ihre visuellen Entsprechungen. Indizien aus Introspektion, Produktion und Automatentheorie« können nicht zum engeren Fachjargon gezählt werden. Zudem ist die Moderation angezeigt, da der Band auch künstlerische Positionen zu Wort kommen lässt. Hierbei ist insbesondere die aufwändig gestaltete DVD-Kompilation von künstlerisch-praktischen Beiträgen hervorzuheben, auf welcher den künstlerischen Positionen im Text entsprechende visuelle und akustische Beispiele zur Seite gestellt sind.

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Lesefrüchte und neue Fragestellungen durch einen Acoustic Turn

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Einer der zentralen Impulse, die von diesem Band ausgehen, ist sicherlich die Verknüpfung von Medientheorie und Phänomenologie. Dieser Konnex wird zwar in der Einleitung gesetzt, kommt aber in der programmatischen Ausrichtung erst im Beitrag der Herausgeberin, »Sehgewohnheiten durch neue Hörweisen verändern. Intermedialität in Radio, Film und Fernsehen« zur vollen Entfaltung. Meyer stellt hier grundsätzlich die Frage nach der Reflexion von Wahrnehmung und Medialität. Im Hinblick auf das schon als klassisch zu nennende Hörstück »Weekend« von Walter Ruttmann sowie auf die Arbeit »Mirage Kino« von Barry Bermange, den Film »Mulholland Drive« von David Lynch und Mauricio Kagels Fernsehfilm »Antithèse« macht sie die Denkfigur des Medienwechsels fruchtbar. Ausgehend von Luhmanns Medienbegriff, der Unterscheidung von Medium und Form, argumentiert sie, dass im Kern des Acoustic Turn das Medium selbst hör- und sichtbar wird. Es handele sich um »intelligente Wechselspiele«, die inszeniert werden, um »die gewohnten Sehweisen durch andere Hörweisen zu durchbrechen« (S  612). Mit Luhmann geht sie dabei von der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation aus, setzt ihre Anfälligkeit für Störungen signifikant. Während sich ähnliche theoretische Bezüge zu Luhmann und Merleau-Ponty in der Medien- und Systemtheorie etwa bei Georg Christoph Tholen 3 oder Dirk Baecker 4 finden, begnügt sich Meyer allerdings nicht damit, den Künsten die Funktion der Irritation gleichsam zuzuschreiben. Zwar treffe zu, dass die Künste in besonderer Weise mit Störungen, Irritationen und Paradoxien operieren können, jedoch haben sie im Sinne einer leibgebundenen Vernunft dann auch eine besondere erkenntnisstiftende Rolle. Denn mit Merleau-Ponty sei davon auszugehen, dass es vor allen Dingen die Künste seien, welche die jeweiligen »Wahrnehmungs-, Darstellungs- und Inszenierungsweisen mit darzustellen« in der Lage sind. Hier positioniert Meyer ihre Theorie der Intermedialität: »Medienwissenschaft […] lässt sich bezogen auf Intermedialität nicht ohne Kunst- und Kulturwissenschaften betreiben. […] Eine – wie häufig der Fall – die Künste ausblendende Medienwissenschaft – sei sie technizistisch oder systemtheoretisch – ist theoretisch ebenso wenig ausreichend wie eine nur an den Künsten orientierte Medienwissenschaft« (S. 611). Ein Ertrag der Lektüre könnte also ein ›Zurück zu den Dingen‹ sein, also eine Besinnung auf detaillierte Höranalysen vor dem Hintergrund einer diskursiv und theoretisch ausdifferenzierten Kunst- und Medientheorie. Mit diesem Anspruch wären dann auch die künstlerischen Statements und Beispiele zu hören/lesen, die Bestandteil dieses Bandes sind.

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Daran anschließend zeigt der Band eindrücklich, welchen Variantenreichtum das Akustische in den Künsten und den Verbreitungsmedien aufweist. Das ist nicht mit einer Öffnung des Themenfeldes hin zum Sound zu verwechseln, denn dazu sind sämtliche besprochenen Beispiele und Theorieoptionen zu pointiert. Es geht ja gerade nicht darum, alles, was hörbar ist, zum Thema zu machen. Analog zu den Lehren, die sich aus der ›ikonischen Wende‹ ziehen lassen, in welcher man angesichts einer vermeintlichen ›Bilderflut‹ auch darauf insistiert, dass erst eine ›ikonische Differenz‹ vorliegen muss, um tatsächlich sinnvoll nach einem Bildsinn fragen zu können, könnte es sich als kluge Vorgabe erweisen, die akustische Wende an das Moment des Medienwechsels zu knüpfen.

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Die medienwissenschaftliche Denkfigur führt aber nicht nur zu einem interdisziplinären Dialog – hier zwischen Philosophie und Kunstwissenschaften –, sondern auch zu einer gewissen Unschärfe, denn eine Medienkritik ist nicht in gleicher Weise in Sicht wie eine Bildkritik. Medientheorie und -analyse ist in besonderer Weise von Methoden- und Theoriepluralität geprägt, solange nicht klar ist, ob und in welcher Weise sie einen Gegenstand hat oder diesen erst durch Medien hervorbringt. Von einem theoretisch offenen Medienbegriff her gedacht ist daher trotz der klaren Option für Luhmanns Medienbegriff eine Kritik der Bedingungen der Möglichkeit einer hörend-verstehenden Vernunft nicht in gleicher Weise zu formulieren, wie dies für den iconic turn von Boehm vorgelegt wurde. Erste Schritte in diese Richtung und ein wertvolles Kompendium für zukünftige Forschungen liegen nun vor. Acoustic Turn könnte durchaus das Potential eines Referenzbandes erlangen.

 
 

Anmerkungen

Richard Rorty: The linguistic turn. Essays in philosophical method. Chicago: Chicago University Press 2002 (1967).   zurück
Vgl. Karl Mertens: »Die Leiblichkeit des Handelns« In: Friedrich Jaeger / Jürgen Straub (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 2004. Bd. 2. S. 327–340, hier S. 333.   zurück
Vgl. Georg Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S.  61 ff.   zurück
Dirk Baecker: »Possen im Netz« In: Christopher Balme et al. (Hg.): Netzkulturen. München: Epodium 2010, S. 19–29.    zurück