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Grundlegendes zur Frühgeschichte des deutschsprachigen Buchdrucks

  • Akihiko Fujii: Günther Zainers druckersprachliche Leistung. Untersuchungen zur Augsburger Druckersprache im 15. Jahrhundert. (Studia Augustana 15) Tübingen: Max Niemeyer 2007. 248 S. Gebunden. EUR (D) 58,00.
    ISBN: 978-3-484-16515-1.
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Forschungskontext, Methode, Gliederung

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Die sprachwissenschaftliche Erforschung des Frühneuhochdeutschen, jener Übergangsepoche, die von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis zur Mitte oder auch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts angesetzt wird, hat seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts große Fortschritte gemacht. 1 Dennoch ist die Frage nach der Rolle, die der Buchdruck bei der Herausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache gespielt hat, noch keineswegs abschließend beantwortet. Unstrittig ist nur, dass die um die Mitte des 15. Jahrhunderts erfolgte Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern als eine in ihrer Wirkung kaum zu überschätzende, der Reichweite nach allenfalls mit der heutigen Computerisierung vergleichbare mediale Revolution angesehen werden muss. Mit seiner äußerst materialreichen und gehaltvollen Studie leistet Akihiko Fujii hier dringend benötigte Grundlagenarbeit. Im Mittelpunkt seines Interesses steht die Geschichte der Orthographie. Die Ergebnisse seiner auf umfangreichen, minutiös durchgeführten Textanalysen basierenden Studie erweitern nicht nur unsere Kenntnis des deutschsprachigen Buchdrucks in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts beträchtlich, sondern sie zwingen uns auch zu einer kritischen Neubewertung von Forschungsresultaten, die bisher als gesichert galten.

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Mängel der bisherigen Forschung und ihre Überwindung

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Drei hauptsächliche Mängel lastet Fujii der bisherigen Forschung zum frühen deutschsprachigen Buchdruck an: 1. ein zu heterogenes Ausgangsmaterial (»Keine der vorliegenden Untersuchungen hat sich auf eine einzige Offizin beschränkt«), 2. einen zu lockeren Umgang mit dem Zeitfaktor (»In keiner sprachlichen Analyse sind die Werke einer Offizin in konsequenter chronologischer Folge untersucht worden«), 3. mangelndes Verständnis der Verfahren, die bei der Herstellung gedruckter Bücher in der Inkunabelzeit (ca. 1450–1500) angewandt wurden (»Bei keiner Analyse ist der Aspekt des Setzerwechsels zwischen und in den Lagen berücksichtigt worden«; sämtliche Zitate S. 1). Der zuletzt genannte Punkt ist dabei besonders gravierend, denn er gibt laut Fujii Veranlassung, »nicht nur alle bislang vorgelegten sprachhistorischen Beobachtungen zu überprüfen, sondern auch die bisherigen Exzerptionsmethoden auf eine neue Grundlage zu stellen« (ebd.).

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In der Tat hat es die germanistische Sprachwissenschaft bisher weitgehend versäumt, wichtige Erkenntnisse der außerlinguistischen buchkundlichen Forschung zur Kenntnis zu nehmen. In der Frühzeit des Buchdrucks gab es drei unterschiedliche Verfahren der Satztechnik: 1. Satz und Druck in linearer Abfolge (Seite für Seite); 2. Druck ›in Formen‹, das heißt bogenweise von außen nach innen, jedoch unter Beibehaltung der linearen Abfolge beim Satz; 3. Satz und Druck ›in Formen‹. Weil der Satz bereits gedruckter Teile eines Buches noch während des Herstellungsprozesses wieder aufgelöst und die Typen erneut verwendet werden konnten, ermöglichte das zweite und insbesondere das dritte Verfahren eine kostensparende Reduzierung des erforderlichen Typenmaterials. 2 Alle drei Verfahren erforderten bei der Herstellung umfangreicher Werke die Beteiligung mehrerer Setzer, um die Arbeit zu beschleunigen. Der Wechsel von einem Setzer zum anderen erfolgte in der Regel an den Grenzen der einzelnen ›Lagen‹, der aus mehreren ineinander gelegten Doppelblättern bestehenden und mit Fäden fixierten Hefte, die vom Buchbinder zum fertigen Band vereinigt werden. Als erster Sprachwissenschaftler zieht Fujii bei seinen linguistischen Untersuchungen die Konsequenzen aus diesen buchtechnischen Gegebenheiten. Seine Methode, die er bereits1996 in einem Aufsatz vorstellte, 3 wird in seinem Buch erstmals auf ein umfangreiches Textkorpus angewendet. Als Exzerptionsgrundlage dienen dabei nicht, wie bisher allgemein üblich, mehr oder weniger willkürlich herausgegriffene Textpassagen vom Anfang, aus der Mitte oder vom Ende größerer Werke. Vielmehr wählt Fujii die Anfangsseiten der einzelnen Lagen aus, um anhand ihres Sprachstandes mögliche Setzerwechsel zwischen den Lagen feststellen zu können. Zur Kontrolle wird anschließend die letzte Seite jeder Lage untersucht, um auch Setzerwechsel erfassen zu können, die innerhalb einer Lage erfolgt sind.

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Druckort und Druckwerkstatt

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Der Gegenstand von Fujiis Untersuchungen ist die Druckersprache der Stadt Augsburg, repräsentiert durch Drucke aus der Offizin Günther Zainers. Die Wahl des Druckortes ist ebenso gut begründet wie die des Druckers. Bereits von zeitgenössischen Autoren wurde das in Augsburg gedruckte Hochdeutsch als besonders qualitätvoll gerühmt, eine Beurteilung, der sich die germanistische Forschung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert im Wesentlichen angeschlossen hat. Augsburg erfreute sich bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts einer führenden Stellung als Produktionsort deutschsprachiger, das heißt nicht lateinischer Drucke. 4 Günther Zainer wiederum war mit seinem Gebetbüchlein von 1471 unter den Augsburger Druckern deutscher Inkunabeln nicht nur der erste, sondern er stellte auch mit einer ganzen Reihe von Erstdrucken bedeutender Werke das, wie Fujii es ausdrückt, »Schwergewicht« (S. 13) dar. Fujiis ursprüngliche Absicht war es, den Sprachgebrauch mehrerer Augsburger Druckwerkstätten miteinander zu vergleichen. Das äußerst aufwendige linguistische Analyseverfahren, das er anwendet und das im Folgenden näher zu charakterisieren sein wird, erwies sich jedoch als so zeitaufwendig, dass dieser Plan zurückgestellt werden musste. Ein zweiter Teil der Untersuchungen ist jedoch für die Zukunft angekündigt (vgl. S. 22). Aber auch jetzt schon werden Vergleiche vorgenommen, insbesondere mit in Augsburg entstandenen, den untersuchten Drucken zeitlich nahe stehenden Handschriften. Ihnen ist in Fujiis Darstellung ein eigenes Kapitel gewidmet (S. 121–144). Eine Reihe nicht in Augsburg entstandener Texte wird ebenfalls zu Vergleichszwecken herangezogen (vgl. S. 225–230 im Anhang).

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Untersuchte Sprachphänomene

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Die sprachwissenschaftlichen Forschung ist sich weitgehend darin einig, dass die neuhochdeutsche Schriftsprache und die sich an der Schriftsprache orientierende gesprochene Standardsprache durch einen Selektionsprozess entstanden ist, der sich über mehrere Jahrhunderte hinzog und an dem hauptsächlich das ostmitteldeutsche und ostoberdeutsche Gebiet, in geringerem Maße aber auch andere Sprachregionen Anteil hatten. Aus einer ursprünglichen Vielfalt von Schreib- und Lautformen wurden im Laufe dieses Prozesses diejenigen Sprachformen ausgewählt, die das heutige Deutsch ausmachen. Fujii hebt aus den grammatischen Teilgebieten Graphematik und Morphologie zehn Einzelphänomene heraus, die geeignet erscheinen, die Zainersche Offizin sprachlich zu charakterisieren. Es handelt sich um Phänomene, die »in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Augsburg, in Ostschwaben und in ganz Schwaben noch (sehr) im Schwanken waren« (S. 17). Die dynamischen Selektionsprozesse, die zur späteren neuhochdeutschen Schriftsprache geführt haben, lassen sich anhand solcher Schwankungen besonders gut verfolgen. Folgende Phänomene wurden ausgewählt: (1) die frühneuhochdeutsche Diphthongierung der mittelhochdeutschen (= mhd.) Langvokale /ī/, /ū/, /ǖ/ sowie des althochdeutschen Diphthongs /iu/; (2) die frühneuhochdeutsche Öffnung der mhd. Diphthonge /ei/, /öu/, /eu/ und /ou/; (3) die Verhärtung von mhd. /b/ im Anlaut; (4) der Stammsilbenvokalismus in den Präsensformen der Verben ›gehen‹ und ›stehen‹ (mhd. gân, stân bzw. gên,stên usw.); (5) die Suffixkombination ›‑igkeit‹ (< mhd. ‑ic‑heit) mit oder ohne g; (6) kontrahierte Formen in den Flexionsformen von ›haben‹ (mhd. hân usw.); (7) die schwäbische Diphthongierung von mhd. /ā/ zu /au/; (8) die Graphie k in medialer und finaler Position mit oder ohne Begleitung eines vorangehenden c; (9) die Verdoppelung des Buchstabens n in der Konjunktion ›und‹; (10) die Graphie v für mittelhochdeutsch /f/ vor /l/.

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Die getroffene Auswahl ist wohlüberlegt. Die beiden an erster Stelle genannten Phänomene, die den Zusammenfall bzw. Nichtzusammenfall der sogenannten ›alten‹ und ›neuen‹ Diphthonge betreffen, haben seit jeher in der Diskussion um die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache eine dominierende Rolle gespielt. Auch in Fujiis Darstellung nehmen sie den weitaus größten Raum ein. Notwendige Differenzierungen werden dabei durchgehend beachtet. So werden unter Punkt 1 die hochfrequenten Pronomina ›mein‹, ›dein‹, ›sein‹, die häufig abweichende Graphien zeigen, von den sonstigen Diphthongierungsfällen getrennt. Das Gleiche gilt unter Punkt 2 für die Artikelwörter ›ein‹ und ›kein‹ sowie für die Suffixe ›‑heit‹ und ›‑keit‹, die ebenfalls Sonderfälle darstellen. Die unter Punkt 3 bis 10 genannten Phänomene dienen, schon aus Gründen der geringeren Häufigkeit ihres Vorkommens, eher zur Abrundung der Befunde. Dass sie eigentlich ganz verschiedenen grammatischen Ebenen angehören, wird allerdings nur am Rande thematisiert. Während bei der schwäbischen Diphthongierung (Punkt 7) und der Verhärtung von /b/ im Anlaut (Punkt 3) der phonologische, bei gân/gên (Punkt 4) und hân (Punkt 6) der lexikalisch‑flexionsmorphologische Bezug dominiert, gehören die übrigen Erscheinungen, nämlich ‑i(g)keit, ‑(c)k(‑), ‑nn‑ in ›und‹ sowie vl‑ (Punkte 5, 8, 9 und 10) primär der ›graphotaktischen‹ Sphäre, also der reinen Schreibebene an. Der Aussagekraft von Fujiis Ergebnissen tut dies jedoch keinen Abbruch, denn seine Auswertungen basieren grundsätzlich auf den in den Texten vorkommenden Graphien. Dass diese wiederum primär auf die ihnen zugrunde liegenden mittelhochdeutschen Phoneme bezogen werden, ist sehr zu begrüßen, denn durch das Festhalten an der traditionellen ›phonembezogenen‹ Methode der Graphematik bleibt die Vergleichbarkeit von Fujiis Studie mit der großen Menge bisher bereits vorliegender korpusgestützter Untersuchungen zum Frühneuhochdeutschen gewährleistet.

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Untersuchungsmethode

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Das Arbeitspensum, das sich Fujii aufgeladen hat, ist immens. Er selbst sagt dazu Folgendes: »Da sich unsere Methode, von mhd. Phonemen auszugehen und die Graphe als Reflexe der Phoneme anzusehen [...], für ein computergestütztes Verfahren nicht eignet, haben wir die Belege ›manuell‹ gesammelt und zusammengerechnet.« (S. 22) Angesichts von insgesamt 18 vollständig oder in erheblichen Teilen ausgewerteten Drucken Günther Zainers, acht Augsburger Handschriften sowie je einem Straßburger, Nürnberger und Ulmer Druck und einem Autograph des Übersetzers Heinrich Steinhöwel bedeutete das eine Exzerptions- und Zählarbeit, die Bewunderung verdient. Bei der statistischen Aufarbeitung der großen Belegmengen, die in den einzelnen Kapiteln der Untersuchung tabellarisch aufgelistet werden, verzichtet Fujii erfreulicherweise auf die Vortäuschung ›mathematischer‹ Exaktheit. Drei Zainerdrucke (Gebetbüchlein, Apollonius und Griseldis) wurden vollständig ausgewertet. Hier arbeitet Fujii mit Prozentzahlen, bei den übrigen, in Auszügen exzerpierten Texten beschränkt er sich auf die Angabe absoluter Belegzahlen. Zur Angabe der relativen Beleghäufigkeit verwendet Fujii – nach dem Vorbild Hugo Stopps, Elvira Glasers und anderer – den Begriff der »Leitgraphie« (S. 22). 5 Als Leitgraphie gilt bei ihm eine Schreibung, die mehr als doppelt so häufig vorkommt wie die nächsthäufige. Bei geringerem zahlenmäßigem Abstand können auch mehrere Schreibungen als Leitgraphien angesetzt werden.

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Textkorpora

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Das Kernkorpus der untersuchten Zainerdrucke umfasst folgende Texte: (1) Gebetbüchlein, 1471; 6 (2) Apollonius von Tyrus, deutsch von Heinrich Steinhöwel, 1471; 7 (3) Francesco Petrarca, Griseldis, deutsch von Heinrich Steinhöwel, 1471; 8 (4) Der Heiligen Leben, Sommerteil, 1472; 9 (5) Jacobus de Theramo, Belial, 1472; 10 (6) Meister Ingold, Das goldene Spiel, 1472; 11 (7) Albrecht von Eyb, Ehebüchlein, 1472/73; 12 (8) Plenarium. Evangelien und Episteln, 1474; 13 (9) Deutsche Bibel, 1475/76; 14 (10) Rodericus Zamorensis, Spiegel menschlichen Lebens, deutsch von Heinrich Steinhöwel, 1475/76; 15 (11) Schwabenspiegel. Spiegel kaiserlicher und gemeiner Landrechte, 1475/76; 16 (12) Deutsche Bibel, 1477; 17 (13) Jacobus de Cessolis, Schachzabelbuch, 1577; 18 (14) Ludolf von Sudheim, Weg zum heiligen Grab, 1477; 19 (15) Barlaam und Josaphat, zwischen 1475 und 1478; 20 (16) Spiegel des Sünders, zwischen 1475 und 1478; 21 (17) Esopus, Leben und Fabeln, deutsch von Heinrich Steinhöwel, um 1477/78; 22 (18) Ortolf von Baierland, Arzneibuch, um 1477/78. 23

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Das Vergleichskorpus, bestehend aus Handschriften, die im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts von Augsburger Schreibern geschrieben wurden, umfasst folgende Texte: (1) Jacobus de Theramo, Belial, 1454, Schreiber Georg Mülich; 24 (2) Johann Hartlieb, Alexander, 1455, Schreiber Georg und Hector Mülich; 25 (3) Johannes Nider, Die vierundzwanzig goldenen Harfen, 1460, Schreiber Johannes Layder; 26 (4) Der Heiligen Leben, Sommerteil, 1461, Schreiber Johannes Scheiffelin; 27 (5) Francesco Petrarca, Griseldis, deutsch von Heinrich Steinhöwel, 1468, Schreiber Konrad Bollstatter; 28 (6) Konrad von Megenberg, Buch der Natur, 1474, Schreiber Konrad Bollstatter; 29 (7) Der Heiligen Leben, Sommerteil, undatiert (bis 1470), Schreiberin Klara Hätzler; 30 (8) Schwabenspiegel, undatiert (bis 1472), Schreiberin Klara Hätzler. 31

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Nicht aus Augsburg stammende, ebenfalls zum Vergleich herangezogene Texte sind: (1) Deutsche Bibel, Druck Straßburg bei Johann Mentelin, 1466; 32 (2) Albrecht von Eyb, Ehebüchlein, Druck Nürnberg bei Anton Koberger, 1472; 33 (3) Francesco Petrarca, Griseldis, deutsch von Heinrich Steinhöwel, Druck Ulm bei Johann Zainer, 1474 34 ; (4) Rodericus Zamorensis, Speculum humanae vitae, deutsch von Heinrich Steinhöwel, undatiert, Autograph des Übersetzers. 35

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Gliederung

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Fujiis Arbeit ist folgendermaßen gegliedert: Im Anschluss an das Einleitungskapitel werden in Kapitel II die von Fujii sämtlich im Original benutzten 18 Zainerdrucke einzeln und in chronologischer Reihenfolge untersucht. Eine Zusammenfassung der Analyseergebnisse bildet den Abschluss des Kapitels. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Frage des Setzerwechsels. Kapitel III beschäftigt sich mit der zeitgenössischen Augsburger Schreibsprache, um – zumindest für die Zainersche Offizin –»innovatorische oder traditionelle Seiten der Augsburger Frühdrucker« (S. 23) erfassen zu können. Der dadurch möglich werdende Vergleich zwischen dem sprachlichen Duktus der Zainerdrucke und demjenigen der Augsburger Handschriften ist das Thema von Kapitel IV. Im abschließenden Kapitel V wird »die druckersprachliche Leistung Günther Zainers« (S. 167) zusammenfassend gewürdigt. Abgerundet wird Fujiis Buch durch den bereits erwähnten Anhang, der auch Abbildungen des Drucktypeninventars der Zainerschen ›Type 2‹ und einiger Textpassagen aus den Originaldrucken enthält. Hinzu kommen die üblichen Verzeichnisse und Register.

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Wissenschaftlicher Ertrag

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Der Ertrag von Fujiis exzellenter Studie ist ein mehrfacher: Zum einen werden die bisher gängigen Methoden der linguistischen Auswertung von Textkorpora nicht nur einer grundlegenden Kritik unterzogen, sondern es wird ihnen ein tragfähiges Alternativmodell gegenübergestellt. Zum anderen leistet die Untersuchung einen bedeutsamen Beitrag zur Arbeitsweise und sogar zur Identifizierung einzelner Setzer. Vor allem aber erweitert sie die Kenntnis der gedruckten wie der geschriebenen Sprache des Druckzentrums Augsburg in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts beträchtlich und liefert damit einen wichtigen Baustein zur Erforschung des Frühneuhochdeutschen und zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache.

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Die Bedeutung der Setzerwechsel

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Welche Bedeutung die Einbeziehung des Gesichtspunkts möglicher Setzerwechsel für die linguistische Analyse umfangreicherer Druckwerke hat, sei an zwei Beispielen aus Fujiis Arbeit demonstriert. Obwohl es sich um vergleichsweise einfache Beispiele handelt, können sie bereits einen ersten Eindruck von der Komplexität der Materie vermitteln, mit der Fujii sich in seinem Buch auseinander setzt. Der früheste Zainerdruck, das Gebetbüchlein von 1471, weist einen relativ einheitlichen Graphiengebrauch auf. Für die Langvokale mhd. /ī/, /ū/, /ǖ/ und den Diphthong mhd. /iu/ stehen die Leitgraphien ei, au, eu und eu, für die ›alten‹ Diphthonge mhd. /ei/ und /ou/ die Leitgraphien ai und au; hinzu kommen seltenere Graphievarianten, beispielsweise neben ei auch ey. Sprachliche Unterschiede zwischen den einzelnen Lagen sind nicht festzustellen, so dass nichts auf mögliche Setzerwechsel hindeutet. Allerdings räumt Fujii ein, dass ein relativ homogener Sprachstand nicht unbedingt heißen muss, dass nur ein einziger Setzer am Werk war, da auch »an die Durchführung einer Kontrolle nach der geteilten Setzarbeit« (S. 114) gedacht werden kann. Wir stoßen damit auf Figur eines Korrektors, der hier tätig geworden sein könnte, aber leider nicht näher zu erfassen ist. Den meisten Zainerdrucken scheint es allerdings an einer durchgreifenden Korrektur gemangelt zu haben, so bereits dem ebenfalls 1471 erschienenen Apollonius. Sein graphisches Erscheinungsbild ist weit komplizierter und variantenreicher. In der ersten und in der letzten Lage des Druckes (Lagen a und d) werden die Reflexe von mhd. /ī/, /ū/ /ǖ/ und /iu/ durch die Leitgraphien ei/i bzw. ei, v/u, ú und ú repräsentiert, während in den beiden mittleren Lagen (Lagen b und c) für die gleichen mhd. Phoneme die Leitgraphien ei bzw. ei/i/ey, u, ú/eu bzw. eu und eu bzw. eu/ú erscheinen. Unter Hinzunahme weiterer Schreibungen, zum Beispiel der Leitgraphien o/ou bzw. ou/o in Lage a und d, aber nur o in Lage b und c, jeweils für mhd. /ou/, kommt Fujii zu dem Ergebnis, dass im Apollonius zwei Setzer am Werk waren, von denen der eine die beiden äußeren, der andere die beiden inneren Lagen gesetzt hat. Alle von Fujii auf diese Weise für die einzelnen Drucke ermittelten Setzerwechsel werden in einer schematischen Übersicht (S. 114 f.) zusammengefasst. Als Resümee ergibt sich: Die Setzerwechsel erfolgen grundsätzlich lagenweise. Beteiligt sind meistens zwei, ausnahmsweise möglicherweise drei Setzer. Die Setzer arbeiten grundsätzlich linear nacheinander und nicht parallel nebeneinander. Die Anteile der einzelnen Setzer an einem Druckwerk können mehr oder weniger ausgewogen sein, manchmal übernimmt ein zweiter Setzer aber auch nur kleinere Teile. Dagegen, dass mehrere Setzer parallel nebeneinander arbeiteten, spricht die Tatsache, dass an den Lagenwechseln kaum Unregelmäßigkeiten wie Leerzeilen oder gar leere Blätter auftreten; in der Regel schließt der Text bruchlos an.

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Für die sprachwissenschaftliche Analyse ergibt sich aus diesem Befund, dass zumindest Inkunabeldrucke nur dann adäquat beschrieben werden können, wenn wirklich ›repräsentative‹ Textpartien exzerpiert werden. Das bisher allgemein übliche Verfahren, Textpassagen mehr oder weniger beliebig herauszugreifen, kann nur zu einem verzerrten Bild von ihrem tatsächlichen Sprachstand führen. Würde man beispielsweise im Apollonius lediglich den Anfang des Drucks untersuchen, käme man aufgrund der Leitgraphie ú, die in Lage a mhd. /ǖ/ repräsentiert, zu dem Schluss, in diesem Druck sei die Diphthongierung des vorderen gerundeten Langvokals noch nicht durchgeführt. Nimmt man jedoch Textstücke aus Lage b oder c hinzu, wird man sogleich eines Besseren belehrt.

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Fujiis Methode erlaubt nicht nur die Feststellung von Setzerwechseln an der Lagengrenze, sichtbar werden auch die viel selteneren Setzerwechsel im Lageninneren. Sie treten vor allem beim Satz ›in Formen‹ auf. Darüber hinaus können Schwankungen innerhalb von Partien festgestellt werden, die höchstwahrscheinlich von ein und derselben Person gesetzt wurden. Solche Schwankungen gibt es bisweilen am Beginn der Setzarbeit, wohl weil sich der Setzer erst mit einem neuen Text vertraut machen musste, häufiger erscheinen sie jedoch gegen Ende des Satzes, wenn der Setzer unter besonderem Zeitdruck stand. Bestimmte Setzer zeigen sprachliche Eigentümlichkeiten, die in mehreren Druckwerken wiederkehren, so dass sich bis zu einem gewissen Grade sogar einzelne Setzerpersönlichkeiten herausschälen lassen. Aufschlussreich hierfür ist unter Anderem die Verwendung der Interpunktionszeichen, die Fujii ergänzend zum Graphiengebrauch heranzieht.

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Grenzen der Methode

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Bei allen positiven Erkenntnissen, die seine Exzerptionsmethode ermöglicht, ist sich Fujii jedoch auch der Tatsache bewusst, dass ihre Reichweite beschränkt ist. Erwähnt wurde bereits der kaum greifbare Einfluss, den Korrektoren ausgeübt haben könnten. Probleme ergeben sich auch, wenn verschiedene Exemplare einer Druckausgabe in Einzelheiten voneinander abweichen, was in der Inkunabelzeit gar nicht so selten vorkommt. Beispielsweise wurden für Zainers Monumentaldruck der Deutschen Bibel aus dem Jahre 1475/76, einen »der umfangreichsten Drucke des 15. Jahrhunderts überhaupt« (S. 59), bei 30 bekannten Exemplaren bis zu fünf verschiedene Lesarten ein und derselben Textstelle festgestellt. 36 Fujii kommentiert diesen Befund, der für die Validität seines auf größtmögliche Repräsentativität abzielenden Exzerptionsverfahrens in der Tat bedenklich erscheinen könnte, zunächst als »beinahe bestürzend«, um gleich darauf jedoch Entwarnung zu geben, denn aufgrund von Stichproben scheinen sich solche Abweichungen innerhalb der gleichen Auflage auf Kleinigkeiten zu beschränken (mit gift gegenüber mit gifft, gekürztes Ab’ gegenüber der vollen Form Aber usw.; S. 60). Fujii beobachtet in der Deutschen Bibel von 1475/76 einerseits Schwankungen bei den Graphien für mhd. /ī/, /iu/ und /ei/, andererseits aber auch bestimmte »Konvergenzen« (S. 61), zum Beispiel eine einheitliche Leitgraphie au für mhd. /ou/ und mhd. /ū/. Unter Berücksichtigung weiterer sprachlicher Phänomene, etwa des Lexems ›Priester‹, dessen Anlaut teils als p, teils als b erscheint, hält er zwar die Scheidung verschiedener Setzerhände für ansatzweise möglich, doch muss er letztlich resigniert feststellen, bei der Deutschen Bibel »unleugbar an die Grenzen unserer exzerpierenden Methode« (S. 68) gestoßen zu sein.

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Wie viele Setzer insgesamt in Günther Zainers Offizin mit dem Satz deutscher Drucke beschäftigt waren, wagt Fujii zwar nicht zu bestimmen, doch kann er feststellen, dass »in den Werken Der heiligen Leben (Sommerteil), Belial, Das goldene Spiel, Ehebüchlein und Plenarium dieselben beiden Setzer [...] an der Arbeit waren« (S. 116). In der Deutschen Bibel undim Belial lassen sich keine eindeutigen Zuordnungen treffen, aber im Spiegel des Sünders und im Esopus tauchen die gleichen Setzer, die bereits im Plenarium wirkten, wieder auf (vgl. S. 117).

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Zainers »druckersprachliche Leistung«

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Die sprachlichen Analysen der einzelnen Zainerdrucke, die Fujii vorlegt, bieten eine Fülle an interessanten Beobachtungen, die weit über den Aspekt des Setzerwechsels hinausgehen. Auffällig ist, dass Fujii, der den Eigenheiten der verschiedenen Setzer auf so überzeugende Weise nachspürt und damit den Anteil dieser uns ansonsten leider unbekannten Persönlichkeiten an den einzelnen Drucken betont, im Schlusskapitel seines Buches dazu neigt, vielleicht etwas zu stark personalisierend von der »druckersprachliche[n] Leistung Günther Zainers« (S. 167) zu sprechen. Da man letztlich nicht wissen kann, inwieweit sich Zainer persönlich um die sprachliche Gestaltung der in seiner Werkstatt gedruckten Werke kümmerte, wäre es vielleicht angemessener gewesen, von der druckersprachlichen Leistung seiner Offizin zu reden. Ist es wirklich sinnvoll zu fragen, »nach welchem sprachlichen Modell sich Zainer bei der Herstellung seines ersten deutschen Buches richtete«, und hat Zainer tatsächlich »die sprachliche Konvention in Reutlingen, seiner Vaterstadt, oder in Straßburg, wo er den Buchdruck erlernte« (S. 168) verworfen? War er es selbst, der in den Fällen, wo der Augsburger Schreibusus zwischen der schwäbischen und der bairischen Realisierungsweise schwankte, »im Prinzip der ersteren den Vorzug gegeben« (S. 169) hat? Man wird hier, und so hat es Fujii sicherlich auch gemeint, den Namen »Zainer« als Kurzbezeichnung für die ganze Offizin oder präziser für diejenigen Personen, die in der Offizin für die sprachliche Gestaltung der Drucke zuständig waren, verstehen müssen.

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Phonembezogene und ästhetische Motive

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Den Gang der sprachlichen Entwicklung der Offizin charakterisiert Fujii durch die Zwischentitel seines Schlusskapitels. Bei den ersten drei Drucken aus dem Jahre 1471 lag Zainers Kunst noch in »der Wiege«, was sich durch sprachliche »Lokalgebundenheit« (S. 169) im Gebetbüchlein und durch starken Einfluss der von dem Ulmer Übersetzer Steinhöwel stammenden Druckvorlage in Apollonius und Griseldis manifestierte. Der »erste Schritt« (S. 171) in Richtung auf eine eigenständigere sprachliche Gestaltung wird in den Jahren 1472/73 mit den Drucken Der Heiligen Leben (Sommerteil), Belial, Das goldene Spiel und Ehebüchlein getan. In diesen Werken wird die traditionelle Unterscheidung von mhd. /ei/ und mhd. /ī/ als als ai, ay gegenüber ei, ey aufgegeben, beide Phoneme fallen in der Schreibung ei, ey zusammen. Die Ursachen für diesen Zusammenfall sieht Fujii insbesondere »im sprachsystematischen Bereich«, das heißt in der »Isoliertheit von ai (ay) im Graphiensystem« (S. 174). Als Muster konnten hier Nürnberger, aber auch Straßburger Drucke dienen. Für Fujii ist dieser graphische Zusammenfall Ausdruck einer generelleren Tendenz: Zainers wichtigstes Anliegen sei es gewesen, »unterschiedlichen graphischen Erscheinungsformen möglichst Konvergenz zu verschaffen.« (S. 175) In Bezug auf die graphischen Reflexe von mhd. /ou/ und mhd. /ū/, die in den Zainerdrucken dieser Periode noch als ou bzw. au, aw auseinander gehalten werden, wird dieser Zusammenfall, und zwar in au, aw, allerdings erst 1474 im Plenarium erreicht. Mit diesem Werk wird laut Fujii der »zweite und der dritte Schritt« (S. 178) getan; neben fortschreitender Konvergenz der Graphien sei hier eine »Verstärkung des ästhetischen Moments« (S. 179) festzustellen. Beim Setzvorgang werden die Buchstaben fortan »nicht als einzelne, sondern in einem Wortumriß« (S. 180) gesehen. »Vertikales Gleichgewicht der Form ‑igkeit« (S. 180) mit eingeschobenem g und »Horizontale Ausgewogenheit des Wortumrisses vnnd« (S. 181) mit eingeschobenem n sind die beiden Beispiele, an denen Fujii den Einfluss ästhetischer Gesichtspunkte demonstriert. Da im Oberdeutschen die Form ‑ikeit »wohl der phonetischen Realisation in der Sprechsprache am nächsten kommt« (S. 180), 37 ist nach Gründen für den Einschub des g zu fragen. Fujii vermutet, dass es hier weniger um ein historisch-morphologisches Schreibungsprinzip, also die Betonung der Wortbildungsstruktur des zweigliedrigen Suffixes geht, sondern dass die Ästhetik der Zainerschen Drucktype 2, einer Gotico-Antiqua, die im Plenarium erstmals zum Einsatz kommt, mit ihren markanten Ober‑ und Unterlängen von Einfluss war. »Der Einschub der Type ›g‹ direkt vor den Buchstaben mit auffälliger Oberlänge ›k‹ in ›-igkeit‹ hatte also wohl auch die ästhetische Funktion, optisch ein vertikales Gleichgewicht von Ober‑ und Unterlänge« herzustellen (S. 180). Dagegen soll die Form vnnd durch die Hinzufügung der beiden Grundstriche des zweiten n »an horizontaler Ausgewogenheit« (S. 182) gewonnen haben. Sicherlich ist in einer sprachwissenschaftlichen Arbeit, die sich mit der Arbeitsweise einer frühen Druckwerkstatt beschäftigt, die Einbeziehung ästhetischer Gesichtspunkte durchaus legitim. Es ist aber doch zu fragen, ob die hier angesprochenen graphotaktischen Phänomene auf so isolierte Weise, nämlich anhand zweier herausgegriffener Einzelbeispiele, wirklich angemessen erfasst werden können. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass der Einschub oder die Verdoppelung von Konsonanten durch ein Bündel verschiedener, von Fujii teilweise auch angesprochener Faktoren mitbedingt ist. Solche Faktoren sind unter Anderem die ›Vergewichtung‹ von Kleinwörtern, das morphologische Schreibprinzip und vor allem das Problem des Zeilenausgleichs, das für die Drucker zur Erzielung eines sauberen Blocksatzes besonders wichtig war. 38

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Zainers große Bibel und das ›Gemeine Deutsch‹

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»Ein Monument« (S. 182) unter den Zainerschen Drucken ist zweifellos die Deutsche Bibel von 1475/76. Sie war der erste illustrierte Bibeldruck überhaupt und erschien im eindrucksvollen Großfolio-Format (ca. 45 x 30 cm). Fujii vermutet, Zainer habe sich »in diesem Buch, das allein schon visuell Überzeugungskraft ausstrahlt, auch um das Erscheinungsbild der Wortkörper« (S. 184 f.) gekümmert. Ein Indiz hierfür ist ihm, neben der besonders häufigen Verwendung von vnnd sowie ‑igkeit bzw. ‑igkeyt, die starke Neigung zur Einfügung eines historisch nicht berechtigten c vor k in Wörtern wie bedencken. »Mit dem Einschub des einstufigen c vor k wird der obere Raum vor k frei gehalten, so daß der Buchstabe mit Oberlänge besser erkennbar wird.« (S. 185) Zur Beliebtheit der Kombination von c und k beigetragen habe wohl auch »der Kontrast zwischen dem runden Element des c und den Strich-Elementen in k im unteren Raum« (S. 185). Ob die Bevorzugung von ck gegenüber k aber wirklich etwas mit dem repräsentativen Charakter von Zainers monumentaler Bibelausgabe zu tun hat, bleibt doch fraglich, denn die Graphie wurde, worauf Fujii selber hinweist, auch im Spiegel menschlichen Lebens, und zwar im Gegensatz zu Steinhöwels Autograph, systematisch durchgeführt. Sie findet sich darüber hinaus auch in ganz gewöhnlichen Augsburger Handschriften, so etwa durchgehend bei der Schreiberin Klara Hätzler.

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Besonders überzeugend sind dagegen die Ausführungen Fujiis zur Schlussschrift von Zainers großer Bibel mit dem ersten gedruckten Beleg für den Begriff des ›Gemeinen Deutsch‹, der in der germanistischen Forschung seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts immer wieder diskutiert wurde: [...] die Bibel fúr ander vorgedrucket teútsch biblen · lauterer · klảrer · vnnd warer · nach rechter gemeinen teútsch dań vorgedrucket [...]. Die Frage ist, was mit diesem Begriff gemeint ist: Deutsch im Gegensatz zu Latein? Leicht verständliches Deutsch im Gegensatz zum komplizierten Kanzlei‑ oder Übersetzungsdeutsch? Oder »eine über den Dialekten stehende gemeinsame deutsche Sprache« (S. 186)? Nach eingehender, die Forschung zur vorlutherischen Bibelübersetzung einbeziehender Diskussion stellt Fujii fest, dass der Begriff des ›Gemeinen Deutsch‹ eine Bedeutungsverschiebung erfahren hat. Zainer verstand darunter »eine leicht verständliche, übliche deutsche Sprache« (S. 202), wie sie die von ihm zum Druck gebrachte Übersetzung bot. Doch bereits in den beiden folgenden Jahrzehnten begann sich der Begriff, was anhand der Schlussschriften von Bibeldrucken Anton Sorgs, Anton Kobergers, Johann Schönspergers und Johann Otmars überzeugend nachgewiesen wird, zur Bedeutung ›Gemeindeutsch‹ weiterzuentwickeln. Angesichts der Tatsache, dass ein überregionaler Sprachstandard noch nicht existierte, konnte damals eigentlich niemand eine Aussage darüber machen, ob ein von ihm gelesenes Buch »so etwas wie eine gemeinsame deutsche Sprache« (S. 202) repräsentierte. Ein Leser konnte allenfalls beurteilen, ob es sich um ein zu seiner Zeit übliches und verständliches Deutsch handelte. Fujii spricht deshalb »hinsichtlich des Ausdrucks ›Gemeines Deutsch‹ von einem Wechsel vom ›Realitätsprinzip‹ zum ›Bewußtseinsprinzip‹« (S. 202).

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Rückschritt

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»Letzter Schliff« (S. 203) wird der Sprache der Zainerschen Drucke im Schwabenspiegel von 1475/76, in der Deutschen Bibel von 1477 und im Schachzabelbuch aus demselben Jahr zuteil. Im Schwabenspiegel werden die Phoneme mhd. /ī/ und /ei/, die zuvor graphisch bereits zusammengefallen waren, wieder auseinander gehalten, allerdings nicht durch Wiedereinführung der alten Graphie ai, sondern dadurch, dass für /ī/ die Graphie ei und für /ei/ die Graphie ey gesetzt wird. Die erneute Trennung ist ein Indiz dafür, dass schriftliche Konvergenz keineswegs auf mündlichem Phonemzusammenfall, der im Oberdeutschen ja bis heute nicht eingetreten ist, beruhen muss. Insgesamt zeigt sich in den Zainerdrucken dieser Periode eine weitere »Reduktion der graphischen Varietät« (S. 206). Damit ist nach Fujiis Ansicht der »von Zainer beabsichtigte Graphiengebrauch« (S. 206) erreicht. Er wird auf Seite 207 schematisch dargestellt (das Schema wird S. 224 noch einmal unverändert wiederholt). Ein höchst instruktiver Vergleich zum Graphiengebrauch in den Augsburger Handschriften und in den Zainerdrucken schließt sich an (S. 207–218).

[37] 

Mit seinen ambitionierten Druckprojekten hatte sich Zainer wirtschaftlich übernommen. Seine Firma ging 1478 in Konkurs und er starb noch im gleichen Jahr. Die in der letzten Phase des Bestehens der Offizin 1477/78 erschienenen Drucke Weg zum heiligen Grab, Spiegel des Sünders, Esopus und Arzneibuch stellen sprachlich gesehen eher einen Rückschritt dar. Für mhd. /ū/, /iu/ und /ou/ erscheinen Monophthonggraphien (vff, frúnd, vrlob usw.), neben gan/gen und stan/sten für ›gehen‹ und ›stehen‹ findet sich auch gon und ston, alles eher dialektnahe Formen. Im Arzneibuch tritt für b, das sich im Laufe der Zeit zum Zainerschen Standard entwickelt hatte, zunehmend p ein. Fujii erblickt darin sowie in der Tatsache, dass für mhd. /ei/ sogar die Schreibung ay wieder auftaucht, ein Zugeständnis an den bairischen Absatzmarkt, den Zainer für dieses Werk besonders im Auge gehabt habe. Die zunehmenden Schwankungen und rückwärts gewandten Entwicklungen in der Endphase der Druckerei, die auch durch einen Übergang zu kleinformatigen Werken und zur wirtschaftlich rationelleren, aber technisch schwerer zu beherrschenden Satztechnik ›in Formen‹ gekennzeichnet ist, könnten jedoch ebenso gut darauf zurückzuführen sein, dass die qualifizierteren Drucker bereits das sinkende Schiff verließen oder Zainer keinen Korrektor mehr bezahlen konnte – der Denkmöglichkeiten gibt es viele.

[38] 

Fazit

[39] 

Akihiko Fujiis Buch ist eine herausragende Arbeit. In äußerst kompakter Darstellung bewältigt sie eine komplexe und spröde Materie, präsentiert eine Fülle bisher unbekannter Fakten und gibt Anstöße zu weiterführenden Forschungen. Folgende Punkte seien zum Abschluss hervorgehoben:

[40] 

1. Als erster germanistischer Sprachwissenschaftler zieht Fujii die notwendigen Konsequenzen aus Erkenntnissen, die bezüglich des technischen Herstellungsprozesses von Inkunabel‑ und Frühdrucken von der außerlinguistischen Buchwissenschaft gewonnen wurden. Künftige sprachwissenschaftliche Untersuchungen werden bei der Exzerption älterer Drucke den in der Regel lagenweise erfolgten Setzerwechsel berücksichtigen müssen. 39 Ob der Setzerwechsel in späterer Zeit, besonders ab dem zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts, sprachlich noch ebenso relevant ist oder ob es durch zunehmenden Einfluss von Korrektoren, wie man sie beispielsweise aus dem Umkreis Luthers kennt, zu einer fortschreitenden Nivellierung des Sprachstandes innerhalb der Druckwerke kommt, müssen weitere Arbeiten nach dem Muster Fujiis zeigen.

[41] 

2. Durch Fujiis Untersuchungen wird erstmals anhand sorgfältig ausgewählter phonologisch‑graphematischer und morphologischer Phänomene die Entwicklung des Sprachgebrauchs innerhalb einer bestimmten Offizin in chronologischer Folge sichtbar gemacht. Nach ersten, noch stark regionalsprachlich gebundenen Anfängen führt diese Entwicklung in ihrer mittleren Phase zu immer stärkerer Autonomie und größerer Festigkeit, um am Ende, offenbar unter dem Druck wirtschaftlicher Schwierigkeiten, hinter den bereits gewonnenen offizininternen Stand wieder zurückzufallen. Auch hier können nur die Untersuchungen anderer Druckwerkstätten zeigen, ob eine solche Dynamik zeittypisch oder eine Besonderheit der Zainerschen Offizin war.

[42] 

3. Die Kenntnis nicht nur der Augsburger Druckersprache, sondern auch der Augsburger Schreibsprache in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ist durch Fujiis Arbeit wesentlich erweitert worden. Bei aller Eigengesetzlichkeit bleibt die Schreibsprache der lokalen Mündlichkeit deutlich stärker verhaftet als der Druck. Virgil Mosers Diktum, die »Führung in der schriftsprachlichen Bewegung« sei seit Beginn des 16. Jahrhunderts immer stärker an die Druckersprachen übergegangen, während die weit konservativeren Schreibsprachen »durchschnittlich ein viertel bis ein halbes Jahrhundert hinter diesen zurückbleiben«, 40 ist insofern zu präzisieren, als diese »Bewegung« schon einige Jahrzehnte früher einsetzt. Dass große Offizinen im 16. Jahrhundert feste »Hausorthographien« ausbildeten, ist bekannt. 41 Dank Fujii sieht man nun, dass sich Günther Zainers Werkstatt bereits in den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts zumindest auf dem Wege zu einer solchen Hausorthographie befand.

[43] 

4. An Fujiis Studie wird erneut deutlich, wie kompliziert der Prozess der Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache war und warum dieser Prozess bis heute noch nicht wirklich befriedigend beschrieben werden konnte. Wenn, um dieses Beispiel ein letztes Mal aufzugreifen, im Mittelhochdeutschen die Phoneme /ei/ und /ī/ in der Schreibung deutlich getrennt waren und auch in der Augsburger Schreibsprache der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts getrennt blieben, in den Drucken aus der besten Zeit der Zainerschen Offizin in den Schreibungen ei, ey zusammenfielen, so könnte dies zu der vorschnellen Schlussfolgerung Anlass geben, der Augsburger Buchdruck habe zumindest in diesem Punkt eine Vorreiterrolle bei der Herausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache übernommen, in der die ›alten‹ und die ›neuen‹ Diphthonge bekanntlich ebenfalls zusammengefallen sind. So simpel und geradlinig verlief die Entwicklung jedoch keineswegs. Wie bereits erwähnt, kehrten die Augsburger Drucker im 16. Jahrhundert zur orthographischen Trennung der Diphthongreihen zurück, und sogar innerhalb der Zainerschen Offizin selbst werden in den letzten Drucken bereits Hinweise auf diese Tendenz sichtbar. Es besteht also dringender Bedarf an weiteren Untersuchungen. Wie diese aussehen sollten, dafür hat Akihiko Fujii Maßstäbe gesetzt.

 
 

Anmerkungen

Neben einer Fülle von Einzelarbeiten sind hier die Ergebnisse großer Forschungsvorhaben zu nennen, etwa die bisher sieben Bände des Bonner Projekts Grammatik des Frühneuhochdeutschen (Heidelberg: Winter 1970–1991) und das in Lieferungen erscheinende Frühneuhochdeutsche Wörterbuch (Berlin, New York: de Gruyter 1986 ff.). Den Forschungsstand bis etwa zum Jahr 2004 referieren die einschlägigen Artikel in den vier Bänden des Handbuchs Sprachgeschichte (vgl. u. Anm. 7). Seither sind weitere wichtige Arbeiten hinzugekommen.   zurück
Fujii (S. 14–16) stützt sich hier hauptsächlich auf Severin Corsten: Das Setzen beim Druck in Formen. In: Gutenberg-Jahrbuch 58 (1984), S. 128–132.   zurück
Akihiko Fujii: Zur Methode der Exzerption älterer Drucke. Ein Beitrag zum Problem des Setzerwechsels in Frühdrucken. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 115 (1996), S. 393–432.   zurück
Hans-Jörg Künast: ›Getruckt zu Augspurg‹. Buchdruck und Buchhandel in Augsburg zwischen 1468 und 1555. (Studia Augustana 8) Tübingen: Niemeyer 1995, S. 253.   zurück
Hugo Stopp: Grammatik des Frühneuhochdeutschen. Beiträge zur Laut- und Formenlehre, hg. v. Hugo Moser und Hugo Stopp. Bd. 1.2: Vokalismus der Nebensilben II. (Germanische Bibliothek 1) Heidelberg: Winter 1973, S. 19 f.; Elvira Glaser: Graphische Studien zum Schreibsprachwandel vom 13. bis 16. Jahrhundert. Vergleich verschiedener Handschriften des Augsburger Stadtbuches. (Germanische Bibliothek. Neue Folge 3), Heidelberg: Winter 1985, S. 53 und öfter.   zurück
Hain 7508, BSB-Ink G-51; vgl. URL: http://inkunabeln.digitale-sammlungen.de/Ausgabe_G-51.html. (Zugriff zu allen Links 29.09.2009).   zurück
10 
Augsburg SuStB 2° Ink 298; Copinger 5805, BSB-Ink I-55, vgl. URL: http://inkunabeln.digitale-sammlungen.de/Ausgabe_I-55.html.   zurück
11 
Augsburg SuStB an 2° Ink 298; Hain 9187, BSB-Ink I-168, vgl. URL: http://inkunabeln.digitale-sammlungen.de/Ausgabe_I-168.html.   zurück
12 
Augsburg SuStB an 2° Ink 91f; GW 9522, BSB-Ink E-148, vgl. URL: http://inkunabeln.digitale-sammlungen.de/Ausgabe_E-148.html.   zurück
13 
Augsburg SuStB 2° Ink 337; Copinger 2319 = 2317, BSB-Ink P-579, vgl. URL: http://inkunabeln.digitale-sammlungen.de/Ausgabe_P-579.html.   zurück
14 
15 
16 
Augsburg SuStB 2° Ink 161a; Hain 9869, BSB-Ink S-214, vgl. URL: http://inkunabeln.digitale-sammlungen.de/Ausgabe_S-214.html.   zurück
17 
18 
19 
Augsburg SuStB 4° Ink 227l; Hain-Copinger 1031 1, BSB-Ink L-272, vgl. URL: http://inkunabeln.digitale-sammlungen.de/Ausgabe_L-272.html.   zurück
20 
Augsburg SuStB 2° Ink 152k; GW 3398, BSB-Ink B-86, vgl. URL: http://inkunabeln.digitale-sammlungen.de/Ausgabe_B-86.html.   zurück
21 
22 
23 
24 
München, BSB, Cgm 1114, fol. 3r–75v.   zurück
25 
München, BSB, Cgm 581, fol. 1r–148v.   zurück
26 
Nürnberg, StB. Solg. Ms. 58. 2°, fol. 1ra–186rb.   zurück
27 
Wien, ÖNB. cod. 3051, fol. 1ra–299ra.   zurück
28 
Wolfenbüttel HAB, Cod guelf. 75.10 Aug 2°, fol. 55r–71r.   zurück
29 
Wolfenbüttel HAB, Cod guelf. 37.17 Aug 2°, fol. 2r–442r.   zurück
30 
Salzburg, Stiftsbibliothek St. Peter, Cod. b. XII. 19b, fol. 1ra–239ra.   zurück
31 
Wien, ÖNB. Series nova 3614, fol. 17va–62ra.   zurück
32 
33 
34 
35 
München, BSB, Cgm 1137.   zurück
36 
»An einigen stellen finden sich drei, an einer sogar fünf lesarten, einmal liegt presskorrektur, ein andermal neuer satz vor. An einer stelle stimmen 29 exemplare überein gegen ein einziges, an der nächsten stelle sind es 15 gegen 15 oder 20 gegen 10.« William Kurrelmeyer (Hg.): Die erste deutsche Bibel. Bd. 10: Hosea – 2. Makkabäer. (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 266) Tübingen: Litterarischer Verein in Stuttgart 1915, S. XLI (zitiert bei Fujii, S. 60).    zurück
37 
Fujii zitiert hier Norbert Richard Wolf: Autographen als Quelle für die Sprachgeschichtsforschung des Frühneuhochdeutschen. In: Werner Besch [u. a.] (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2. Halbband, Berlin, New York: de Gruyter 1985, S. 1438.   zurück
38 
Zu diesen und anderen Gesichtspunkten äußert sich jetzt, allerdings bezogen auf das 16. Jahrhundert, Anja Voeste: Orthographie und Innovation. Die Segmentierung des Wortes im 16. Jahrhundert. (Germanistische Linguistik. Monographien 22) Hildesheim, Zürich, New York: Olms 2008, S. 65–68, 80–99, 103–108 und öfter.   zurück
39 
Ein Beispiel dafür, dass dies bereits geschieht, ist die Arbeit von Anja Voeste (Anm. 7), die aus Fujiis Aufsatz von 1996 (Anm. 3) die Konsequenzen gezogen hat (Voeste, S. 25).   zurück
40 
Virgil Moser: Frühneuhochdeutsche Grammatik. I. Band: Lautlehre. 1. Hälfte: Orthographie, Betonung, Stammsilbenvokale. (Germanische Bibliothek 1.1.1) Heidelberg: Winter 1929, S. 2.   zurück
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