IASLonline

Die Funktion des Populären

Neue systemtheoretische Beiträge zur Theorie des Populären

  • Christian Huck / Carsten Zorn (Hg.): Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007. 348 S. 8 s/w Abb. Broschiert. EUR (D) 34,90.
    ISBN: 978-3-531-14975-2.
[1] 

Die Relevanz des von Christian Huck und Carsten Zorn herausgegebenen programmatischen Bandes Das Populäre der Gesellschaft für die aktuelle Diskussion zur Populärkultur leuchtet direkt ein: Zum einen ist Niklas Luhmanns Systemtheorie in den Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaften derzeit ihrerseits eine ›populäre‹ Theoriebildung. Zum anderen ist die Systemtheorie zu einer der maßgeblichen Theorien für die Analyse der Kommunikationssituation einer ›Informations-‹ oder ›Medienkulturgesellschaft‹ avanciert. Konsequent ist daher der Anspruch des Buches, die Möglichkeiten der Systemtheorie für die Beschreibung des schwierigen Feld der Populärkultur auszuloten. Mit neuen theoretischen Mitteln soll dieser problematische Gegenstand beschrieben werden.

[2] 

Gleichzeitig ergeben sich hieraus die Kriterien, anhand derer sich die Beiträge des Bandes messen lassen müssen. Wenn es aus Niklas Luhmanns Systemtheorie ein überstrapaziertes Zitat gibt, ist es die Bemerkung, der Begriff der »Kultur« sei einer der schlimmsten Begriffe, die jemals geprägt wurden. 1 Vielleicht ein noch schlimmerer Begriff ist dann der Begriff der ›Populärkultur‹. Ohne Ergänzung, Umbau oder Erweiterung der Systemtheorie lässt sich der Ansatz des Buches, dezidiert systemtheoretische Perspektiven auf populärkulturelle Phänomene zu beziehen, daher nicht erfüllen. Die Beiträge des Buches stehen vor dem doppelten Problem (a) die Theorie selbst insoweit zu transformieren, dass die in Rede stehenden ›populärkulturellen‹ Phänomene adäquat erfasst werden und sie müssen (b) die Vorzüge des systemtheoretischen Zugriffs auf diese Phänomene illustrieren, also die Erklärungskraft des gewählten Zugangs gegenüber anderen Herangehensweisen verdeutlichen.

[3] 

Vorwegzunehmen ist, dass den Herausgebern und Autoren des Bandes die Umsetzung dieses Anspruchs sowohl in der Konzeption als auch in den einzelnen Beiträgen auf anregende und erkenntnisreiche Weise gelungen ist. Hervorheben lässt sich beispielsweise die gelungene Gesamtkonzeption des Buches. So enthält der Band im letzten Abschnitt (V) zwei Kommentare von Urs Stäheli und Diedrich Diederichsen auf die in den Beiträgen zur Debatte gestellten Thesen. Mit dieser inneren Klammer liefert das Buch gewissermaßen seine Rezensionen von berufener Seite gleich mit. Das ist editorisch elegant gelöst und erlaubt auch dem nicht direkt mit der Fachdiskussion vertrauten Leser einen schnellen Zugriff auf die verschiedenen Positionen der systemtheoretischen Debatte.

[4] 

Zugangsweise

[5] 

Dass Luhmann mit seiner Systemtheorie zwar einen universellen Anspruch erhoben hat, selbst aber nie leugnete, dass das Projekt noch im Entstehen befindlich ist, ist eine Binsenweisheit. Das Populäre gehört zu den Phänomenen, die Luhmann kaum betrachtet hat. Der einleitende Überblicksaufsatz von Christian Huck und Carsten Zorn enthält folglich weit mehr, als die übliche Abbreviatur eines Problemzusammenhangs mit anschließendem Ausblick auf die folgenden Beiträge. Die Herausgeber versuchen programmatisch, klar definierte Anschlussstellen für die Frage nach dem Populären innerhalb der Systemtheorie aufzuzeigen. In Anlehnung an die Vorarbeiten von Urs Stäheli begreifen Huck und Zorn das ›Populäre‹ als Sammelbegriff aller »populären sozialen Sachverhalte« (S. 9) und definieren diese Sachverhalte funktional als »Bezeichnung für eine Form von Lösungen für spezifische Probleme der sozialen Systeme moderner Gesellschaft, zu denen insbesondere Probleme in den Beziehungen dieser Systeme zueinander sowie zu ihrer menschlichen Umwelt zählen« (S. 9 f.).

[6] 

Das Populäre wird also als Abweichung von systeminterner Codierungen aufgefasst. Einer der Vorteile dieser Definition ist, Abstand von den bisher bekannten Deutungsmustern des Populären zu gewinnen. In systemtheoretischer Betrachtung ist das Populäre nicht nur die durchkapitalisierte Schwundstufe der verlorenen gegangenen Identifikationspotenziale großer (›kultureller‹) Erzählungen. Vielmehr soll das Populäre eine weit grundlegendere als nur eine kompensatorische Funktion einnehmen: Es fungiert als Scharnierstelle der Koordination zwischen (ganz alteuropäisch gesagt) dem ›Menschen‹ (psychisches System, Körper etc.) und dem (historisch neuartigen) funktional ausdifferenzierten Gesellschaftsmodell: »Das höchst unwahrscheinliche Ensemble ›moderner Gesellschaft‹ wäre ohne das Populäre undenkbar – so lautet die […] zentrale Ausgangsthese dieses Bandes.« (S. 14) Das Populäre in dieser Weise als Bedingung der Möglichkeit zu postulieren gelingt freilich nur, wenn das Populäre Lösungen für elementare Probleme der funktionalen Ausdifferenzierung anbietet. Dabei erweist sich die Unbestimmtheit des Populären als dessen eigentliche Tugend:

[7] 
Denn die zentrale strukturelle Besonderheit populärer Problemlösungen wird hier darin gesehen, dass sie sich – im fundamentalen Unterschied zu allen, die einem bestimmten unter den modernen Funktionssystemen zugerechnet werden können – nicht nur auf genau ein fundamentales gesellschaftliches Problem beziehen lassen. (S. 14)
[8] 

Solche Umwertungen des funktional Widerspenstigen sind sowohl aus der Kritischen Theorie wie auch poststrukturalistischen Denkformen bestens bekannt. Im Zweifel ist das Unbestimmbare mindestens ein ›Notwendiges‹ wenn nicht sogar (als ›Opfer‹, siehe Lyotard) ein ›Gutes‹. Und tatsächlich werden in den Beiträgen des Bandes stellenweise bemerkenswerte Bezüge zu Autoren aus den damit evozierten Theorien hergestellt (etwa zu Michel Serres und Ernesto Laclau in dem Beitrag von Sven Opitz und Felix Bayer). Huck und Zorn selbst geht es aber weniger um derartige Anschlüsse, als vielmehr um die produktive Kritik und Erweiterung der insb. von Urs Stäheli vorgelegten systemtheoretischen Bestimmungen des Populären. Demnach sei das Populäre als ein »unvermeidliches Nebenprodukt des Prozessierens der Funktionssysteme zu verstehen«, mit der Absicht »das breite Publikum zur Beteiligung an diesen Systemen zu motivieren und so seine Inklusion in diese sicherzustellen […]«(S. 18). Vereinfacht gesagt formulieren die Herausgeber mit ihrer Konzeption des Populären also eine stärkere Variante des Arguments von Stäheli. An die Stelle eines auf Inklusion ausgerichteten Nebenprodukts der funktionalen Differenzierung, das je nur systemspezifisch auftritt, wird die Konzeption des Populären als notwendiges Komplement für funktionale Differenzierung gesetzt.

[9] 

In diesem konzeptionellen Spannungsbogen bewegen sich die einzelnen Beiträge. Die theoretische Herausforderung für die Autoren liegt darin, das Populäre auf den Prozess der funktionalen Differenzierung zu beziehen. Funktionale Differenzierung wiederum wirft das Problem der ›Übersetzung‹ intersystemtischer Beziehungen auf. Spätestens hier aber liegt der Teufel im Detail. Denn wie auch Huck und Zorn konstatieren, kann diese Verhältnisbestimmung nicht nur von der Sache her, sondern von höchst unterschiedlichen Schnittstellen aus geschehen. So findet man neben den bereits erwähnten programmatischen Debatten vier Sektionen, die der Themenvielfalt Struktur verleihen, und zwar (I) »Kultur und Medien des Populären«, (II) »Das Individuum des Populären«, (III) »Das Populäre und die Funktionssysteme« sowie schlicht (IV) »Pop«.

[10] 

Fallstudien

[11] 

Sektion 1 »Kultur und Medien des Populären«

[12] 

Kultur und Medien sind (zumal in der Systemtheorie Luhmanns) zwei vage Begriffe, die in der ersten Sektion im Problem der »Publizität« und seinen Inszenierungsformen konvergieren. So beginnen die Fallstudien mit einem Beitrag von Rudolf Helmstetter. Der Text ist für den ganzen Band wichtig, weil er mit den Massenmedien und der Öffentlichkeit zwei der Achsen einer Theorie des Populären zum Gegenstand hat, die das Populäre erst zu einem im Sinne der Herausgeber »notwendigen« Komplement funktionaler Differenzierung erheben. Helmstetter bringt es auf eine ebenso einfache wie einleuchtende Formulierung: »Populär werden kann nur, was publik ist« (S. 42) Überzeugend fällt dabei u.a. sein Vorschlag aus, das Populäre als Prozess der »Popularisierung« (S. 50) aufzufassen, um seinen konstruierten Charakter zum Vorschein zu bringen.

[13] 

Via ›Aufmerksamkeit‹ ist der Prozess der Popularisierung auch bindend für die These des nächsten Beitrags. Carsten Zorns luzide entfaltete These lautet, dass das Populäre das Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft darstellt. Zorn entwickelt diese These anhand der Popularität von Luhmanns Theorie selbst (z.B. in zeitgenössischen Frontmedien des Populären wie Spex). Damit schafft er es nicht nur theoretisch, sondern auch vom Gegenstand her zu Ergebnissen zu kommen, die das Potenzial der Systemtheorie für eine Theorie des Populären anschaulich aufzeigen. Zu den interessantesten Thesen gehört Zorns Versuch, die Gesellschaftsbeschreibung der funktional differenzierten Gesellschaft als solche als eine »Poptechnik« zu erfassen. Selbstredend kann diese These in dem Beitrag nur angedeutet werden, aber sie zeigt m.E. deutlich das Potenzial einer systemtheoretische Analyse des Populären (unter Einschluss ihrer selbst als Theorie).

[14] 

Der nächste Beitrag ist Steffen Schneiders konsequente Analyse der Reflexion des Populären in Michel Houellebecs Plateforme. Schneider zeigt, wie in diesem Roman die Utopie einer nicht-medialen, das heißt hier: Körper direkt interagieren lassenden, Unmittelbarkeit als Vision einer neuen Massenkultur entworfen wird (vgl. S. 111). In Abwendung vom »faktisch existierende(n) Populäre(n)« (S. 115) wird dieses ›unmittelbare Populäre‹ vom Roman auf der Inhaltsebene als Vision in seinem Scheitern reflektiert, durch die bekannte Skandalisierung seiner Darstellung (aufgrund von Themen wie Sex-Tourismus etc.) aber performativ in die Gesellschaft als Populäres zurückgespielt. Der Roman präsentiert sich auf diese Weise als eine »›Plattform‹ des Populären« innerhalb des Kunstsystems (vgl. S. 115).

[15] 

Christoph Reinfandts Beitrag widmet sich dem Thema der populären Reaktionen auf den 11. September 2001. Besonders spannend an Reinfandts Analysen (z.B. aus der Rock- und Popmusik sowie Comics) ist der Versuch einer Rückbindung der ästhetischen Strategien der Populärkultur an die Romantik. Ohne die Achsenzeit der Romantik zur Vorwegnahme aller ästhetischen Inventare der (Post-)Moderne zu verklären, bezieht sich Reinfandts Ansatz konkret auf das Verhältnis von individuellem Erleben und kollektiver Anbindung an kulturelle Autoritäten dieses Erlebens. Das erlaubt es ihm, die Grenze zwischen Kunst und Populärem in den Blick zu nehmen, wobei den ex post als ›romantisch‹ etikettierten ästhetischen Strategien (z.B. Reflexionen des Verhältnisses von Fragment und Totalität) am Ende ›humanistische‹ Qualitäten zugesprochen werden (S. 140) – eine Aussage, die zwar bloß beiläufig fällt, als These aber nicht nur in historischer Perspektive einigen Gesprächsstoff bereit halten dürfte.

[16] 

Sektion 2 »Das Individuum des Populären«

[17] 

Das Thema »Inklusion« des Individuums steht im Vordergrund der zweiten Sektion. Auch Christian Huck startet mit einer Thematisierung der Grenze zwischen Populärem und Kunst. »Populäre Romane liefern keine verbindlichen Interpretationen der Welt, sondern eine individualisierbare« (S. 163), so lautet eine der Kernthesen, die Huck in seinem präzisen Text am Beispiel von Samuel Richardsons Pamela ausarbeitet. Besondere Relevanz kommt dabei Interaktionssituationen zu, die qua symbiotischer Mechanismen auf die Körper zeitlich und räumlich situierter Menschen bezogen sind. Populäre Romane wie seinerzeit Pamela bieten dem Individuum mit Blick auf derartige materielle Geltungsebenen Selektionsmöglichkeiten in der Perspektive einer Beobachtung erster Ordnung, ohne eine andere (fiktionale) Welt zu versprechen. Populäres wird dadurch in seiner Funktion für den Prozess der Individualisierung historisch lesbar. Huck vermag über den Hinweis auf die Bedeutung symbiotischer Mechanismen für die Inklusions-Motivation der Individuen einen wesentlichen Theoriebaustein einer Systemtheorie des Populären anhand einer klaren historischen Analyse zu benennen.

[18] 

Der folgende Beitrag von Jens Ruchatz widmet sich der Kampagne »Du bist Deutschland« als Muster für Inklusion und Individualisierung. Ruchatz beschäftigt sich eingehend – und für den Sammelband in grundsätzlicher Weise – mit der Werbung als einem Paradigma für populäre Kommunikation. Besonders stichhaltig ist die Fokussierung dieser Debatte auf die Rolle der ›realen‹ Person des Stars als einer Folie für Individualisierung. Theoretisch eher im Fahrwasser der Arbeiten von Urs Stäheli als dem Ansatz von Huck und Zorn verpflichtet kommt Ruchatz u.a. zu dem Ergebnis, dass das Image als kommunikative Form des Stars im Falle von ›Du bist Deutschland‹ es ermöglicht, Individualisierung und Inklusion zusammenzudenken.

[19] 

Computerspiele bilden zum Abschluss der Sektion den Gegenstand des Textes von Jens Kiefer. Seine Analyse sieht in der narrativen Gestaltung dieser Spiele deren eigentliche Qualität. Quasi in the long run will Kiefer mit seiner These die Frage beantworten helfen, wie das Populäre das Individuum zur Inklusion in ein Funktionssystem motiviert. Das ist methodisch ein weiter Weg und sagt erst einmal wenig über die Funktionalisierung des Populären. Aber unter Rückgriff auf kognitionspsychologisch motivierte narratologische Theorien gelingt es Kiefer, die allemal diskutable Überlegung zu plausibilisieren, dass diese Spiele die »kulturelle Fähigkeit des Plottings« (S. 210) einüben helfen. Für die Theorie des Populären ist das allein deshalb eine wichtige Einsicht, als das »Gaming« ein gegenüber dem Roman in seiner narrativen Komplexität zwar (noch) redundantes, aber in seiner Faszinationskraft massiv überlegenes »Angebot der Gesellschaft an psychische Systeme (ist), es sich in fiktionalen Welten gemütlich zu machen und narrative Muster aufzugreifen, die für die eigene Identitätsarbeit benötigt werden.« (S. 212)

[20] 

Sektion 3 »Das Populäre und die Funktionssysteme›

[21] 

Welche ›Übersetzungsverhältnisse‹ das Populäre zu den einzelnen Funktionssystemen unterhält, ist die zentrale Frage der folgenden dritten Sektion. Nicolas Pethes’ Beitrag macht zunächst die Ausgrenzung von Gewaltdarstellungen als etwas ›Populärem‹ durch das Kunstsystem zum Thema. Anhand der Diskussion um die Zurschaustellung körperlicher Gewalt in modernen (Massen-)Medien kann Pethes mit großer Expertise aufzeigen, inwiefern das Populäre einerseits als »diskursives Konstrukt des Kunstsystems« der Ort ist, wo die gesellschaftliche Tabuisierung von Gewalt ihren Platz hat, damit andererseits aber dem Umstand Ausdruck gibt, dass die immense Faszinationskraft physischer Gewalt, wie sie häufig im Populären repräsentiert wird, »nicht allein das Kunstsystem, sondern vielmehr die Vorstellung systemisch geschlossener Kommunikation an sich« (S. 236) kritisiert. Pethes’ Text gehört mit dieser fundiert vorgetragenen These zu den aufschlussreichsten Beiträgen des Bandes.

[22] 

Essayistischer Art ist der zweite Beitrag von Rembert Hüser. Mit viel Ironie schildert Hüser, wie sich innerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften (also: des Wissenschaftssystems) ein ›curatorial turn‹ vollzogen hat. Zielpunkt hier: die ›kurative‹ Rolle Hans-Ulrich Gumbrechts für die Dubrovnik-Kolloquien und die Verquickung dieser Funktion mit der ›Popularisierung‹ der Systemtheorie innerhalb der Wissenschaft. Das ist (zumindest für den Außenstehenden) sehr witzig zu lesen, fällt für die Sachdiskussion aber etwas aus dem Rahmen. Andererseits: Solche Widerborstigkeit gehört, wenigstens mit Adorno gedacht, zu den wesentlichen Merkmalen eines guten Essays. Insofern ist der Beitrag einer der stilistischen Höhepunkte – jedenfalls dann, wenn man Stil (frei nach Nietzsche) als innere Konsequenz einer (Schreib‑)Handlung definiert.

[23] 

Sektion 4 »Pop«

[24] 

Kürz und bündig »Pop« betitelt hat die vierte Sektion mit ›Pop‹ selbst das Schlüsselphänomen alles Populären bzw. aller Populärkultur zum Gegenstand. Den Auftakt macht ein komplexer Beitrag von Martin Jörg Schäfer, der sich mit dem »ästhetische(n) System« (S. 273) Rainald Goetz und dessen Verhältnis zur Systemtheorie auseinandersetzt. Luhmann zitiert Goetz öfter als nötig – ein empirischer Befund, der Schäfer zum Nachdenken bringt, weil »die Texte von Goetz seit Ende der 70er […] beständig die von Luhmann für die Selbstorganisation des gesellschaftlichen Subsystems der Kunst behauptete Leitdifferenz zwischen Kunst und Nichtkunst (unterwandern).« (S. 263) Hieran anknüpfend zeichnet Schäfer ebenso materialreich wie analytisch präzise die Verwicklung von Goetz’ Schreiben mit Luhmanns Überlegungen zum Kunstsystem nach. Besonders hervorzuheben sind m.E. die Überlegungen zur Frage, warum die Systemtheorie gegenüber populären Phänomenen (wie z.B. Pop-Art) blind ist – eine Frage, die innerhalb der Literatur (eben: dem »ästhetischen System« Goetz) auf eigenständige Art reflektiert wird, was Schäfer eloquent und sachkundig aufarbeitet.

[25] 

Ein weiteres Highlight ist der folgende Beitrag von Sven Opitz und Felix Bayer, der für die Weiterentwicklung der Theorie des Populären zu den besten und gehaltvollsten Beiträgen des Bandes gehört. Die Grundüberlegung der Autoren lautet, »dass Pop gesellschaftsweit fluktuierende Programme ohne Code formuliert und auf diese Weise programmatische Alternativen vorlegt.« (S. 285) Pop zielt auf die Kriterien der Zuordnung für Codewerte bzw. Inklusionsroutinen (vgl. ebd.). Ein Bezugspunkt dieser These ist die Theorie des »leeren Signifikanten« von Ernesto Laclau. Derartige Erweiterungen der Systemtheorie sind sinnvoll, weil das Populäre »im Windschatten der Funktionssysteme (wildert) und […] an einer selektiven Rekonfiguration von Sozialität (experimentiert)« (S. 291). Mittels einer wahren tour de force durch die verschiedensten popkulturellen Phänomene explizieren die Autoren ihre These und schneiden ihre Analysen am Ende auf die Konsequenzen der unter funktional ausdifferenzierten Bedingungen stets unvollständigen Inklusion des Individuums zu. Das Populäre erscheint ihnen u.a. (was einen interessanten Verweis auf die Beiträge der zweiten Sektion darstellt) als der negative Horizont der Individualisierung: Für das Individuum gilt es, statt »sich selbst zum Ausdruck zu bringen, […] das Spiel der von jeglicher Essenz losgelösten Zeichen auf immer unwahrscheinlichere, ›idiosynkratischere‹ Konstellationen hinzutreiben.« (S. 301)

[26] 

Kommentare

[27] 

Der Band schließt mit den bereits erwähnten Kommentaren von Urs Stäheli und Dietrich Diedrichsen zur programmatischen Herangehensweise der Herausgeber bzw. zu den einzelnen Beiträgen. Stäheli setzt sich noch einmal mit der Grundthese des Bandes auseinander, das Populäre als notwendiges Komplement funktionaler Differenzierung zu begreifen. Er erörtert die verschiedenen in dem Buch repräsentierten Einlösungsmöglichkeiten dieser Grundüberlegung im Allgemeinen und behandelt im Anschuss daran die Problemkreise der Medialität des Populären, der Werbung und des Verhältnisses von Pop und Populärem im Speziellen. Der Dachbegriff des Populären wird in diesem Kontext wieder in seine Einzelteile zerlegt und eine genauere begriffliche Differenzierung zwischen Pop, Populärem und Populärkultur angemahnt. Für das Phänomen »Pop« sammelt Stäheli z.B. Argumente, inwiefern es gerade nicht als notwendiges Komplement zu funktionaler Differenzierung gedacht werden kann. Pop berührt nach Stähli die operationale Leistungsfähigkeit der Funktionssysteme in keiner Weise (z.B. des Rechtssystems), weshalb Pop nur als »Kommentar« (S. 319) zu diesen Systemen aufgefasst werden sollte. Stäheli illustriert so die Bruchstellen der These, das Populäre als Dachbegriff für Pop und Populärkultur anzusetzen und gleichzeitig als notwendiges Komplement funktionaler Differenzierung auszuweisen. Diese konzise Darstellung des systemtheoretischen Wissensstandes zum Populären sollte gemeinsam mit dem programmatischen Aufsatz von Huck und Zorn bei einer zukünftigen Auseinandersetzung mit dem Thema konsultiert werden.

[28] 

In eine ähnliche Richtung wie Stäheli marschiert zum Abschluss der Kommentar von Diedrich Diedrichsen. Als einziger Beitrag fühlt sich Diedrichsen nicht ausdrücklich der Systemtheorie verpflichtet. Ähnlich wie bei Stäheli angedeutet, macht auch er die problematische Unterscheidung zwischen Pop und Populärem zu seinem Gegenstand. Das Phänomen Pop-Musik analysiert er einerseits in einer kritisch-dekonstruktivistischen (vgl. S. 324) Perspektive als Möglichkeit, »allein zu sein, mutterseelenallein mit der Gesellschaft« (S. 326), andererseits als eine Instanz, die u.a. Unterscheidungen im Bereich der Lebensformen ermöglicht (vgl. S. 333). Neben verschiedenen erhellenden Verweisen auf die Defizite der bisherigen systemtheoretischen Beschreibung von Pop-Musik illustriert der Aufsatz sehr schön, wie eine produktive Diskussion zwischen ›kritischen‹ und systemtheoretischen Ansätzen aussehen kann. Und das bedeutet: Dass die systemtheoretischen Inblicknahmen des Populären einerseits die Messlatte für die ›kritischen‹ Theorien hoch gelegt haben, andererseits aber auch noch nicht so weit sind, zur neuen Leittheorie bei der Beschreibung des Populären aufzusteigen.

[29] 

Fazit

[30] 

Wenngleich manche Aufsätze dazu tendieren, die theoretischen Probleme einer systemtheoretischen Beschreibung des Populären auf die Metaperspektive der Beziehung des Gegenstandes zur Theorie selbst auszuweiten (und damit sporadisch: auszuklammern), also insgesamt weniger explizite Arbeit an der Theorie geleistet wird, als ein vornehmlich theorieinteressierter Leser vielleicht vor der Lektüre erhofft hat, öffnet der Band dennoch viele Türen für eine neue Diskussionen zum Populärem. Speziell in Auseinandersetzung mit den sich an der poststrukturalistischen Erbmasse abarbeitenden Cultural Studies bieten die Beiträge erhellende Klarstellungen und reichlich Diskussionsstoff. Nichts desto weniger bleiben einige für eine Theorie des Populären unabdingbare Problemkreise m.E. etwas falsch akzentuiert oder unterbelichtet.

[31] 

Ein Beispiel ist der Umstand, dass das Populäre nicht nur ein Phänomen, sondern ein wesentliches Gestaltungsmittel des Alltags ist. Es wäre interessant gewesen, die stellenweise etwas holzschnittartigen systemtheoretischen Analysen (etwa zur Individualisierung) ausführlicher mit Erkenntnissen aus anderen Teilbereichen der soziologischen sowie medien- und kulturwissenschaftlichen Theoriebildung zu konfrontieren. Der in dem Band allenthalben formulierte (selten aber wirklich durchdachte) Bezug zwischen dem Populären und dem ›Wissen‹ von Systemen wäre ein solcher Bereich. Dieser Bereich wird verschiedentlich berührt (so z.B. bei Zorn), aber – ganz im Gegensatz etwa zum Verhältnis zwischen Populärem und Kunst sowie der Differenz zwischen Populärem und Werbung – nicht wirklich durchgearbeitet. Hier wäre es für meine Begriffe wichtig gewesen, eine explizit wissenssoziologisch argumentierende Perspektive einzubinden.

[32] 

Ein anderer Aspekt ist die Diskussion des in den Beiträgen in meinen Augen zu kurz abgehandelten Zusammenhangs zwischen Öffentlichkeit und Populärem. Zwar wird die Relevanz der Kategorie der Öffentlichkeit für das Populäre konstatiert und auch ansatzweise diskutiert (so bei Helmstetter und Ruchatz). In gewisser Weise ist es aber charakteristisch für den ganzen Sammelband, wenn Stäheli versucht, das Problem unter dem Dachbegriff der Medialität abzuhandeln. Falsch ist das ganz sicher nicht. Nur tendiert dieser Ansatz dazu, die weitest gehend ungeklärte Frage zu übergehen, wie sich Medialität zu Öffentlichkeit verhält. Diedrich Diedrichsen legt hier mit einer knappen Bemerkung den Finger in die Wunde: »Pop war in der Alltagssprache des letzten Jahrzehnts aber auch so etwas wie eine Alternative zur traditionellen Idee der Öffentlichkeit […]« (S. 325).

[33] 

Das eigentliche Manko daran ist, dass diese Erörterung der Rolle der Öffentlichkeit für das Populäre in den Beiträgen zu keinem Zeitpunkt unter einer weiterführenden Einbindung der Theorie der Öffentlichkeit – und hier nahe liegender Weise: Niklas Luhmanns Theorie der Öffentlichkeit – stattfindet. 2 Man kann es niemanden übel nehmen, zum Zwecke einer exemplarischen systemtheoretischen Analyse des Populären das nahezu unüberschaubare Forschungsfeld zur Öffentlichkeit zu ignorieren. Zu einem Defizit droht dies aber dort zu werden, wo der Anspruch im Raums steht, an der Systemtheorie selbst zu arbeiten. Zumindest eine Berücksichtigung von Niklas Luhmanns Schriften zum Thema wären m.E. in vielerlei Hinsicht für die Diskussion zum Populären relevant gewesen. Zum einen würden hierdurch wichtige Theoriegrenzen (nicht ›Begrenzungen‹!) der Systemtheorie im Vergleich zu anderen Zugriffen erkennbar (und damit die spezifischen Vorzüge und Probleme eines systemtheoretischen Forschungsdesign noch klarer konturiert). Zum anderen hege ich den Verdacht, dass speziell die intrasystemtheoretische Diskussion mit einer klaren Abgrenzung von Öffentlichkeit und Populärem ihre Schwierigkeit haben könnte – was umgekehrt bedeuten würde, dass diese Diskussion klärenden Charakter in Bezug auf die systemtheoretische Konzeptionalisierung des Populären generell mit sich führt. Ein Beispiel für diese Vermutung ist das Problem, ob die Funktionen des Populären (besonders Pop) immer relativ zu einem System neu gedacht werden müssen, oder ob es nicht doch eine übergreifende Funktion für alle Systeme hat (oder gar ein eigenes System ist). Eben das hat Luhmann auch im Rahmen seiner Bemerkungen zur Öffentlichkeit zu diskutieren versucht. Einen Fehler sollte eine systemtheoretische Auseinandersetzung mit dem Populären also auf keinen Fall machen: Das Problem der Öffentlichkeit als gelöstes oder theorieimmanent uninteressantes Phänomen auszuklammern. Sofern man Öffentlichkeit im Rahmen modernerer Begriffe wie Medialität abhandelt, könnte eine präzise Rekonstruktion der Konzeption (und besonders: der konzeptionellen Schwierigkeiten), die Luhmanns Thesen zur Öffentlichkeit mit sich führen, aufklärende Wirkung auch für eine systemtheoretische Beschreibung des Populären haben.

[34] 

Schließlich noch ein weiterführender Gedanke: Betrachtet man die Rezeption der Systemtheorie in den Sozial-, Medien- und Kulturwissenschaften – hier machen die Beiträge des Bandes keine Ausnahme – fällt auf, dass die allermeisten Autoren der Grundanlage von Luhmanns Theoriedesign darin folgen, sich im Rahmen der Differenz von Bewusstsein und Kommunikation vornehmlich für die Seite der Kommunikation (die erst zu Sozialität, Kultur, Medien etc. führt) zu interessieren. Das Bewusstsein bleibt im wahrsten Sinne ›außen‹ vor. Ein Aufsatz wie der von Kiefer und seiner Einbindung kognitionspsychologischer Überlegungen aus dem Bereich der Narratologie illustriert allerdings, wie interessant es in einer kulturwissenschaftlichen Erörterung des Populären sein kann, das Problem des »Bewusstseins« mit ins Kalkül zu nehmen (Stichwort: Aufmerksamkeit, Werbung etc.). Was fasziniert eigentlich das Bewusstsein (und warum)? Wenn Pethes völlig zurecht »die anhaltende Faszinationskraft physischer Intensität in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft« (S. 236) als populärem Phänomen betont oder Huck den Erregunswert von Richardsons Pamela in seinen historischen Bedingungen aufzeigt, dann unterstreichen solche Ansätze, dass man das Bewusstsein als einem zentralen Element einer Theorie des Populären nicht einfach (mit einer schlecht verstandenen ›subjektkritischen‹ Geste) aus der Diskussion ausklammern kann. Es gehört wohl zu den wichtigsten zukünftigen Forschungsfeldern, Populäres immer auch als ein qualitatives Erregungsphänomen für psychische Systeme zu beschreiben. Eine ›Systemtheorie des Populären‹ ist so lange unvollständig, solange sie das nicht zu leisten vermag. Wo die Beiträge des Bandes also nur ansatzweise Andeutungen machen, sollte man in Zukunft mutig weitermarschieren. Will die Systemtheorie wirklich eine innovative Theorie des Populären sein, muss sie sich m.E. um eine stärkere Einbindung kulturpsychologischer, psychoanalytischer, kognitionswissenschaftlicher oder auch soziobiologischer Erkenntnisse zum Bewusstsein bemühen (hier kann sie getrost ihrem Vordenker folgen. Wenn ein Autor offen für andere Theoriebildungen war, dann wohl Luhmann). 3

[35] 

Weiterführende Gedanken wie dieser bieten zum Abschluss Gelegenheit, die große konzeptionelle Stärke des Bandes herauszustellen. Die Systemtheorie wird hier nicht scholastisch betrieben, sondern die Autoren versuchen, die offenen Fäden der Systemtheorie weiterzuspinnen. Unter dem Strich ist Das Populäre der Gesellschaft deshalb ein außerordentlich interessanter Sammelband, der die theoretische Diskussion um das Populäre um einen grundlegenden Beitrag reicher gemacht hat. Seinem selbst gesetzten Anspruch, im interdisziplinären Zugang auf die Populärkultur die systemtheoretische Stimme vernehmbar zu machen ohne den intratheoretischen Problemen und Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, wird der Band in jeder Hinsicht gerecht. Dem sehr gut redigierten und lobenswerterweise mit einem umfassenden Register versehenen Buch ist daher eine breite Rezeption zu wünschen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 397 f. Siehe auch Zitate wie in N. L.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt/M: Suhrkamp 1999, S. 109, Fn. 143: »Der systemtheoretische Ansatz hat […] den Vorteil, den unklaren Begriff der ›Kultur‹ entbehrlich zu machen und die Distanz zwischen psychischen und sozialen Systemen extrem werden zu lassen« oder ebd., S. 881: »Der Begriff [Kultur, C.E.] bleibt jedoch undefiniert oder kontrovers definiert. Er lebt nur davon, dass ein Vorschlag, auf ihn zu verzichten, wenig Erfolg hätte, solange keine Nachfolgebegrifflichkeit mitangeboten wird«.   zurück
Vgl. insb. Niklas Luhmann: Öffentliche Meinung. In: Politische Vierteljahresschrift 11 (1970), S. 2–28; N. L.: Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien. In: N. L.: Soziologische Aufklärung. Bd. 3: Soziales System, Gesellschaft und Organisation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 1981, S. 355–368; N. L.: Gesellschaftliche Komplexität und öffentliche Meinung. In: N. L.: Soziologische Aufklärung. Bd 5: Konstruktivistische Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 1990, S. 163–176; N. L.: Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 183–189. Vgl. auch Dirk Baecker: Oszillierende Öffentlichkeit. In: Rudolf Maresch (Hg.): Medien und Öffentlichkeit. Positionierungen, Symptome, Simulationsbrüche. München: Boer 1996, S. 89–107.   zurück
Anknüpfend an die Bemerkungen zu Wissen und Öffentlichkeit wird diese Integration vor allem mit Hilfe solcher Theorien möglich, die Konzepte wie Medialität nicht nur als neue Begriffe für öffentliche Kommunikation postulieren, sondern die Mobilisierung kognitiver Potenziale als zentrale Funktion ›öffentlicher‹ Kommunikation (etwa im Sinne ostentativen Handelns) von vorne herein mit berücksichtigen – wo also die Analyse von Populärkultur (wie von Kultur überhaupt) nicht einfach nur von Diskursen oder Medien her motiviert ist, sondern die daran beteiligten psychischen Systeme und ihre (tendenziell: impliziten) Wissensbestände (mitsamt der sie beschreibenden Vokabulare) a priori in die Theoriebildung eingerechnet werden. Vgl. dazu exempl. die kulturtheoretischen Ideen bei Matthias Bauer: Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit – Medien der Kulturpoetik. Zum Verhältnis von Kulturanthropologie, Semiotik und Medienphilosophie. In: Christoph Ernst / Petra Gropp / Karl-Anton Sprengard (Hg.): Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie. Bielefeld: transcript 2003, S. 94–118. Zum theoretischen Hintergrund auch die Ausführungen zum Verhältnis von Kommunikation und Situation in Joachim Renn: Übersetzungsverhältnisse. Perspektiven einer pragmatistischen Gesellschaftstheorie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2006, S. 235 ff.   zurück