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Die Häretiker zwischen Dramen-
und Erzähltheorie

  • Holger Korthals: Zwischen Drama und Erzählung. Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur. (Allgemeine Literaturwissenschaft. Wuppertaler Schriften 6) Berlin: Erich Schmidt 2003. 493 S. Paperback. EUR (D) 44,80.
    ISBN: 978-3-503-06176-1.
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Holger Korthals verfolgt zwei Anliegen in seiner 2001 in Wuppertal angenommenen und 2003 erschienenen Dissertation Zwischen Drama und Erzählung mit allem Nachdruck. Seine erste Absicht ist zu zeigen, dass man erzähltheoretische Einsichten auf Dramen anwenden kann. Hieraus ergibt sich sein zweites Anliegen, nämlich die Untauglichkeit der Gattungstrias – Epos, Lyrik und Drama – vor allem systematisch, aber auch historisch vorzuführen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Verwandtschaft zwischen dramatischer und epischer Dichtung weit höher ist, als nach herrschender Meinung angenommen wird. Die Studie bildet, so harmlos die Themenwahl anmutet, eine Provokation, die sich an die gegenwärtige Literaturwissenschaft – auch an die Narratologie – richtet. Um es vorwegzuschicken: es ist eine gelungene, notwendige, instruktive Provokation.

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In der Beschäftigung mit seinem ersten Anliegen gelingt Korthals en passant, nicht nur das Verhältnis zwischen Dramen und Erzählungen, sondern auch zwischen Dramen- und Erzähltheorie auszuloten. Seine Arbeit ignoriert nämlich glücklicherweise die Dramentheorie des 20. Jahrhunderts nicht, wie dies wohl für ein narratologisches Vorgehen probat wäre. Ähnlich ist seit jeher die Erzähltheorie – die ja stets nicht zuletzt eine Theorie des Romans gewesen ist – mit der Romantheorie verfahren, die ja auch eine ›Theorie des Romans‹ und damit der erzählerischen Vermittlung vorgelegt hat. Das Selbstverständnis der Romantheorie und der Dramentheorie weicht jedoch grundlegend von demjenigen der Erzähltheorie ab. Letztere interessiert sich, vereinfacht gesagt, für allgemeingültige Aussagen über Literatur, während erstere sich traditionell an das Besondere eines einzelnen Werkes oder eines Corpus in seiner Epoche wenden und gelegentliche normative Aussagen nicht scheuen. Roman- und Dramentheorien sind interpretationsorientiert; dagegen versteht sich Erzähltheorie als eine Richtung, die zwar bemüht ist, Werkzeuge für die Textinterpretation bereitzustellen, aber in erster Linie als positive Wissenschaft mit eigenem Erkenntnisrecht auftritt. 1 Eine solche Einteilung von Dichtungstheorie und Literaturwissenschaft ist grob und vereinfachend und wird nicht einmal der Tatsache gerecht, dass in beiden Lagern wieder Theoretiker und Praktiker sitzen, die einander befehden. Aber sie dient als Orientierung für Korthals’ Leistung.

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Denn Korthals wagt den Brückenschlag zwischen beiden Richtungen, der zumindest in den letzten Jahrzehnten immer unwahrscheinlicher zu werden schien. In diesem Brückenschlag liegt der Innovationsgehalt der Studie. Was nämlich die zentrale Begriffsarbeit anbelangt – die alles in allem im Vorschlag mündet, narratologische Termini auf Dramen anzuwenden –, rennt die Arbeit offene Türen ein. Viele namhafte Narratologen fordern längst die Anwendung erzähltheoretischer Erkenntnisse auf das Drama; Barthes und Chatman haben sich seit jeher nicht nur über Romane sondern auch über Filme geäußert. 2 (Es ist im Laufe der Rezension auf die Frage zurückzukommen, warum Korthals den Film so gut wie nie erwähnt.) Diese Möglichkeit gilt als so selbstverständlich, dass es kaum nötig geschienen hat, einmal darauf hinzuweisen, dass die Narratologie immer schon auch über das Drama geredet hat, wird doch längst die Anwendbarkeit narratologischen Denkens auf Musik und Malerei erprobt. 3 Auch gibt es aktuelle Beiträge zum Verhältnis zwischen dramatischen und epischen Texten. 4 Bereits die klassische Terminologie der Gattungstrias ist so hinreichend erschüttert, dass nur noch hartgesottene Literaturhistoriker problemlos Drama und Erzählung gegenüberstellen könnten; kaum ein Literaturwissenschaftler würde umstandslos die Ausdrücke ›Epik‹ und ›Erzählen‹ oder gar ›Epos‹ und ›Erzählung‹ gleichsetzen.

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Korthals’ Studie hat nun aber nicht die Absicht, die Überlegenheit der Narratologie über die traditionelle Dramentheorie zu demonstrieren. Zwar wird die Dramentheorie in nicht geringem Maße als zu ungenau zurückgewiesen, aber der Clou dieser Arbeit liegt darin, dass sie eine dramentheoretische Poetologie für das, was heute Narratologie heißt, ernst nimmt, also – vereinfacht gesprochen – die aktuelle Erzähltheorie mit ›klassischer‹ Dramentheorie konfrontiert. Umgekehrt signalisiert die Studie einen gewissen Vorbehalt gegen die inzwischen etablierte Texttheorie in Gestalt der Narratologie. In dem, was Korthals an der Dramentheorie ernst nimmt, weist er ein Gebaren der Narratologie zurück, das darin besteht, poetologischen Fragen fehlende Theorietauglichkeit zu attestieren.

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Das zweite Anliegen der Studie gilt der Abgrenzung der drei Gattungen voneinander. Dabei stellt Korthals einmal mehr – aber aus neuartiger Perspektive – fest, dass die Trias alles andere als systematisch ist. Er ergänzt die inzwischen bekannte Einsicht, dass sie nicht ›naturgegeben‹ ist und keine Tradition bis in die Antike hat, um die Darlegung ihrer systematischen Mängel. Die Abgrenzung zwischen Dramen-, Roman- und sogar Lyriktheorie ist das Ergebnis dieses Glaubens an die Gattungstrias. So steht am Beginn der Dramen‑ und der Romantheorie ein unhaltbares Dogma, das ihnen die mangelnde Systematik bereits in die Wiege gelegt hat.

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Korthals wählt seinen Weg mit scharfem, im besten Sinne naivem Blick, der die fraglos von weiten Teilen der wissenschaftlichen Literatur vorausgesetzten Unterscheidungen ihrer Kontingenz überführt. Denn viele der Ordnungen, die der Literatur zugeschrieben werden, sind zwar weder unmöglich noch notwendig und daher kontingent. Doch liegt oft mehr als bloße Kontingenz vor: vielmehr ist es nachgerade Willkür. Denn viele der Ordnungsprinzipien sind nur der Absicht verpflichtet, dass augenscheinlich Ordnung herrsche. Aber – und darin liegt die Crux – augenscheinliche Ordnung lässt sich herstellen, indem man alle Dinge nach willkürlich ausgesuchten Schemata in Schubladen stopft. Alle grünen Gegenstände in die oberste Schublade, und alle, die man ein- und ausschalten kann, in die unterste… 5 Nur erfährt man auf diese Weise wenig über die Dinge; auch findet man sie in den vielen Schubladen am Ende nicht wieder. Gerade ein solcher Glaube an die voraussetzungsfreie Existenz von ›Merkmalen‹ und ›Kriterien‹ identifiziert sich allerdings mit Wissenschaftlichkeit. Da aber die Zuordnung von Merkmalen und Kriterien selbst nicht wieder über Merkmale und Kriterien verläuft und dieser unmögliche Regress förmlich verdrängt werden muss, ist der Glaube an eine Systematisierung über Merkmale und Kriterien vielleicht sogar eine Bedrohung für das wissenschaftliche Denken selbst. Die Alternative zum Glauben an Kriterien liegt vor allem in einem Verständnis von Theorie, das Begriffsbildung nur dann erlaubt, wenn ein Begriff ein Wie zu erläutern vermag und nicht nur ein bloßes Was setzt.

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Der Vorwurf falscher Glaubensannahmen lässt sich indes gegen die systematischen Offerten von Korthals’ Buch kaum erheben. Aber wenn man akzeptiert, mit seinem Blick sich der Vielfalt der Literatur zu stellen, so lassen sich gegen einige seiner Vorschläge durchaus dieselben Bedenken anführen, die er gegen andere vorbringt. Darin begründet sich kein Scheitern des Buches. Im Gegenteil wird es besonders lehrreich gerade dann, wenn es die wenigen verbleibenden Pfade weist, die zu gehen sind, ohne ›um der Wissenschaft willen‹ die Phänomene vereinfachend zurechtzustutzen.

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Offerten

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Die zentrale These von Korthals’ Studie ist, dass sich dramatische und epische Texte strukturell nicht grundsätzlich voneinander unterscheiden, das heißt, dass es in den Texten keine Stellen gibt, die als genuin dramatisch oder narrativ zu bezeichnen wären. Eine solche These stößt unweigerlich auf ein Denkhindernis: wie soll das Fehlen eines Unterschieds diskutiert werden, wenn zum Vergleich der beiden Gegenstände ein Unterschied da sein muss, damit man überhaupt formulieren kann, es gebe keinen?

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Korthals entwindet sich dieser Aporie, indem er den dramatischen und den narrativen Modus ›heuristisch‹ unterscheidet. Der Begriff des Modus bezieht sich nicht notwendig auf ganze Texte, sondern bezeichnet eine lokal charakterisierbare Darstellungstechnik. Korthals kann sich bei seinem heuristischen Ansatz darauf verlassen, dass man zumindest ›epische‹ Romane und ›dramatische‹ Tragödien in der Welt sicher ausmachen kann, also eine absolute Ununterscheidbarkeit kaum seriös behauptet werden könnte. Es gibt eine Unterscheidung für ganze Texte, die durch die poetologische Tradition recht fest erscheint und die zunächst einmal als unabhängig von wissenschaftlichen Systematisierungsversuchen als historisch-kulturelles Phänomen zu akzeptieren ist. Texten haftet – mindestens konventionell – das Etikett ›narrativ‹ oder ›dramatisch‹ an. Die Frage ist nur, wie konventionell dieses Etikett letztlich ist.

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Erst am Schluss der Studie gelangt Korthals zu einer positiven Bestimmung der beiden Modi. Hierbei greift er auf die Begriffe Haupt- und Nebentext zurück; der Nebentext besteht aus den anderweitig so genannten Bühnenanweisungen, der Haupttext vor allem aus der Figurenrede. Den dramatischen Modus zeichnet aus, dass »die Rede des Geschehensvermittlers gemäß dem starren Schema von Haupt- und Nebentext getrennt« wird, während sich beim narrativen Modus »die Geschehensdarstellung aus einem freien Zusammenspiel von Rede der Geschehensteilnehmer und Rede einer Erzählinstanz ergibt« (S. 457). Ob Korthals mit dieser Unterscheidung ein neues Terrain betritt oder aber eine längst festgefügte Terminologie lediglich leicht variiert, 6 wird erst im weiteren Verlauf dieser Besprechung zu bewerten sein. Mit Korthals’ Unterscheidung könnte man sagen, dass The Waves von Virginia Woolf (ein Beispiel, auf das Korthals nicht zurückgreift) zwar ein narrativer Text ist, der aber überwiegend im dramatischen Modus gehalten ist.

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Selbst wenn Korthals am Ende eine Definition für beide Modi liefert, regt er zugleich an, eine ganz andere Unterscheidung in den Mittelpunkt zu stellen und damit die Modi sowie das Reden über ›Dramatisches‹ und ›Narratives‹ zurückzustellen. Als Ersatz dafür bietet er die Unterscheidung von Montage und Integration an. Die Integration, charakteristisch für das ›Narrative‹, besteht in der synthetisierenden Organisation von Elementen der Geschehensdarstellung (vgl. S. 461); diese Elemente werden zueinander in explizite Beziehung gesetzt und in diesem Sinne einander vermittelt. Mit ›Montage‹ will Korthals nicht auf bestehende literaturwissenschaftliche Verwendungsweisen des Ausdrucks zurückgreifen, sondern meint eine unvermittelte Nebeneinanderstellung von Elementen der Geschehensdarstellung. Ein einfaches Beispiel ist die Vermittlung von Gespräch: bei der Monatage werden Repliken hintereinander gesetzt, bei der Integration dagegen mit passenden Inquit-Formeln untereinander organisiert (›fragte er‹ vs. ›behauptete sie‹ etc.). Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung (die sich als graduelle begreifen lässt) kann man etwa für Woolfs Waves klar sagen, dass – trotz der inquit-Formeln – Montage dominiert.

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Doch bevor Korthals diese abschließenden Vorschläge formuliert, klärt er den Grundbegriff seiner Arbeit, den der Geschehensdarstellung; diesen Begriff nutzt er für die Definition der Modi und des Paares Integration/Montage. Eine Geschehensdarstellung liegt vor, wenn Figuren etwas bewirken oder erleben und diese Gegebenheiten in zeitlicher Folge präsentiert werden. Es handelt sich somit um die Minimalvariante des strukturalistisch geprägten Verständnisses von Erzählen mit einer Betonung nicht auf Kausalität, sondern auf Handeln und Erleben. Dies steht im Einklang mit Chatmans Formulierung von der »doppelten Zeit-Logik«; 7 ferner beruft sich Korthals auf Dietrich Weber. Der Geschehensdarstellung werden Deskription und Argument gegenübergestellt. Auch diese Unterscheidung ist weitgehend an Chatman orientiert. Dabei handelt es sich bei den drei Typen um keine Partitionierung; das heißt, es gibt Elemente, »die von keiner der drei Kategorien abgedeckt werden« (S. 356). Zumindest Abschnitte gewisser Länge sollen durch diese Unterscheidung klassifizierbar sein. Argumentation charakterisiert sich durch Überzeugungsversuche. Die Deskription vermag Korthals lediglich negativ zu definieren, nämlich als die Vermittlung von Eigenschaften von Entitäten, ohne dass es dabei zur Geschehensdarstellung kommt (vgl. S. 378). Eine solche Bestimmung von Deskription stellt vor allerlei Probleme, die Korthals benennt und die weiter untern ausführlich diskutiert werden sollen. Die Abgrenzungen zwischen Geschehensdarstellung, Deskription und Argumentation sind wichtig, um zu klären, an welchen der Textpassagen überhaupt die Modi in Erscheinung treten. Dabei wird deutlich, dass zwar einzelne Textstellen durchaus ohnehin das Raster von ›Dramatischem‹ und ›Narrativem‹ sprengen können (nämlich indem sie deskriptiv oder argumentativ sind), dass aber wiederum sowohl die Deskription als auch das Argument mit ›Drama und Erzählung‹ vereinbar sind. Speziell für das Drama gilt dies nicht als selbstverständlich.

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Um diese Nähe zwischen ›Dramatischem‹ und ›Narrativem‹ postulieren zu können, ist es erforderlich, eine Instanz anzunehmen, der alle Textoperationen zuzurechnen sind, also vor allem die Geschehensvermittlung, aber auch Deskription und Argument. Speziell bei der Geschehensdarstellung ist es dieser Instanz zuzurechnen, welcher der Modi überwiegt. Beim dramatischen Modus weist diese Instanz den Figuren ihre Repliken zu; beim narrativen dagegen verantwortet sie den Erzähler. Als diese Instanz benennt Korthals den Autor und entscheidet sich so gegen die Theorie des impliziten Autors oder gegen verwandte Modelle. Er betont aber, dass diese Entscheidung nicht letztlich begründbar ist. Man könnte auch sagen, dass seine Entscheidung ›pro Autor‹ schließlich kontingent ist: weder logisch unmöglich – noch zwingend durch die Phänomenlage geboten.

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Aufbau der Studie

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Die Arbeit gliedert sich in sieben Kapitel sehr unterschiedlicher Länge.

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Das äußerst knappe erste Kapitel setzt mit einer historischen Verortung des Problems an: erst im Naturalismus nähert sich das Drama epiktypischen Darstellungstechniken so weit an, dass die geltenden Einschätzung davon, wie ein Drama zu sein hat, nachhaltig erschüttert sind. Hier setzt Korthals einen ersten Akzent seiner Ausführungen: die Dramentheorie des 20. Jahrhunderts wird in ihrem Anspruch ernst genommen.

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Nachdem die Wertschätzung für die klassische Dramentheorie betont worden ist, folgt im zweiten Kapitel eine geraffte Kritik. Diese ist zugleich ein Kurzfeuerwerk der Analyse: Korthals zählt sechs Versuche auf, die Unterscheidung Episches/Dramatisches durchzuführen, und weist sie allesamt zurück. Drei der Zurückweisungen nimmt er in diesem zweiten Kapitel vor; die drei weiteren Erschütterungen der Unterscheidung werden für die nächsten Kapitel angekündigt. Die abgewiesenen Annahmen sind die folgenden (verkürzt wiedergegeben): (1.) »Drama und Erzählungen liegen je verschiedene Stoffe zugrunde« (S. 37); (2.) das Drama besitzt eine »Finalorientierung« (S. 43); (3.) das Drama bewirkt »Spannung oder gar Identifikation«, während »der Rezipient einer Erzählung entspannt und distanziert« bleibt (S. 48); (4.) Dramen werden aufgeführt und Erzählungen gelesen (S. 51); (5.) im Drama ergibt sich das Geschehen »allein aus der Rede der Figuren«, bei der Erzählung wird es »von einem Erzähler vermittelt« (S. 52); und (6.) das Drama stellt Geschehen »als gegenwärtig« dar und die Erzählung »als vergangen« (S. 52). Hinzu kommt in diesem zweiten Kapitel eine Diskussion der Genese der Gattungstrias. Kurz, aber schlüssig wird darauf hingewiesen, dass eigentlich längst bekannt sein müsste, dass die Trias ihren Ursprung weniger in der Antike und am wenigsten in Aristoteles hat, sondern sich im Laufe der Neuzeit herausgebildet hat und erst von Goethe ›kodifiziert‹ worden ist. Das zweite Kapitel ist das Kernstück der Arbeit. Das Bedürfnis nach Systematik nimmt sich der über Jahrhunderte sedimentierten Ideen über Drama, Theater und Erzählung an.

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Nach dieser dichten und überblicksartigen Darstellung wendet sich das ebenfalls kurze, dritte Kapitel konzentriert dem wichtigsten Vorwurf an die klassische Dramentheorie zu. Es handelt sich um diejenige Konfusion, die nach Korthals’ Auffassung am stärksten zu einer unklaren Dramentheorie geführt hat: die In-Eins-Setzung von Dramentext und Theateraufführung. Gleichzeitig legt Korthals dar, dass in der Tat nicht geringe Teile der Literaturwissenschaft stillschweigend von dieser In-Eins-Setzung ausgehen. In der Regel vergleicht die literaturwissenschaftliche Debatte eine rein verbale Erzählung mit einer Aufführung auf der Bühne (das ist der Punkt 4 der Liste aus dem zweiten Kapitel). Die Debatte unterstellt, dass der gedruckte Dramentext nichts anderes als eine Vorlage für die Aufführung ist, die Komposition eines Dramas sich also auf die Bühne und nicht auf eine ›papierne Lektüre‹ richtet. Genauer gesagt wird das ›papierne Drama‹ vor dem Hintergrund seiner möglichen Bühnenrealisation interpretiert. Dieses Argument setzt die Dissertation sehr sorgfältig auseinander und behandelt es im dritten Kapitel nicht abschließend. Sie versucht nicht zu behaupten, dass etwa ein Romantext genauso gut wie ein Tragödientext eine Bühneninszenierung anzuleiten weiß. Sie verweist nur darauf, dass unklar ist, weshalb sich Texte in überwiegend dramatischem Modus besser für eine Umsetzung auf der Bühne eignen als solche in überwiegend narrativem Modus. Im dritten Kapitel wird das argumentative Fundament für die anschließenden detaillierten Überlegungen gelegt.

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Bis hierhin wendet sich Korthals fast ausschließlich den ›selbstverschuldeten‹ Problemen der Dramentheorie zu, also den Widersprüchen, die von unsystematischen Grundannahmen herrühren. Vom vierten bis zum siebten Kapitel treten die Angebote der Narratologie und anderer literaturwissenschaftlicher Theorien stärker in den Vordergrund und konkurrieren mit der Dramentheorie. Zugleich geht es aber auch darum, die Anwendbarkeit etwa von Genettes Theorie auf das Drama nachzuweisen.

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Neben der Einbindung anderer Theorie werden nun verstärkt Beispiele für literarische Texte vor allem aus dem westlichen Kanon angeführt. Sie werden glücklicherweise meist in der Ursprungssprache (die Ausnahme ist das Russische) zitiert. Sieht man vom Englischen und Französischen ab, werden die angeführten Textstellen in Fußnoten übersetzt. 8 Meist sind die Zitate aus literarischen Texten ungewöhnlich umfangreich. Man begegnet anderthalb Seiten langen Passagen aus römischen Dramen (auf Latein); mit Shaffers Amadeus sind – allerdings mit kurzen Unterbrechungen – sogar praktisch drei Seiten der Arbeit gefüllt. Zitate, die sich auf eine halbe Seite ausdehnen, sind bei dieser Studie die Norm. Korthals gibt oft nur einen kurzen Hinweis, worauf zu achten ist, und die langen angeführten Textstellen stehen für sich. Unerfreulich ist, dass die Studie die Genauigkeit der eigenen Lektüre nicht ausweist und sie damit nicht anderen zuteil werden lässt. Dieses Verfahren hat durchaus Gründe, die Korthals allerdings nicht expliziert. Die Untersuchung beschäftigt sich nämlich mit Gegebenheiten in der fiktiven Welt (dem ›Geschehen‹ der ›Geschehensdarstellung‹). Es handelt sich, wie man bündig formulieren könnte, um mundane Interpretation, also um Interpretation, die Ereignisse, Dinge und Personen in der fiktiven Welt analysiert, als seien sie nicht durch Text vermittelt, sondern schlicht bekannt. Bei einer mundanen Analyse ist das Zitat ein eher untaugliches Werkzeug; die Paraphrase ist adäquat und üblich. Doch will es Korthals nicht bei einer Paraphrase bewenden lassen – und das zu Recht. Denn die Studie möchte die Literatur selbst zu Wort kommen lassen und damit ihre Nähe zur interpretationsorientierten Literaturwissenschaft signalisieren. Der Überschuss, den Korthals produziert und durch den die Zitate ein ungewöhnliches Eigenleben entwickeln, ist programmatisch. Er will auch wertvolle Lektüreanregung sein – für literarische Texte, die durch ihre Eigenarten faszinieren. Still plädiert Korthals auf diese Weise für ein wenig mehr literaturwissenschaftliches Gelehrtentum und für weniger Wissenschaftlichkeitspathos. Er wendet sich dagegen, dass nicht geringe Teile der Literaturwissenschaft sich nicht mehr für die Literatur aufwenden, sondern sie als Lager für ›bemerkenswerte Textstellen‹ ansehen, die dem Beleg dienen; daher ist es nur konsequent, wenn seine Exzerpte bisweilen ohne allzu enge Anbindung an Korthals’ eigene Überlegungen für sich stehen.

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Ab dem vierten Kapitel setzt Korthals an, konstruktiv an Begriffsbildungen zu arbeiten und Textbeispiele zu diskutieren. Speziell das recht breite vierte Kapitel setzt dazu die Grundvoraussetzungen, indem es diverse Begriffe vorschlägt. Einige davon – wie Jakobsons Funktionskatalog – werden nur eingeführt, um die heuristische Unterscheidung zwischen dramatischem und narrativem Modus zu bestimmen und für den Einstieg plausibel zu machen. Sodann wird das Konzept der Geschehensdarstellung erläutert, das sich stark an Positionen orientiert, die Korthals’ Lehrer, Dietrich Weber, vertritt. Korthals ist es wichtig, den spezifisch narrativen Bericht zu charakterisieren, um zu einer deutlicheren Vorstellung vom narrativen Modus zu gelangen. So stellt er dem narrativen Bericht den teichoskopischen gegenüber. Die Teichoskopie ist der zeitgleiche Bericht eines gegenwärtigen Zeugen – ursprünglich ein Terminus vor allem des Dramas (Mauerschau): wenn eine Figur ein Geschehen erzählt, das sie gerade sieht, aber das dem Zuschauer nicht gezeigt wird. Narration dagegen markiert immer eine zeitliche Differenz zwischen Dargestelltem und dem Zeitpunkt, zu dem die Darstellung erfolgt. Am Ende des Kapitels problematisiert Korthals die gewonnenen Unterscheidungen mit Blick auf die Literatur des 20. Jahrhunderts. Texte – egal ob in eher narrativem oder dramatischem Modus – stellen bisweilen kein Geschehen mehr dar; damit hört die Modus-Unterscheidung auf, anwendbar zu sein. Die Studie stellt einschlägige Texte vor und legt damit die Grenze ihres Untersuchungsfeldes fest.

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Mit Geschehensdarstellung und Modus ist ein Terrain eingezäunt, in dem die Darstellungstechniken genauer untersucht werden können. Im fünften Kapitel zeigt Korthals, dass es möglich ist, viele von Genettes erzähltheoretischen Kategorien auch auf Texte im dominant dramatischen Modus anzuwenden. Das Kapitel ist von der Bewunderung für Genettes Leistung geprägt, auch wenn Korthals Genettes Neigung zu hierarchisch strukturierten Denkgebilden kritisiert. Genuin Genette’sche Themen sind Ordnung, Dauer, Frequenz, Modus und Stimme; sie erweisen sich als auf das Drama anwendbar. Die Darstellung von Sprache und von Gedanken geht bereits leicht über Genette hinaus; doch auch hier konstatiert Korthals mindestens Vergleichbarkeit zwischen dramatischem und narrativem Modus, selbst wenn der Gedankenbericht eher im narrativen Modus beheimatet ist. Punkt 6 der Liste aus dem zweiten Kapitel, das zeitliche Verhältnis von Darstellen und Dargestelltem, wird erst hier vor dem Hintergrund von Genettes Überlegungen ausgeleuchtet und konkret anhand der Wahl der Tempora im narrativen und dramatischen Modus analysiert. Nur zu einem Aspekt stellt Korthals dezidiert einen Unterschied zwischen beiden Modi fest: hinsichtlich der Fokalisierung kennt der dramatische Modus – mit Bezug auf den extradiegetischen Erzähler 9 – fast nur den externen Typ.

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Das sechste Kapitel kündigt sich als Fortsetzung des fünften an, das aber über Genette hinausgehen will. Tatsächlich aber vollzieht es einen Schwenk zur klassischen Dramentheorie und zum Vorwort. In den Vorbemerkungen zur Studie heißt es nämlich, es sei ursprünglich »lediglich der Plan einer kritischen Revision der literaturwissenschaftlichen Einschätzung des ›epischen Theaters‹« (S. 9) gefasst worden, doch habe sich dieses Thema angesichts zu großer Verbindungen in die übrige Dramen- und Erzähltheorie als zu eng erwiesen. Das lange sechste Kapitel löst das Versprechen einer ausgiebigen Auseinandersetzung mit dem epischen Theater ein. Selbst wenn Beispiele aus Bertolt Brechts Dramen selten sind, sollte dieses Kapitel von besonderem Wert für die Brecht-Forschung sein. Drei mögliche Aspekte des epischen Theaters werden in den Vordergrund gerückt: seine Affinität zum Argument (im Gegensatz zur Geschehensdarstellung), sein Verhältnis zur Leser‑ beziehungsweise Zuschauer‑Illusion sowie die besondere Stellung des Autors. Der erste Komplex untersucht das Verhältnis von Geschehensdarstellung zu Deskription sowie Argumentation. Den zweiten Komplex bildet die Fiktionstheorie. Dabei setzt sich Korthals allerdings denkbar wenig mit bestehenden Fiktionstheorien auseinander. Er streift nur Käte Hamburger, John R. Searle und Gérard Genette und erwähnt nicht einmal Frank Zipfels Dissertation 10 , geschweige denn die poststrukturalistische Kritik an analytischen Positionen, sondern wendet sich letztlich der Illusion (im Sinne von Werner Wolf) zu. Diese setzt er mit Fiktion gleich und diskutiert ihre Möglichkeit kontrovers. Fraglich ist am Ende, ob das sogenannte epische Theater grundsätzlich viele ›illusionsstörende‹ Momente aufweist. Der dritte Komplex betrifft das Verhältnis zwischen Autor und Erzähler sowie die Rolle der Kommunikation mit dem Leser. Korthals sieht sich einerseits genötigt, das Thema aufgrund seines fortwährend kontroversen Charakters zumindest zu berühren; andererseits handelt er hier Punkt 5 aus der Fragenliste im zweiten Kapitel ab: konstituiert die Figurenrede das Geschehen? Dies ist jedoch nicht charakteristisch für den dramatischen Modus. Als Beispiel diskutiert Korthals Figuren, die in Versen sprechen; dies ist nicht den Figuren selbst, sondern dem Autor zuzurechnen.

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In der Summe steht am Ende im kurzen siebten Kapitel fest, dass zwischen Dramatischem und Narrativem kein fundamentaler Unterschied besteht. Korthals setzt nun an, um den feinen Unterschied genauer zu charakterisieren, präzisiert seinen Modus-Begriff und schlägt zudem die Unterscheidung zwischen Integration und Montage vor.

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Kritik der Kritik

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Was Korthals prima vista überzeugend vorschlägt, lässt sich aber leicht gleichfalls zergliedern. Das Werkzeug dafür gibt er selbst an die Hand. Es seien nur zwei Beispiele gegeben.

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Der dramatische Modus folgt, so lautet Korthals’ Definition, »dem starren Schema von Haupt- und Nebentext« (S. 457). Was aber ist Haupt- und Nebentext? Gemeint ist ja die vertraute Unterscheidung von ›Erzählerrede‹ und ›Figurenrede‹. Korthals denkt hier offenbar an die leichte Abgrenzbarkeit der sogenannten Bühnenanweisungen. Nur sind ›Erzählerrede‹ und ›Figurenrede‹ in einem episch zu nennenden Werk ebenfalls recht eindeutig voneinander getrennt, wenn man formal argumentiert. Man erkennt auch in einem Text, dessen dominanter Modus ›offensichtlich‹ narrativ ist, welche Passagen Haupttext (also Erzählerrede) und welche Nebentext (also Figurenrede) sind – oft sogar dank Anführungszeichen oder Spiegelstriche auf einen Blick. Somit ist unklar, wie Haupt- und Nebentext bei Korthals zu fassen sind. Dieser ergänzt seine Definition durch die Anmerkung, dass die »Stimmen ohne Berührungspunkte nebeneinander angeordnet« würden (S. 547). Doch auch dies hilft nicht weiter. Was ist denn ein Berührungspunkt? Was für ein Punkt fehlt denn beim dramatischen Modus? Oder, positiv gewendet, wo findet sich der Berührungspunkt der Stimmen bei narrativem Modus? Er liegt ja eben nicht in der Erzählerrede, denn diese ist wiederum eine Stimme für sich. Gibt es einen Berührungspunkt zwischen Erzählerrede und Figurenrede? Ist es vielleicht der Doppelpunkt nach der Inquit-Formel?

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Aber man sieht einem Text im dramatischen Modus ja förmlich an, wo Haupt- und wo Nebentext ist und dass die Repliken der Figuren ohne Berührungspunkt nebeneinander stehen. Doch das Sehen verweist auf eine genuin außersprachliche Qualität der Texte. Korthals erkennt den Stellenwert der Typographie (oder genauer des typographischen Dispositivs 11 ) nicht. 12 Das Dispositiv eines Textes mit dominant dramatischem Modus fällt dadurch auf, dass es ›offensichtlich‹ wie ein Drama gesetzt ist. Dagegen ist das Dispositiv eines Textes mit dominant narrativem Modus ›klar‹ das eines Fließtextes. Oder anders ausgedrückt: ein starres Schema der Trennung von Haupt- und Nebentext ist vor allem eine Frage des Mediums, nicht der sprachlichen Form. Korthals berührt diese genuin medialen Aspekte, wenn auf die altgriechischen und lateinischen Dramen zurückkommt, bei denen in den Handschriften Haupt- und Nebentext nur rudimentär geschieden sind und der Nebentext fast ausschließlich aus Personenzuordnung besteht (also keine ›Bühnenanweisungen‹ gegeben werden). Hier ist die aktuelle typographische Gestalt das Produkt eines modernen Dispositivs. Somit bleibt offen, ob eine ›medientheoretische Definition‹ eine Lösung verspricht.

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Nimmt man das Beispiel der Oper (die Korthals nicht einbezieht), zeigt sich, wie wichtig eine medientheoretische Aufstockung der Denkanstrengung gewesen wäre: bei diesem Beispiel zeigt sich in aller Drastik, dass die bemühten Kategorien nicht gut greifen. Zwar scheint Haupt- und Nebentext ähnlich wie beim Text im dominant dramatischen Modus sauber getrennt, doch singen die Personen auf der Opernbühne bisweilen gleichzeitig verschiedene Texte. Und noch schwieriger zu entscheiden: sind in einer Opernpartitur die Noten Neben- oder nicht der eigentliche Haupttext? Überhaupt stellt die Ablehnung des medientheoretischen Paradigmas vor Probleme beim Film. Dieser gilt ja schließlich bei Barthes und Chatman schon länger als Beispiel für ein narratives Medium, während das Drama seltsamerweise in der Forschung weitgehend unbeachtet geblieben ist. Die Narratologie usurpierte früh den Film – der sozusagen außerhalb der klassischen Zuständigkeitsbereiche gelegen hatte –, und das Drama blieb in den Händen der Dramentheoretiker. Korthals geht auf das Kino mit fast keinem Wort ein, weil er ja die Vermischung von Text und performativer Dimension zu Recht anprangert, sich dann aber damit behelfen muss, das Medium Kino, das der Inbegriff dieser Vermischung ist, zu ignorieren. Wenn Korthals jedoch auf die im Lesesessel rezipierbare Form der Literarizität insistiert, so setzt er ein bestimmtes Medium – nämlich das Buch – voraus. Damit liegt seinem Argument eine ›mediale Prämisse‹ zugrunde, ohne dass er ihr Vorliegen anerkennt.

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Das zweite Beispiel betrifft die Unterscheidung zwischen Deskription und Geschehensdarstellung. Korthals behandelt sie, um genauer Aufschluss darüber zu gewinnen, wie sich Situationsbeschreibungen im dramatischen und narrativen Modus voneinander unterscheiden. Die Technik ist, dass bei Dramen die Beschreibung zu großen Teilen durch die Repliken der Figuren erfolgt. Nicht immer handelt es sich dabei aber um ›Sprechakte‹, die sehr deskriptiven Charakter haben. Da umgekehrt jedes Wort eine Beschreibung implizieren kann, wie Korthals mit Verweis auf Michael Riffaterre notiert (vgl. S. 378), hat zugleich jeder ›Sprechakt‹ ein deskriptives Potenzial. Man könnte beispielsweise folgenden, von einer Figur gesprochenen Satz in einem Text mit vorwiegend dramatischem Modus bedenken: ›Setz dich auf den Stuhl.‹ Hier liegt zwar ein Befehl vor, aber er informiert unabhängig von jedem Nebentext (von jeder ›Bühnenanweisung‹), dass im betreffenden Raum ein Stuhl vorhanden ist. Oder nehme man folgenden Satz aus einem Text in vor allem narrativem Modus: ›Sie erblickte eine zerbrochene Vase.‹ Zeit ist relevant (›erst sieht sie die Vase nicht, dann doch‹); aber dennoch erfährt man etwas über die ›Eigenschaften‹ der Vase, nämlich zumindest dass sie zerbrochen ist. Die Schwierigkeit wird anerkannt, dass förmlich überall Beschreibung lauern kann. Um in dieser Situation noch einen klaren Begriff zu gewinnen, versteht Korthals unter Deskription diejenige Rede, die keinerlei Geschehen vermittelt, also vor allem keine Zeitlichkeit impliziert und niemanden präsupponiert, der erlebt oder handelt.

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Der Einwand hiergegen ist nicht, dass die Härte der Unterscheidung überrascht, da Korthals doch selbst seitenlang Abgrenzungsschwierigkeiten konzediert und ohnehin keine Partitionierung vorschlägt: es wäre auch denkbar, Mischformen zwischen Deskription und Geschehensdarstellung zu postulieren. Auch ist der wichtigste Vorwurf nicht, dass ein Rückgriff auf Philippe Hamons Standardwerk 13 die Option bereitgestellt hätte, den Unterschied zwischen Geschehensdarstellung und Deskription als graduellen zu denken. Korthals versteift sich stattdessen darauf, Deskription als einen möglichen reinen Grenzfall zu denken, in dem Zeitlichkeit und Beobachterabhängigkeit ausgeschlossen sind.

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Der Einwand lautet vielmehr, dass genau diese Überzeitlichkeit und diese Beobachterunabhängigkeit undenkbar sind. Für Korthals ist beispielsweise das Verb ›liegen‹ ein Garant für Deskription. Besehen wir folgenden Satz: ›Das Heft lag auf dem Schreibtisch.‹ Könnte man, fände man diesen Satz in einem Roman vor, davon ausgehen, er sei überzeitlich? Nein. Denn entscheidend ist, dass zum erzählten Zeitpunkt das Heft auf dem Schreibtisch liegt. Es kann vorher entfernt und später hingelegt sein. Vielleicht ist der folgende Satz eindeutiger? ›Das Heft war grün.‹ Doch auch hier gewinnt der Satz im Kontext eines Romans erst Relevanz dadurch, dass da eine Figur ist, die das Heft als grün beobachtet. Ohne das ereignishafte Erleben der Grünheit des Heftes ist nicht denkbar, dass dieser Satz im Romankontext sinnvoll wird. Zumindest der Erzähler erlebt die Grünheit und wird damit zu ihrem Beobachter. Überhaupt gehen nur wissenschaftliche und religiöse Kommunikation davon aus, dass es Kommunikation ohne (menschlichen) Beobachter gibt; und die Wissenschaft macht sich seit rund hundert Jahren immer wieder bewusst, dass diese Annahme verkehrt und die Abstraktion vom Beobachter irreführend ist, sei es in der Ethnologie, sei es in der Physik. Wo Geschehen – Handeln, Erleben und Zeit – sind, da muss auch ein Beobachter sein. Hier stellt sich dasselbe Problem wie bei der Unterscheidung zwischen Drama und Erzählung. ›Intuitiv‹ oder ›heuristisch‹ (was auch immer das genau heißt) ist die Unterscheidung klar. Deskriptive Passagen bei Balzac sind etwas anderes als ein heftiges Geschehen bei Stendhal. Aber will man diesen Unterschied analytisch sauber festhalten, gerät man auf unwegsamen Grund.

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Theorie in der Krise

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Korthals’ (im Übrigen auch handwerklich solide 14 ) Studie lotet das Verhältnis zwischen dem Willen zur Präzision und ihrem Ertrag für die Literaturforschung aus. Ihr Anspruch zielt auf den Kernbestand literaturwissenschaftlichen Denkens der letzten Jahrzehnte, speziell auf das einzelne Drama und die einzelne Erzählung in ihrer jeweils ganz besonderen Gestalt. Es geht ihr weniger um die Durchdringung des Dramas oder der Erzählung ›an sich‹, also weniger um allgemeingültige Aussagen und auch kaum um historische Aussagen im Sinne des kulturwissenschaftlichen Paradigmas. In diesem Sinne handelt es sich um keine narratologische Arbeit, sondern um eine in der poetologischen Tradition von Dramen- und Romantheorie, aber in begrifflich möglichst genauer Ausformung. Bei aller Anstrengung, saubere terminologische Arbeit vorzulegen, die überdies irgendeiner Erkenntnis dienlich ist, stößt Korthals jedoch immer wieder auf ein Scheitern sich allgemeingültig gebender Theorie. Die Quintessenz aus Korthals’ Überlegungen ist nicht nur ernüchternd, sondern niederschmetternd. Fast jeder Begriff der Literaturwissenschaft zerfällt »zu Staub, wenn man ihn ein wenig schärfer ansieht« (S. 167).

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Ein solches Verdikt wendet sich zunächst an die Literaturtheorie, wie man sie in Dramen- und Romantheorie vorfindet. Sie ist teilweise derart hoffnungslos inkonsistent, dass sie in weiten Teilen inzwischen nicht mehr als Erkenntnisbeitrag gilt, sondern als merkwürdiges Kulturprodukt erscheint, das ein Staunen verdient wie die Literatur selbst.

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Doch das harsche Urteil trifft genauso die methodisch selbstbewussten (sich ihrer selbst bewussten) Arbeiten. Das Risiko jeder theoretisch fundierten Arbeit ist, dass sie – wie etwa eine ›dekonstruktionistische Analyse Benjamins‹, eine ›Untersuchung der Fiktion im Sozialsystem Literatur‹ oder eine ›auf Kognitionswissenschaft beruhende Theorie der Narrativität‹ – als ausschließlich an einen exklusiven Fanclub adressiert empfunden wird. Solche Selbstläufer der Systematisierung lehnt Korthals vehement ab. So wendet er sich gegen eine ins Leere laufende Typologie bei Ansgar Nünning (vgl. S. 121–126) oder gegen Harald Frickes (vgl. S. 387 f.) vermeintliche konzeptuelle Präzision – um zwei der profiliertesten Theoretiker hier herauszugreifen, deren Gewicht Korthals nicht imponiert. Alles, was droht, zur leeren Worthülse oder gar zur Sprechkonvention zu werden, ist Korthals’ Studie suspekt.

[38] 

Mit dieser beiläufigen Beurteilung erscheint Korthals’ Studie als eine vorzeitige Ahnung einer jetzt aufkeimenden Theorieskepsis. Die Disziplin hat das Gefühl, dass es nicht mit und nicht ohne Theorie geht. Das ist anders als in den früheren Krisen; ein Streit um die richtige Methode ist damit nicht vergleichbar. Ohne dass klar gesagt werden kann, ob die üblichen Verdächtigen – Bologna und DFG – daran ›schuld‹ sind, fällt auf, dass sich das Fach zu immer mehr Wissenschaftlichkeit in einem bestimmten Sinne genötigt sieht: die Module der Forschungs- und Lehrtätigkeit müssen eindeutige Namen haben, die Ergebnisse müssen in Forschungsberichten genealogisiert werden und müssen folgenden Generationen als Arbeitsgrundlage dienen. Die Bezugnahme auf Theorie erscheint als unumgängliches Gütesiegel der eigenen intellektuellen Produkte im Wissenschaftsbetrieb, wird aber aus Opportunität und nicht aus der Überzeugung heraus betrieben, Theoriearbeit sei der richtige Weg zu einem konsistenten Denkgebilde.

[39] 

In der an Poetologie interessierten und auf die Pflege der Dichtung ausgerichteten Literaturwissenschaft fehlen die scharfen Konturen eines theoretisch fundierten Denkens und ein auf Vorarbeiten beruhendes theoretisches Wissen. Und die Bereiche der Disziplin, die genau diese scharfen Konturen am Fließband zu erzeugen imstande sind (wie etwa die Narratologie), produzieren keineswegs eine Erkenntnis, die vom Fach selbst in großem Maße nachgefragt wird. Zwar gibt es im Buchhandel viele Einführungen und gleichermaßen in Curricula viele Erzähltheoriemodule; und auch bei interpretationsorientierten Ansätzen findet sich eine Begeisterung dafür, dass man neben den rhetorischen Begriffen nun endlich eine saubere erzählbezogene Terminologie hat, aber besieht man Aufsätze in den Fachzeitschriften, so nutzt kaum jemand die Terminologie – außer diejenigen, die sie zugleich diskutieren. Etwas unverschämt formuliert: man mag es Studierenden zumuten, eine Analepse zu identifizieren und dann als ›Analepse‹ zu bezeichnen, aber für die praktische Forschungstätigkeit beziehungsweise für die intensive Lektürearbeit erschiene eine solche Übung allzu sehr als Selbstzweck. Da ein rein auf Lektüre und Literaturwissen spezialisierter Forschungs- und Lehrapparat (politisch, aber auch in der Disziplin selbst) nicht mehr erwünscht ist, gibt es eine Form der Theorie, die die Theorieskepsis befördert, zumal die wenigen, die ihr Fach noch aus Hochachtung vor der Dichtung selbst betreiben, zunehmend feststellen, dass ihre Lektürearbeit niemanden interessiert – auch und erst nicht die anderen professionellen Leser. Denn wozu soll man auf einen guten Roman verzichten, wenn man statt seiner einen langweiligen Aufsatz lesen müsste, den man ohnehin nicht guten Gewissens würde zitieren können? Alles in allem fühlt sich das Fach zwischen Unfähigkeit und Verpflichtung zu Theorie, zwischen Lust und Unlust ihr gegenüber eingesperrt.

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Ein neues Erkenntnisinteresse an der Theorie selbst erscheint notwendig und stünde in guter Tradition: man denke etwa an Goethes ambivalentes Verhältnis zur Mathematik, an Novalis’ naturwissenschaftliche Studien oder an Musils Reflexionen über die Utopie der Exaktheit. Es ist bemerkenswert, dass die Literaturwissenschaft in ihren radikalsten Versuchen, sich als Wissenschaft zu behaupten, am stärksten den Verfahrensweisen der Literatur näher gekommen ist. 15 Das ist kein Vorwurf, sondern ein Kompliment. Doch eine Faszination für Theorie trüge auch dazu bei, mehr über Ästhetik und über die eigene, seltsam implizit gebliebene Epistemologie zu erfahren. Die prinzipiellen Schwierigkeiten einer literaturwissenschaftlichen Theorie lassen sich nämlich vermutlich nicht einfach durch immer neue Anläufe zu einer sauberen Theorie beseitigen, sondern können – wenn überhaupt! – nur in einer Auseinandersetzung mit dem bisherigen Scheitern ergründet werden.

[41] 

Die Aporie könnte lauten, dass scharfes Denken in der Literaturwissenschaft keine sauberen Kategorien schafft, sondern dazu zwingt, sich auf eine Rhetorik des scharfen Unscharfen einzulassen. Zugleich entlarvt sich jeder zu scharfe Begriffsapparat als Resultat unscharfen Denkens – ein Vorwurf, den Jacques Derrida zu Recht gegen die analytische Philosophie erhoben hat, ohne dass diese sich je bemüßigt gefühlt hätte, sich gegen diese Attacke zu wehren. Nicht geringe Teile der Dekonstruktion haben sich umgekehrt darauf beschränkt, möglichst obskure ›Analysen‹ in Umlauf zu bringen, die einen Jargon um des Jargons willen in bis dahin unbekanntem Maße gepflegt haben. Denn nicht nur jeder überscharfe, sondern auch jeder unscharfe Begriffsapparat zeiht seinen Schöpfer der mangelnden intellektuellen Präzision. Das gilt auch für Arbeiten, die weder analytisch noch poststrukturalistisch genannt werden – man könnte hier an Wolfgang Isers Fiktives oder an Wayne C. Booths impliziten Autor denken – und die vermutlich gerade durch ihre Unschärfe einen enormen Erfolg in der Literaturwissenschaft verbucht haben. 16

[42] 

Dabei hat es durchaus Theorien gegeben, die genau dieser Aporie entronnen sind. Hierzu zählen vielleicht Quintilians Rhetorik und Gérard Genettes Literaturtheorie. Die Hoffnung auf eine präzisere Begriffsarbeit ist nicht obsolet geworden oder als grundsätzlich unmöglich abzutun. Im Gegenteil zeigen immer wieder einzelne Erfolge, dass Erhellung nach wie vor möglich ist. Möglich muss werden, Unschärfe auf scharfe Weise zu fassen und denkbar zu machen. Was Korthals lehrt, ist die Notwendigkeit, diesen dritten Weg weiterhin zu suchen und ihn dann mutig zu beschreiten.

 
 

Anmerkungen

Tom Kindt / Hans-Harald Müller: The Implied Author: Concept and Controversy. Berlin, New York: de Gruyter 2006, S. 65 und S. 87.   zurück
Roland Barthes: Introduction à l’analyse structurale du récit. In: Communications 8 (1966), S. 1–27; Seymour Chatman: Coming to Terms: The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Ithaca, London: Cornell UP 1990.   zurück
Werner Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie. In: Vera und Ansgar Nünning (Hg.), Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier: Wiss. Verlag 2002, S. 23–104.   zurück
Vgl. für einen Überblick der wichtigsten Beiträge und für eine aktuelle Position Monika Fludernik: Narrative and Drama. In: Theorizing Narrativity. Hg. von John Pier und José Ángel García Landa. Berlin, New York: de Gryuter 2008, S. 355–384. Rajewski setzt an, das Spezifische des Dramatischen aufzuarbeiten und Unterschiede nicht zu nivellieren. Vgl. Irina O. Rajewski: Von Erzählern, die (nichts) vermitteln: Überlegungen zu grundlegenden Annahmen der Dramentheorie im Kontext einer transmedialen Narratologie. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 117 (2007), S. 25–68. Bemerkenswert ist, dass von Korthals’ Studie keine Notiz genommen wird.   zurück
Es ist hier an den berühmten Anfang von Foucaults Les mots et les choses zu denken sowie an die Erzählung von Borges, die Foucault zum Aufhänger wählt.    zurück
Etwa bei Matias Martinez / Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 3. Aufl. München: Beck 2002, S. 47 f.   zurück
Seymour Chatman: Coming to Terms: The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Ithaca, London: Cornell UP 1990, S. 9.   zurück
Etwas verwunderlich ist, dass Forschung möglichst in der Übersetzung zitiert wird, obwohl Korthals selbst eingesteht, dass beispielsweise die Übersetzung von Genette nicht optimal ist.   zurück
Intradiegetische Erzähler – also beispielsweise erzählende Dramenfiguren – fokussieren oft nicht extern fokalisierend; allerdings könnte man auch von einem Wechsel von dramatischem zu narrativem Modus sprechen.   zurück
10 
Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität: Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin: Erich Schmidt 2001.   zurück
11 
Im Sinne von Susanne Wehde: Typographische Kultur: Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen: Niemeyer 2000.   zurück
12 
Auf den Seiten 251, 254, 267 und 368 kommt er kurz darauf zu sprechen.   zurück
13 
Vgl. Philippe Hamon: Du Descriptif. Paris: Hachette 1993. (Zuerst unter dem Titel Introduction à l’analyse du descriptif 1981 erschienen.)   zurück
14 
Der Text ist praktisch fehlerfrei und flüssig zu lesen. Ein Register gibt es indes nicht. Gewisse typographische Schwächen sind zu bemängeln; dazu zählen vor allem nicht korrekte einfache Anführungszeichen sowie falsch gesetzte Spiegelstriche (sie sind bei Korthals, auch wenn sie nicht als Gedankenstrich, sondern als Oppositionsmarker eingesetzt werden, mit Spatien abgesetzt, sodass man im ersten Anlauf Parenthesen vermuten muss und sich verliest, z.B. auf S. 214).   zurück
15 
Zu einer Auseinandersetzung damit, inwieweit nicht literaturwissenschaftliche Theorieimporte Zeugnisse einer ästhetischen Präferenz sind, hat mich Korthals’ Dissertation geleitet. Ausarbeitungen dieser Überlegungen erscheinen voraussichtlich 2008 und 2009 als Aufsätze unter den Titeln Die schöne Wissenschaft und Literaturwissenschaft als kontrollierter Weltkontakt.   zurück
16 
Vgl. zur Unschärfe der Konzepte Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (wie Anm. 10), S. 16, und Kindt / Müller, The Implied Author (wie Anm. 1), S. 56–61 und S. 142.   zurück