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Exemplarisches über Beispiele

  • Jens Ruchatz / Stefan Willer / Nicolas Pethes (Hg.): Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. (LiteraturForschung 4) Berlin: Kadmos 2007. 408 S. Broschiert. EUR (D) 26,90.
    ISBN: 978-3-86599-038-9.

Inhalt

Stefan Willer / Jens Ruchatz / Nicolas Pethes: Zur Systematik des Beispiels

Franz Dornseiff: Literarische Verwendungen des Beispiels

Daniel Weidner: Zur Epistemologie der Bibelexegese

Andreas Pečar: Beispiele göttlichen Willens oder »extraordinarie examples«?

Maximilian Bergengruen: Exempel, Exempel-Sammlung und Exempel-Literatur. Am Beispiel von Harsdörffers teuflischer Mord-geschichte ›Die bestraffte Hexen‹

Markus Friedrich: Beisielgeschichten in den jesuitischen Litterae Annuae. Überlegungen zur Gestaltung und Funktion einer vernachlässigten Literaturgattung

Charlotte Coulombeau: Das Beispiel als Kristallisation der Philosophiedebatte im 18. Jahrhundert

Hedwig Pompe: Vom komischen Verlust des Exemplarischen in Lessings Komödie ›Der junge Gelehrte‹

Susanne Lüdemann: Literarische Fallgeschichten. Schillers ›Verbrecher aus verlorener Ehre‹ und Kleists ›Michael Kohlhaas‹

Davide Giurato: Kleists Poetik der Ausnahme

Michael Eggers: Die Didaktik des Beispiels und die Antipädagogik Heinrich von Kleists

Christiane Frey: Am Beispiel der Fallgeschichte. Zu Pinels ›Traité médico-philosophique sur l’aliénation‹

Safia Azzouni: Wissenschaftspopularisierung um 1900 als exemplarisch-literarische Rekonstruktion bei Wilhelm Bölsche

David Martyn: Vom example zum sample: Zur Rhetorik der Zufallsstichprobe

Regine Munz: Zum methodischen und inhaltlichen Status von Ludwig Wittgensteins Beispielgebrauch

Ulrike Bergermann: Relooping Knowledge: Ashbys kybernetisches Wissensmodell

Rainer Schützeichel: Annäherungen an eine Wissenssoziologie des Exemplarischen

Christina Bartz: Vom Einzelfall zum Wissen über die Wirkung von Medien

Robert Stockhammer. Geschichte in Geschichten. Zur Problematik des Exemplarischen im Schreiben über den Genozid

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Zur Konzeption

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Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses Buch ist ein Beispiel für einen guten Aufsatzband. Zum ersten hat dieser Band ein gutes Thema – das Beispiel ist nicht nur an und für sich etwas Interessantes, es wird darüber hinaus auch viel zu selten gewürdigt. Zum zweiten versammelt der Band viele gute Aufsätze zu diesem. Und zum dritten ist die Einführung der Herausgeber ein Musterbeispiel dafür, wie anspruchsvolle Eröffnungsbeiträge beschaffen sein sollen, die nicht nur darüber informieren, inwiefern es mit den folgenden Aufsätzen seine Folgerichtigkeit hat.

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Diese Einführung trägt den Titel »Zur Systematik des Beispiels« und umfasst immerhin fünfzig Seiten. Sie unterscheidet vier verschiedene Formen des Beispiels, das rhetorische Beispiel, das Belegbeispiel, das Ausgangsbeispiel und das normative Beispiel, die getrennt voneinander erläutert werden – das rhetorische Beispiel in seiner Nähe zur Metapher, das Belegbeispiel in seiner Funktion der Veranschaulichung, das Ausgangsbeispiel in seiner Rolle im induktiven Erkenntnisprozess, das normative Beispiel in seiner Affinität zum Vorbild. Dabei landet der auch diachron ausgreifende und in theoretischer Hinsicht mit allen Wassern gewaschene Problemaufriss immer wieder bei großen und wohlbekannten epistemologischen Fragen. Wo es um das Beispiel geht, bleibt die Dialektik von Regel und Ausnahme nicht fern; muss das Spannungsverhältnis zwischen dem Teil und dem Ganzen, dem Einzelnen und dem Allgemeinen thematisiert werden. So vollzieht sich die kategorische Entgegensetzung von Ausgangs- und Belegbeispiel auf der Folie eines Paradoxes. Denn wenn das »Wissen über das Allgemeine […] über ein Besonderes konstituiert« wird, »das streng genommen noch nichts von jenem Allgemeinen ahnen dürfte« (S. 32), dann kann das Ausgangsbeispiel nur scheinbar unschuldig induktiv, das Belegbeispiel nur scheinbar bloß veranschaulichend sein, und der »radikal singuläre Einzelfall wäre Beispiel für eine Sphäre vollkommener Beispiellosigkeit« (S. 33).

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Daher liegt es für die Herausgeber in der Natur der Sache, dass das konkrete Beispiel das von ihnen erarbeitete Beschreibungsraster übersteigt. Sie konzedieren ohne weiteres, »dass konkrete Beispielfälle sich nicht trennscharf einer der Kategorien zuschlagen lassen. Wenn am einzelnen, beispielhaft analysierten Exempel die Logik der Kategorien verschwimmt und die Grenzen diffus werden, wenn der Ausgangsfall zum Beleg, der Beleg normativ oder die Norm zum Ausgangspunkt wird, so zeigt sich, dass die verschiedenen Beispielfunktionen zwar sinnvoll zu differenzieren, aber nur idealtypisch zu trennen sind.« (S. 55) Wäre es anders, wäre es nicht so wichtig (und nicht so spannend), über den Gebrauch der Beispiele nachzudenken. Das zeigt aber auch, dass man bei einer Epistemologie des Beispiels und des Exemplarischen nicht stehen bleiben darf, sondern zu einer Diskursanalyse des Beispiels voranschreiten muss.

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Ein nicht geringes Verdienst dieses schwergewichtigen Einleitungsbeitrages soll nicht übergangen werden. Es besteht in einem instruktiven Literaturverzeichnis (S. 56–59), das nicht nur die Auseinandersetzung der Herausgeber mit der bestehenden Literatur zum Thema dokumentiert und als Ausgangspunkt für denjenigen genutzt werden kann, der eigene Fragestellungen in diesem weiten Feld verfolgen möchte. Darüber hinaus kann man dem Verzeichnis entnehmen, wie disparat die diskursiven Orte sind, in denen man etwas über das Beispiel lernen kann (und wie interdisziplinär die Beschäftigung mit ihm folglich angelegt ist).

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Gleichsam als Appendix und Kontrast schließt sich an die Einleitung der Herausgeber der Wiederabdruck eines Aufsatzes aus der Feder des Altphilologen Franz Dornseiff aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts an, der sich als Pionier der Beispielforschung mit literarischen Verwendungen des Beispiels beschäftigt. Dessen Ausführungen sind ebenso informativ und gelehrt wie unsystematisch. Unter anderem findet sich darin eine schöne Aufstellung der »Beispielgestalten« in der Rhetorik (etwa: Sardanapanal, Lucullus, Apicius, Antonius und Cleopatra als Beispiele für die Üppigkeit), aus deren Sicht die »ganze Geschichte« ohnehin nur »ein Vorrat für exempla similia« gewesen sei (S. 74).

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Die insgesamt siebzehn Beiträge des Bandes, die auf eine 2005 von Martin Huber veranstaltete Tagung an der FernUniversität Hagen zur Epistemologie des Exemplarischen zurückgehen, sind in vier Blöcke unterteilt. Die Einteilung erfolgt dabei nicht nach systematischen, sondern nach historischen Gesichtpunkten. Das wirkt ein wenig wie eine Verlegenheitslösung. Gleichwohl entbehrt es nicht der Folgerichtigkeit. Die Herausgeber betonen, dass die »Einzelbeiträge des Bandes« nicht dazu dienten, »den systematischen Erwägungen die Empirie nachzuliefern« (S. 55). Der Frage nach dem Beispiel kann man in so vielen verschiedenen Kontexten und Disziplinen und auf so verschiedenen Ebenen nachgehen, dass die Beiträge selbst nicht mehr als Beispiele für solche Fragen sein können. Der innere Zusammenhang der Beiträge ergibt sich dann einerseits daraus, dass der Leser durch die systematische Einführung für die Problematik des Beispiels sensibilisiert ist, und andererseits daraus, dass die Beiträge – freilich in verschiedenem Ausmaß und mit unterschiedlichem Geschick – auf die in dieser Einführung verwendete Terminologie zurückgreifen, die auf diese Weise reflektiert wird – gefestigt und gebrochen.

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Frühneuzeitliche Exempel

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In der ersten Gruppe von Aufsätzen, die sich schwerpunktmäßig mit der frühen Neuzeit beschäftigen, heißen die Beispiele noch Exempel. In Daniel Weidners Aufsatz geht es um die Logik der Stelle in der Bibelexegese. Von der Stelle ausgehen, heißt nicht vom Ganzen ausgehen, sondern vom Einzelnen. In der Theologie einer Buchreligion ist das eine notwendige Praxis; sie arbeitet »insofern exemplarisch, als sie alle allgemeinen Aussagen über Gott und dessen Werke aus ihren kanonischen Büchern ›belegen‹ muss« (S. 83). Die Stelle, der locus, ist ein Belegbeispiel, und die Parallele, der Verweis auf eine andere Stelle, schafft ein Netz von Belegbeispielen, dessen buchverwaltungstechnische Voraussetzungen in der frühen Neuzeit gegeben waren. Wenn man an jeder Stelle einen Hinweis auf eine andere Stelle machen kann, wird jede Stelle »doppelt exemplarisch: für das, was sie sagt, und für den Text, aus dem sie zitiert worden ist« (S. 91). Dabei unterstreichen »die Querverweise […] die Einheit der Bibel« (S. 91), aber ohne, dass diese Einheit als Ganze in den Blick kommt. Insgesamt kommt auf diese Weise ein lehrreiches Beispiel für den zweischneidigen Umgang mit Beispielen in den Blick. Die »Vertiefung in die einzelnen Stellen«, so fasst Weidner zusammen, tendiert stets dazu, »allgemeinere Wissensansprüche über den Text zu untergraben«: »Die Stellen gewinnen hier eine Autonomie, die jegliche Einheit und jeglichen Sinn des Textes zu sprengen droht.« (S. 99)

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Andreas Pečar fragt sich in seinem Beitrag, auf welche Weise »Beispiele der Bibel im politischen Diskurs zum Einsatz« (S. 101) kamen. Seine These, dass »die politische Bedeutungszuschreibung alttestamentlicher Exempla mit der Verwendung biblischer Exempla im politischen Diskurs nicht vollständig in Übereinstimmung zu bringen ist« (S. 102), kann zwar nicht wirklich überraschen, wird aber anhand der Untersuchung politischer Auseinandersetzungen in der frühen Stuartzeit in Schottland und England exemplarisch deutlich gemacht. Die »Verabsolutierung des Beispiels«, das dann »in letztlich jeglicher politischen Streitfrage als Argument dienen« (S. 118) kann, ist letztlich ebenfalls der Logik der Stelle geschuldet. Überspitzt formuliert: Ein Belegbeispiel ist etwas, was herbeizitiert und aus einem Zusammenhang gerissen worden ist.

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Um das Herbeizitieren beziehungsweise die Wiederverwendung von Exempeln geht es auch in den Ausführungen von Maximilian Bergengruen, der »anhand des Magdalenen-Exempels« (der erstaunlichen Geschichte einer Beinahe-Hexe) »zwei Specifica der europäischen Exempel-Literatur in der frühen Neuzeit« herausarbeiten möchte, nämlich erstens das »inner- und interdiskursive Netzwerk«, in dem sie stehen, und »zweitens die Verbindungspunkte mit der Literatur, die nicht zuletzt von der unscharfen Einordnung des Exempels – zwischen Geschichtsbeispiel und Beispielgeschichte – herrühren.« (S. 127) Was den ersten Aspekt angeht, so zählen die Wege, die ein Beispiel durch die Diskurse nimmt, gewiss zu den faszinierendsten Studienobjekten – zumal dann, wenn die Beispielgeschichte wie hier nicht ganz in derselben Gestalt wiederauftaucht. Das allgemeine Resultat, dass das Beispiel einerseits willfährig ist und andererseits seinen Eigensinn bewahrt, darf man hier wohl lediglich als die Spitze des Eisbergs betrachten. Was den zweiten Aspekt betrifft, so möchte Bergengruen dem von ihm ins Zentrum gerückten Harsdörffer bescheinigen, er wolle mit seiner »Exempel-Sammlung […] die narrative Eigendynamik des rhetorischen Beispiels aufzeigen, das sich niemals vollständig von dem argumentativen Beweisziel, in das es eingespannt wird, in Besitz nehmen lässt.« (S. 139) Wer mit einem so abstrakten Beweisziel eine Sammlung von Exempeln präsentiert, müsste schon ein ausgesprochen merkwürdiges Verhältnis zu den konkreten Exempeln haben.

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Im letzten Beitrag dieser ersten Gruppe widmet sich Markus Friedrich dem Beispielgebrauch in den jesuitischen Litterae Annuae. In dieser – wie der Verfasser schon im Titel gesteht – »vernachlässigten Literaturgattung« (S. 143) wurden die Mitglieder des Jesuitenordens ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts regelmäßig und ausführlich über den Orden und seine Arbeit auf dem Laufenden gehalten. Dabei »finden sich zahllose Beispielgeschichten in die Darstellung eingeflochten« (S. 146), deren Besonderheit in der »Abwendung des Exemplarischen von der Fabel und hin zur nüchternen oder gar ›wissenschaftlich‹-objektiven Präsentationsweisen des relevanten Materials« (S. 148) zu sehen ist. Zwar sei an der »handlungsmodellierenden Funktion« (S. 152) der Exempel festzuhalten, sie verbinde sich aber mit einer »faktizistischen Geste, die behauptet, bloße Beobachtungen von realen Ereignissen wiederzugeben« (S. 158 f.). Dadurch rückt diese jesuitische Verwendung der Beispielerzählung diese in eine grundlegend andere – zukunftsweisende – epistemologische Ordnung ein. Man könnte – mit Blick auf die berühmte jesuitische »Kasuistik« (S. 156) – vielleicht sagen, dass das Beispiel tendenziell zum Fall wird. Von daher fügt es sich ein in das »bemerkenswerte[ ] Faible für statistische Zahlenangaben« in den Litterae Annuae, »mittels deren der Erfolg der eigenen Arbeit demonstriert werden soll« (S. 149). Es wundert nicht, dass uns die Frage nach dem Verhältnis von (narrativiertem) Beispielfall und (statistischem) Normalfall auch in einigen anderen Beiträgen des Bandes begegnet.

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Krise mit Kleist

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Der zweite Block ist mit »Krisen des Exemplarischen in Philosophie und Literatur um 1800« (S. 167) betitelt. Dabei wird die Zeit »um 1800« – wie inzwischen üblich – sehr großzügig ausgelegt (sie beginnt schon vor 1750). Mit den Krisen ist in etwa gemeint, dass auf der einen Seite die Philosophie im Zuge ihrer Transzendentalisierung das bloße Beispiel als minderwertige Dreingabe aufzufassen beginnt, während auf der anderen Seite die Literatur zunehmend auf die Ausnahme setzt. Dafür steht vor allem Kleist, der in dieser Sektion mit zweieinhalb Beiträgen eindeutig überproportional vertreten ist.

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Charlotte Coulombeaus kluger Aufsatz mit dem Titel »Das Beispiel als Kristallisation der Philosophiedebatte im 18. Jahrhundert« ist (leider) der einzige Beitrag dieses Blocks, der von der philosophischen Problematik des Beispiels ausgeht. Zunächst zitiert sie die berühmten und folgenreichen Äußerungen von Kant zum Beispielgebrauch aus der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft, wo gesagt wird, dass Beispiele nur in populärer Absicht notwendig sind, für die eigentlichen Kenner der Wissenschaft hingegen entbehrlich seien. Kants nur oberflächlich gesehen eindeutiges Urteil über die Beispiele wird die noch von einem anderen Geiste beseelte Konzeption Christian Wolffs gegenübergestellt. Für Wolff sind nur die Exempel imstande, hinsichtlich der Fragen der praktischen Philosophie jene convictio herzustellen, die nicht mit der rhetorischen persuasio verwechselt werden dürfe (vgl. S. 173). »Die Exempel«, heißt es bei Wolff, »überzeugen uns von der Realität der Vorstellungen« (S. 174). Es wäre ertragreicher gewesen, wenn Coulombeau sich auf die Analyse dieser beiden Positionen beschränkt hätte. Die am Schluss als Frage formulierte Vermutung, ob nicht »der entscheidende Bruch« dort erscheine, »wo das Postulat einer wesentlichen Trennung zwischen ›oberen‹ und ›unteren‹ Erkenntnisvermögen endgültig in Frage gestellt wird« (S. 184), hätte dann stringenter erörtert werden können. Statt dessen begibt sie sich im zweiten Teil ihrer Ausführungen auf einen Umweg, auf dem sie – unter Rückgriff vor allem auf Lessing – die Beispielform der Fabel mit ihrer Fragestellung verknüpft, was zwar mit Argumenten begründet wird, aber des Guten zuviel ist.

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In die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts reicht auch die Krise des Exemplarischen zurück, die Hedwig Pompe in ihrer Analyse von Lessings früher Komödie Der junge Gelehrte diagnostiziert. Es wird festgestellt, dass »die Gottschedsche Komödienkonzeption und der moralische Schematismus der Vernunft« in diesem Drama von 1747 nicht mehr aufgehen – mit dem »beispielhaften Typus in Belegfunktion« (S. 191) lässt sich kein tragfähiges Komödienkonzept mehr herstellen. Der »scharfsinnige Umgang mit dem überkommenen Allgemeinen, das sich rhetorisch herstellen lässt«, reibe sich daher »selbstbezüglich im Witz auf, wobei noch kein neues Allgemeines gewonnen wird.« (S. 194) Diese, was die Literaturgeschichte angeht, nicht sonderlich originelle These wird im Folgenden zum Ausgangspunkt einer sehr ausführlichen Analyse des Dramas, die zwar in sich schlüssig, deren Mehrwert für die Frage nach der Logik des Beispiels aber sehr begrenzt ist. Man sieht hier überdies: In einem Aufsatzband, der schlichtweg Das Beispiel betitelt ist, besteht die Gefahr, dass auch andere Fragestellungen unter seiner Flagge verfolgt werden. Das gilt zumal dann, wenn – wie hier der Fall – eine sehr weite Definition des Beispiels zugrunde gelegt wird.

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An die Gefahr, dass eine weite Auffassung des Beispiel-Themas die Konturen des Bandes verschwimmen lässt, mag auch der nächste Beitrag von Susanne Lüdemann denken lassen, der sich anhand von Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre und Kleists Michael Kohlhaas mit der Logik der literarischen Fallgeschichte beschäftigt. Fallgeschichten sind Beispielgeschichten, in denen sich die Frage nach dem Verhältnis von Norm und Abweichung, von Regel und Ausnahme stellt – und das zweifellos mit weitreichenden epistemologischen Implikationen für die Entstehung der Menschenwissenschaften. Insofern gehören sie hierher. Aber es ist nicht zu verkennen, dass das Beispielthema sich auf diese Weise mit einem anderen großen Forschungsfeld verbindet, das in letzter Zeit vermehrt in den Blickpunkt literaturwissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt ist. Vielleicht ist Susanne Lüdemanns Aufsatz, gerade weil sie sich dezidiert im Schnittpunkt dieser beiden Themenfelder situiert und die Übergangszone zwischen zwei Auffassungen von Literatur in den Blick nimmt, der markanteste Beitrag des Bandes, der bestechend ist in der Klarheit seiner Konzeption und der Stringenz seiner Argumentation. Literarische Texte, so ihre Ausgangsvoraussetzung, können ab 1800 »die Norm an der Abweichung, die Regel an der Ausnahme« messen und auf diese Weise eine Art »Gegenwissenschaft« (S. 211) darstellen, die den Fall nicht mehr unter die Exemplarität subsumiert. Bei Schiller wird dieser neue mögliche Status des literarischen Textes gewissermaßen reterritorialisiert: »Stellt die Fallgeschichte als solche zunächst ein Ausgangsbeispiel dar, für das die Regel erst gefunden werden soll, so wird ihr mit dem biblischen Gleichnis [vom verlorenen Sohn] ein Schema unterlegt, das das Ausgangsbeispiel zum Anwendungsfall eines normativen Beispiels macht« (S. 214). In der Nachvollziehbarkeit des Werdegangs dieses Verbrechers aus verlorener Ehre wird »die psychische Partikularität des Individuums […] von der literarischen Darstellung auf das Niveau des Exemplarischen gehoben« (S. 217). Es verwundert natürlich nicht, dass es bei Kleist anders ist. Michael Kohlhaas firmiert in Kleists Novelle als Beispiel für das, was ohne Beispiel ist: »Der Fall Kohlhaas ist […] strictu sensu kein Fall mehr, weil er als ›außerordentlicher‹ unter die staatlichen Gesetze nicht mehr fällt« (S. 220). Das lässt sich auf der Ebene der Rechtsverhältnisse ebenso begründen wie in der Form der literarischen Darstellung.

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Auf einem hohen Reflexionsniveau bewegt sich auch der zweite Beitrag zu Kleist von Davide Giuriato. Der Titel »Kleists Poetik der Ausnahme« zeigt schon an, dass er eine ähnliche Stoßrichtung hat wie derjenige von Susanne Lüdemann. Auch Giuriato bemüht, um mit einer prägnanten Wendung die »Implosion des Beispielhaften« (S. 226) bei Kleist vor Augen zu stellen, zunächst das Beispiel des Michael Kohlhaas, das im Anschluss daran durch einen Rückgriff auf Agambens Begriff des Ausnahmezustands theoretisch unterfüttert wird. In der Folge übernehmen seine Überlegungen jedoch eine ganz andere Richtung, da sie sich mit dem seltsamen Beispielgebrauch in Kleists Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden beschäftigen. »Man könnte sagen«, so Giuriato unter Bezugnahme auf Paul de Man, dass Kleists Text »fast nur aus Beispielen besteht, die die im Titel des Aufsatzes angekündigte These zum Verhältnis von Denken und Sprechen« (S. 230) eher unterhöhlen als plausibilisieren. Diese Überlegung wird in der anschließenden Analyse der von Kleist gewählten Beispiele vertieft. Diese Beispiele führen gewiss mehr und mehr von der Ausgangsthese ab. Gleichwohl scheint es doch etwas forciert, Kleist in dieser Hinsicht eine Poetik der Ausnahme und gar eine »Parodie des Beispiels« (S. 233) zu bescheinigen. Sind Beispiele nicht immer etwas, was einen aus dem Tritt bringt, wenn man sich wirklich auf sie einlässt, wie Kleist es offensichtlich tut? Ist Kleists Umgang mit Beispielen nicht einfach ein Musterbeispiel dafür, dass Beispiele eben »nicht etwas Sekundäres« sind, insofern ihnen »die Regel, die illustriert werden soll, keineswegs vorgängig« (S. 238) ist?

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Der dritte Beitrag zu Kleist im Block zur Krise des Exemplarischen »um 1800« von Michael Eggers bearbeitet mit der »Didaktik des schlechten Beispiels« ein ganz anderes Themenfeld. Es geht um das normative Beispiel, um das Beispiel als Vorbild. In seinem Allerneuesten Erziehungsplan behauptet Kleist in satirischer Überspitzung, ein Taugenichts könne ebenso gut verführen wie abschrecken. Damit zielt Kleist »auf die pädagogische Praxis in der Moralerziehung seiner Zeit, die sich […] in naiver Weise auf das Prinzip der Nachahmung des guten Beispiels gründe« (S. 242). »In den abschreckenden Effekt des schlechten Beispiels haben die Zeitgenossen Kleists dagegen wenig Vertrauen.« (S. 245) Im Grunde gelten die instruktiven Ausführungen von Eggers weniger Kleist als einer Rekonstruktion der pädagogischen Theorien über den Nachahmungstrieb und das gute Beispiel, und damit zusammenhängend, der Bewahrung vor dem schlechten Beispiel. Kleist spielt in dieser Konstellation gewissermaßen die Rolle des advocatus diaboli. Denn die Behauptung, dass das schlechte Beispiel ebenso gut abschreckend wie ansteckend sein kann, ist tatsächlich eine Art »Antipädagogik« (wie sie der von Eggers abschließend referierte Ekkehard von Braunmühl 1975 propagiert), weil sie auf der Kontingenz aller Erziehungsmaßnahmen beharrt.

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Das Beispiel hier und da

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Der dritte Block, mit »Produktivität und Problematik des Exemplarischen in den modernen Wissenschaften« (S. 261) überschrieben, ist heterogener als die beiden ersten Blöcke. Auch zeitlich gesehen. Es beginnt »um 1800« und endet in der Gegenwart. Der Beitrag von Christiane Frey über Pinel und die Logik der Fallgeschichte ist ein Gegenstück zu den Überlegungen von Susanne Lüdemann. Das Paradox der Fallgeschichte wird eingangs beispieltheoretisch in die Worte gefasst: »als Fallgeschichte erfüllt sie eine Funktion, die dem Beispiel gleichkommt und auf etwas verweist, unter das sie als Fall subsumiert werden kann, als Fallgeschichte hingegen geht sie zugleich darüber hinaus.« (S. 264) Je mehr der Fall partikularisiert und um Details angereichert wird, desto weniger lässt er sich als bloßer Fall auffassen. Für die klinische Fallgeschichte à la Pinel um 1800 gilt ebenso wie für andere Fallgeschichten in anderen Diskursen, dass deren Funktion »weder eindeutig die eines Belegbeispiels noch die eines Ausgangsbeispiels sein kann« (S. 269). Das ist kein Ergebnis, sondern stößt die »Eigendynamik« (S. 276) an, deren Wirken Frey – wie könnte es anders sein? – anhand einer beispielhaften Fallgeschichte von Pinel vorführt, die sich unter der Hand verselbständigt und zur Literatur gerät.

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Safia Azzouni sucht das Exemplarische hundert Jahre später an einem ganz anderen Ort, nämlich dem der Wissenschaftspopularisierung um 1900. Popularisierung muss in besonderem Maße auf Anschaulichkeit setzen. Anschaulichkeit entsteht durch Beispiele: »Eine solche Wissensvermittlung auf induktivem Weg hat ihren Ausgangspunkt im Beispiel.« (S. 280) Das ist der Horizont, vor dem Azzouni eine Arbeit über den Popularisierer Wilhelm Bölsche unter der Flagge der Epistemologie des Exemplarischen segeln lassen will. Ihre eigentliche Fragestellung ist jedoch eine andere. Es geht nämlich darum, inwiefern Bilder zu dieser Anschaulichkeit beitragen können. Diese Frage ist von nicht geringem Interesse. Man könnte von ihr aus das Verhältnis von Beispiel und Bild problematisieren. Das geschieht in diesem Beitrag jedoch nicht.

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David Martyn führt den Geisteswissenschaftler in seinem Beitrag »Von example zu sample: Zur Rhetorik der Zufallsstichprobe« auf ein ihm vermutlich eher unbekanntes Terrain: auf die mathematische Theorie der Zufallsstichprobe, deren geschichtliche Entwicklung skizziert und problematisiert wird. Die Theorie der Zufallsstichprobe sei als eine Art Herzstück und Glaubensartikel der Statistik »für die moderne Wissensordnung von kaum zu überschätzender Bedeutung« (S. 295): »Was dem Mittelalter die heiligen Vorbilder waren, sind heute die Zufallsstichproben. Mit ihnen begründen wir unsere Lebensentscheidungen: Wie und was wir essen, wie wir gesund bleiben« (S. 296) und so weiter. Auch wenn man diese Einschätzung übertrieben findet, lässt sich nicht leugnen, dass die Zufallsstichprobe als Referenz Funktionen des Exemplums in der Rhetorik übernommen hat. Martyn zeigt, dass die Entnahme einer Zufallsstichprobe nicht so einfach ist, wie Unbedarfte vielleicht meinen, weil man nicht wissen kann, ob der Zufall wirklich einer ist. Insofern »keine Begegnung des Menschen mit dem Zufall selbst zufällig ist«, kann man sagen: »Der Mensch sucht sich seine Zufälle aus.« (S. 308) Vor diesem Hintergrund kommt Martyn am Ende seiner etwas zu lang geratenen Ausführungen zu dem Ergebnis, dass die Zufallsstichprobe »mit dem rhetorischen Exemplum mehr gemeinsam« hat, »als sie weiß« (S. 315).

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Darf es ein Buch über die »Epistemologie des Exemplarischen« geben, das nicht auf Ludwig Wittgenstein zu sprechen kommt? Der späte Ludwig Wittgenstein ist das unbestrittene Vorbild für ein Philosophieren im Medium des Beispiels, wie man beinahe sagen möchte. Regine Munz zieht Wittgensteins Beispielgebrauch in ihrem Beitrag von verschiedenen Seiten aus in Betracht. Natürlich sind Wittgensteins Beispiele eher Ausgangs- als Belegbeispiele, aber mit dem Herausstreichen ihrer »heuristischen Qualität« (S. 321) sind sie nur höchst unzureichend erfasst. Denn tatsächlich ist das Denken in Beispielen für Wittgenstein ohne Alternative, weil wir im Denken nie über die Beispiele hinauskommen, über die wir in den Gebrauch der Sprache eingeführt worden sind. »Beispiele und Sprachspiele« – jeweils im Plural – werden von Wittgenstein teilweise geradezu als Synonyme gebraucht (S. 327). Leider enthält der kompetente Beitrag keine konkrete – beispielhafte – Analyse von Wittgensteins Beispielgebrauch. Zu denken gibt dafür der Versuch, das Beispiel bei Wittgenstein schließlich mit einer »Theologie des Beispiels in Berührung [zu] bringen« (S. 335). Denn Beispiele »rühren […] an den Ursprung des lebensweltlichen und sprachlichen Dynamik und evozieren so eine Ahnung von der unergründlichen, tiefen Herkunft und Wirksamkeit der Sprache und ihre ›Gebrauchs‹.« (S. 335)

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Dem Titel des letzten Beitrags dieses Blocks, »Relooping Knowledge. Ashbys kybernetisches Wissensmodell« von Ulrike Bergermann, kann man nicht recht ansehen, inwiefern er mit dem Thema des Bandes verknüpft ist. William Ross Ashby (1903–1972) war ein Pionier der Kybernetik. In seinem Lehrbuch verwendet er viele Anwendungsbeispiele, zum Teil in Übungsaufgaben. Das ist nicht weiter verwunderlich, aber doch einer genaueren Analyse wert. Denn je allgemeiner die Beschreibungsebene ist, desto abstrakter ist sie auch. Je abstrakter sie ist, desto mehr ist sie auf Beispiele angewiesen, desto mehr Beispiele gibt es aber auch. Natürlich sind diese Beispiele dann außerordentlich heterogen. Das gilt immer und überall. Bei der Kybernetik nimmt es indes einen besonderen Charakter an, insofern es sich um eine neue Beschreibungsebene handelt, die sich erst unter Beweis stellen und durchsetzen muss. Jedes Beispiel ist ein neuer Beleg dafür, dass die kybernetische Beschreibung überall angewendet werden kann (etwa: Mit einem Ehepaar, das so lange Kinder bekommt, bis der erste Sohn kommt, verhält sich ähnlich wie mit einem Spiel mit der Regel, Kopf bedeutet, dass ich gewinne, und Zahl bedeutet, dass wir die Münze noch einmal werfen). Die Beispiele sind beliebig (und insofern das Gegenteil der Beispiele Wittgensteins). Entsprechend stellt Bergermann über Ashby fest: »Ständig um die Identität des neuen Lehrgebiets bemüht, ist seine Kohärenz nur in der Proliferation zu haben« (S. 344). Die Perspektive der Kybernetik wirkt wie eine Anweisung, immer neue Beispiele zu finden, die »Welt in Beispielform« (S. 344) wahrzunehmen. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn hier weitergehende Überlegungen angestellt worden wären. Stattdessen geht der Beitrag leider in die Diskussion anderer Fragen der Kybernetik über, die zwar im Titel angekündigt werden, mit dem Thema des Beispiels jedoch nur lose verknüpft sind.

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Am Schluss etwas über die Praxis

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Die letzte Sektion, bestehend aus drei Beiträgen, ist nicht ganz zutreffend mit dem Etikett »Die wissenspolitische Aktualität des Exemplarischen« überschrieben. Den Auftakt macht Rainer Schützeichel mit einem Aufsatz, der »Annäherungen an eine Wissenssoziologie des Exemplarischen« verspricht, aber sehr viel mehr hält und Stoff für mindestens drei Beiträge enthält. Er beginnt mit der verblüffenden Feststellung, dass der Papst Johannes Paul II. mehr Menschen heiliggesprochen, also zu »exemplarische[n] Figuren« (S. 357) erklärt hat als alles seine Vorgänger seit 1592 (seitdem wird über die Kanonisationen Buch geführt) zusammen. Einerseits gibt es eine »Inflation« (S. 357) des Exemplarischen, andererseits zeigt zum Beispiel die nähere Betrachtung »professionalisierter Seelsorge« (S. 358), dass dort die »Figur des Beispielhaften und Exemplarischen kaum eine Funktion zu haben scheint« (S. 359). Warum ist das so? Bevor diese Frage bündig beantwortet wird, gibt es kluge und klare theoretische Überlegungen zu einer »Soziologie des Exemplarischen« (S. 359) und – auf den ersten Blick erstaunlich – zum Verhältnis von Professionswissen und Alltagswissen. Was die Soziologie des Exemplarischen angeht, so ist es bezeichnend, dass Schützeichel, wenn man die vier Beispielkategorien der systematischen Einleitung heranzieht, nicht wie die meisten übrigen Beispiele die Unmöglichkeit einer eindeutigen Trennung von Ausgangsbeispiel und Belegbeispiel anführt, sondern – auch ohne es explizit zu sagen – die Kreuzung von normativem Beispiel und rhetorischem Beispiel. »Exempla«, so fasst er zusammen, »repräsentieren gleichzeitig immer auch etwas anderes als die Regel. Sie befinden sich in einem Zwischenreich.« (S. 364) Das macht das Exemplarische – und hier sieht man den Übergang zur wissenssoziologischen Perspektive auf die Epistemologie des Exemplarischen – »fragiler und anfälliger […] für die Orientierung im Handeln und Erleben« (S. 364). Die problematische Orientierung am Beispiel, das unhintergehbare »Gebrauchs- und Rezeptwissen« (S. 366), als das sich das Alltagswissen darstellt, geht über die Subsumtionslogik der Theorie immer schon hinaus. Zugleich aber gräbt der »Verwissenschaftlichungsprozess« (S. 371) dem Exemplarischen das Wasser ab. Es erweist sich immer weniger als konsistent. Die Inflation der Heiligsprechungen ist – verkürzt gesprochen – eine Folge davon, dass die Heiligen nicht mehr so recht als Muster funktionieren wollen.

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Christina Bartz nimmt die Frage nach dem Beispiel zum Anlass, sich einem Thema zuzuwenden, das sich großer Aufmerksamkeit erfreut – und diese große Aufmerksamkeit ist auch das naheliegende Thema ihrer Überlegungen. Die Rede ist von der Medienwirkung, die in den Medien regelmäßig anhand von aufsehenerregenden Beispielen diskutiert wird. Dabei sind die diskutierenden Medien natürlich nicht jene, über deren Wirkung diskutiert wird: Es geht um die PC-Spiele, die in den Printmedien und im Fernsehen verantwortlich gemacht werden für extreme Gewalttaten von Jugendlichen. Jede Nachricht über eine neue Gewalttat wird hier als schlagendes Exemplum verbucht für einen Zusammenhang, der dann in den Zwischenzeiten abgeklärterer Behandlung des Themas wieder problematisiert werden kann. Bartz versucht die Medienwirkungsdebatte also auf einer eher diskursanalytischen Ebene zu rekonstruieren. Dabei zeigen sich »Ähnlichkeiten der Formen des Exemplarischen in der Rhetorik und in der Berichterstattung« (S  388) über solche Ereignisse. Das nimmt nicht weiter Wunder. Interessant sind jedoch die Differenzen. Bartz thematisiert sie in der folgenden Überlegung: Während die Nachricht über eine neue jugendliche Gewalttat vor allem die Nachahmungsthese ins Kraut schießen lässt, kann es für die entgegengesetzte These, dass Gewalt in den Medien die Aggression reduziere, keine Nachricht geben: »Es gibt keine Nachricht zur Katharsisthese«, weil die »Nachrichtenproduktion« notwendigerweise an der »Beobachtung des Exzeptionellen orientiert« ist. (S. 388) Aggressionsreduktion ist keine Nachricht, bei der »Nachrichtenproduktion« hingegen »ist es immer die Nachricht, die den Anlass gibt eine Regel zu thematisieren. Bei der Rhetorik ist das anders, »denn das rhetorische Prinzip schließt kein Beispiel für die Katharsisthese aus« (S. 388).

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Einen eher irritierenden Schlusspunkt des Bandes setzt Robert Stockhammer mit einem Beitrag, der zwar mit »Geschichte in Geschichten. Zur Problematik des Exemplarischen im Schreiben über einen Genozid« betitelt ist, sich jedoch nicht so recht an diesen Titel hält. Er enthält sehr persönliche Mitteilungen über seine Konfrontation mit dem Völkermord in Ruanda, wirft die Frage auf, wie man sich überhaupt in Beispielen damit auseinandersetzen kann (oder wie sonst), geht über zu einer sprunghaften Lektüre von Kants Überlegungen zum Exemplarischen, reißt sodann Probleme an, die sich schon auf der Ebene sprachlicher Bezeichnung beim Schreiben über einen Genozid ergeben, gibt anschließend das Beispiel eines »besonders gelungen[en]« (S. 400) autobiographischen Romans aus Ruanda, um am Ende festzustellen, dass einerseits »ein Trauma nicht exemplarisch sein könne, weil in ihm der Verweisungszusammenhang von einem Teil auf ein Ganzes zerschlagen« sei, dass andererseits – wie könnte es anders sein? – das Trauma ein Allgemeines ist, nämlich »eine Gruppe von Phänomenen […], die sich als Traumata klassifizieren lassen« (S. 402). Im Grunde stellt das Trauma einfach auf besonders forcierte Weise vor das ehrwürdige Problem der Unvereinbarkeit des Wissens vom Allgemeinen und der Erfahrung des Besonderen. Natürlich steckt darin die Frage nach dem ethischen Verhältnis gegenüber Einzelfall und Beispiel: »Jeder dieser Fälle muss als inkommensurabler aufgefasst werden – solange man aber spricht, schreibt, zu heilen versucht, kann keiner dieser Fälle nur inkommensurabel sein.« (S. 402) Das ist der letzte Satz dieses Buches. Eine Fußnote ist an ihn angehängt, die nur ein Wort enthält: »Fortzusetzen.« Diese Aufforderung möchte man eher auf die in diesem Band angestoßene Beispielforschung beziehen als auf diesen Beitrag.

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Fazit

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Nach dieser ausführlichen Synopse sollte das Fazit wenigstens kurz ausfallen. Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen ist in Konzeption und Ausführung ein überzeugender Aufsatzband mit vielen vorzüglichen Beiträgen. Natürlich gibt es Redundanzen, natürlich kommen einige Aufsätze ein wenig vom Thema ab, natürlich gibt es anfechtbare Schwerpunkte und beanstandbare Lücken. Vor allem die Bedeutung des Beispiels in der Didaktik hätte eine eingehendere Berücksichtigung verdient. Dort gab es zum Beispiel in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine Aufbruchsstimmung unter dem Label »Das exemplarische Prinzip«. Aber die Metaphorik der Lücke passt nicht recht zu diesem Band. Daher wäre es auch nicht richtig, wenn man sagte, dass er eine Lücke füllte. Eher ist er dazu angetan, uns vor Augen zu führen, wie sehr die Lücken konstitutiv sind für die Formierung unseres Wissens. Vom epistemologischen Standpunkt wäre dies möglicherweise zu bedauern. Tatsächlich sollte man jedoch einen anderen Standpunkt einnehmen: Eine Epistemologie des Beispiels kann nur den Status einer notwendigen Vorarbeit haben, die uns Perspektiven eröffnet auf ein unabsehbares Feld möglicher Fragestellungen, die es – um es noch einmal zu wiederholen – im Rahmen einer Diskursanalyse des Beispiels zu bearbeiten gilt. 1 Ein Teil der Aufsätze ist bereits in diese Richtung unterwegs. Wie dieser Band zeigt, sind solche Analysen eine wahrhaft transdisziplinäre Sache. Sie sind aber auch eine disziplinäre Sache – schon deshalb, weil jede Disziplin Anlass hätte, sich über ihren eigenen Beispielgebrauch aufzuklären, um sich nicht in der Illusion zu wiegen, ganz auf der Seite des Allgemeinen zu sein.

 
 

Anmerkungen

An der Ruhruniversität Bochum wird derzeit unter dem Titel »Archiv des Beispiels« eine Beispieldatenbank aufgebaut, die sich in ihrem Ansatz als diskursanalytisch versteht und die interessierte Öffentlichkeit zur Teilnahme einlädt; vgl. URL: http://beispiel.germanistik.rub.de.   zurück