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Der Amoklauf und die Möglichkeiten einer Medienkulturwissenschaft

  • Heiko Christians: Amok. Geschichte einer Ausbreitung. Bielefeld: Aisthesis 2008. 301 S. 5 s/w, 3 farb. Abb. Broschiert. EUR (D) 19,80.
    ISBN: 978-3-89528-671-1.
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Der Amok und »die Medien«

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Amokläufe sind, immer wieder, ein beliebtes Thema in den abendlichen Fernsehnachrichten. Sie stellen ein mediales ›Ereignis‹ ersten Ranges dar: Sie sind »breaking news« par excellence, denn sie brechen scheinbar ebenso unerwartbar wie unvorhersehbar in die Sphäre des Normalen ein und verwandeln plötzlich eine Institution gesellschaftlicher Ordnung wie eine Schule in ein Schlachtfeld.

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Das Phänomen Amok ist in der gegenwärtigen – bei weitem nicht nur US-amerikanischen – gesellschaftlichen Realität umstellt von seiner massenmedialen Beobachtung, die immer schon auch eine Konstruktion ist. Berichte in Fernsehen oder Zeitungen fragen nach der Biographie des Täters, nach seinen möglichen Motiven oder nach etwaigen Ankündigungen der Tat, die von den Behörden möglicherweise ignoriert wurden. Die Frage nach der Motivation der Täter führt in der Regel zurück zu den Medien: Welche Musik, welche Filme, welche Computerspiele hat der Täter konsumiert? Möglicherweise aber reicht der Einfluss der »Medien« auf den Ablauf des Amoks noch weiter: Nicht nur die Motivation der Tat, sondern auch ihr Ablauf – einschließlich der »breaking news« in den Abendnachrichten – gehorchen dem Programm massenmedialer Inszenierung, auch und gerade dann, wenn der Amok als spontanes ›Ereignis‹ und also als Gegenteil jeder Inszenierung inszeniert wird.

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Möglicherweise also fällt der Amoklauf nicht in den Zuständigkeitsbereich der Psychiatrie, sondern in den einer Medienkulturwissenschaft. Diese Annahme jedenfalls ergibt sich aus der Lektüre der nunmehr erschienenen Studie des Potsdamer Medienwissenschaftlers Heiko Christians. Die Studie nimmt die Beobachtung, dass der Amoklauf nicht nur ein beliebter Gegenstand massenmedialer Berichterstattung ist, sondern von dieser wesentlich konstruiert wird, zum Ausgangspunkt – und öffnet das Feld einer medienkulturgeschichtlichen Phänomenologie:

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Sehr wohl aber müssen, die Genres der Amok-Überlieferung – also Meldung, Bericht, Tagebuch, Essay, Novelle, Briefroman, Blog oder Fachbuch – historisch verortet werden, sehr wohl müssen diese Formen nach Ausbreitungsgeschwindigkeit, Umfang, Ambition, Auflage oder Zugänglichkeit analysiert werden. (S. 24)
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Vorausgesetzt, dass der Amoklauf nicht ohne die Form seiner medialen Beobachtung und Inszenierung zu untersuchen ist, wird die Analyse dieses Phänomens notwendigerweise zu einer Phänomenologie des Medialen überhaupt. »Mit welchen Kategorien aber beobachten Medien Amokläufe und machen Ereignisse daraus? Wie beobachten Medien und als was präsentieren sie es der sogenannten Medienöffentlichkeit?« (S. 26) Christians’ Studie sammelt deshalb nicht lediglich Wissen über den Amoklauf an: Sie ist, am Leitfaden des Phänomens und der Phänomenalisierung – d.h. der notwendigerweise medialen Inszenierung – des Amoks zugleich eine Untersuchung der Möglichkeiten einer Medienkulturwissenschaft überhaupt.

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Die Geschichte des Amok (…) ist untrennbar verbunden mit der Geschichte der Nachrichten und Berichte, mit der Geschichte der Globalisierung der Kommunikation, d.h. mit den Fragen, was man zu einem gegebenen Zeitpunkt an einem gegebenen Ort für eine Nachricht hielt, wie oft und in welcher Form man mit ihnen versorgt wurde, welche Ansprüche an Nachrichten gestellt wurden. (S. 24)
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Diesen programmatischen Forderungen an eine Medien- und Kulturgeschichte des Amoks wird Christians’ Studie, soviel sei vorweg verraten, vollauf gerecht. Die Untersuchung gliedert sich in 15 Einzelkapitel, die sich ohne große Mühe in vier Bereiche unterteilen lassen:

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I. Die Analyse der Rolle des Amoks in – vor allem: massenmedialen – Diskursen der Gegenwart, sowie der ihrerseits schon medialen Inszenierung des Amoklaufs durch den Täter.

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II. Die Geschichte der Nachrichten und Berichte vom Amok. Ausgehend von der malaiischen Herkunft des Wortes »Amok«, zeichnet Christians hier nach, wie und mit welchen Interpretationsmustern die »westlichen« Kulturen den Amok dargestellt haben.

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III. Jenseits der »westlichen« Perspektive soll aber auch versucht werden, den Amoklauf aus malaiischen Quellen selbst zu interpretieren. Hierzu interpretiert Christians insbesondere den berühmten Roman Hikayat Hang Tuah (dessen Quellen wohl bis zum 16. Jahrhundert zurückreichen) und unternimmt eine kleine kulturgeschichtliche Abhandlung über die Bedeutung des Kris, des malaiischen Dolches.

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IV. In einem vierten Schritt entwickelt Christians – mit Blick auf literarische Inszenierungen des Amoks (Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas oder Stefan Zweigs Der Amokläufer), auf kulturtheoretische Modelle (Georges Devereux, Pierre Legendre und andere) sowie auf filmische Darstellungen (vor allem Martin Scorseses Taxi Driver) – eine kleine Medien- und Literaturgeschichte des Phänomens.

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Das Medienereignis »Amok«

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»Amok« erscheint in der Kultur der Gegenwart wesentlich als ein Medienereignis. Diese Bezeichnung trifft, wie Heiko Christians herausarbeitet, in gleich mehrfacher Hinsicht zu: Erstens, insofern die Berichterstattung über den Amoklauf einer präzise beschreibbaren Dramaturgie folgt:

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Erst zeigt man die Schule aus großer Entfernung (aus der Luft) als Ort des Unfassbaren (gleichsam auf dem Mars gelegen), dann kommt man doch näher heran: Man sieht Absperrungsbänder der Polizei, geduckte Scharfschützen, mit Planen verhüllte Leichen auf dem Schulgrundstück, vorbeihastende Sanitäter (…). (S. 26)
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Zweitens aber ist der Amoklauf ein Medienereignis, weil die Täter sich zumeist aus dem medial gegebenen Fundus an Rollenvorbildern bedienen, um sich eine eigene Identität zu geben:

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Fast alle Amokläufer haben eine multimedial arrangierte Ersatzidentität oder Ersatzrolle, zumeist eine heroisch-gewaltsame Ersatzidentität, die den supplementären Charakter durch spezifische Intensitäten der Mediennutzung schließlich so folgenreich verliert. (S. 50)
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Der Hinweis auf die auffällige strukturelle Ähnlichkeit dieser Arrangements und Inszenierungen des Amoklaufs erklärt, warum der Amoklauf weniger – weniger jedenfalls als beispielsweise die in vielen Filmen und Romanen gleichermaßen populäre Figur des Serienkillers – zum Objekt einer psychologisch-medizinischen Betrachtung wird. Der Amokläufer ist niemals singulär; seine Tat nicht allein individuell zuschreibbar: Der Aspekt der Nachahmung – als medialer Inszenierung beispielsweise – muss von vornherein beachtet werden. (Es wäre eine interessante Frage, ob dies nicht eigentlich auch für den Serienkiller gelten müsste – und warum diese Figur in den Diskursen der Gegenwart dennoch grundsätzlich anders konturiert wird.)

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Damit verdoppelt sich allerdings die Gestalt der »Medien« auf eine komplexe Art und Weise: Nicht nur die Berichterstattung über den Amok ist massenmedial inszeniert – auch der Amokläufer selbst und seine Tat folgt einer medialen Vorbildern entnommenen und für ihre Darstellung zubereiteten Regie. Die Abläufe sind bekannt: Ein Täter schreibt etwa blutrünstige Dramen, ein anderer konsumiert reihenweise einschlägige Videofilme, ein weiterer versinkt in der Phantasiewelt eines Computerspiels – bis er, eines Tages, die reale Waffe ergreift und seine Schule oder einen anderen öffentlichen Ort zum Schauplatz seiner Nachahmung des Gesehenen, Gespielten, Phantasierten macht. Die Berichterstattung über den Amoklauf begegnet, indem sie diesen Ablauf beschreibt und wahrnimmt, sich selbst in verzerrter Gestalt: Die Diskurse über den Amoklauf in den Medien sind in der Gegenwart immer wieder Diskurse über (die) Medien.

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Christians’ Studie entdeckt, mit anderen Worten, den Amokläufer als eine Figur der Selbstreflexion von Medialität. In der Gestalt des Amokläufers wird es innerhalb von Mediendiskursen möglich – wenn nicht unvermeidlich – über die Frage der Einwirkung von Medialität, von suchtartigem Konsum, von medialen Inszenierungen der Wirklichkeit auf die Wirklichkeit zu reflektieren. Dabei gibt es, so Christians, eine signifikante Verschiebung:

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Nur jeweils neuen Medien – nach dem Film, dem Video, dem Videospiel, dem Computer jetzt dem Computerspiel – wird unterstellt, dass die Grenze zwischen Fiktion und Realität vom Nutzer gewissermaßen notwendig irgendwann überschritten oder von Anfang an für ihn nicht hinreichend erkennbar ist. (S. 27)
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Die Frage der Mediensucht ist dabei, aus historischer Perspektive betrachtet, vor allem eine Folge der Medienkonkurrenz: Medien beobachten sich nicht einfach selbst, sondern sie konstruieren zuallererst ein Objekt namens »die Medien«, welches sie selbst nicht sind – und schreiben alle etwaigen Folgen übermäßigen oder falschen Medienkonsums diesen (neuen) Medien zu.

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Geschichte(n) des Amoks

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Man könnte sich, wenn man weniger neugierig wäre, damit zufrieden geben. Der Amoklauf als eine seltsame Figur des Medienzeitalters: Produkt einer medialen Selbstinszenierung und gleichzeitig einer Darstellung durch Medien, die damit auf (andere?) Medien reflektieren. Der fundamentale Widerspruch, der in diesen beiden Perspektiven formuliert wird, löst sich in Christians’ Untersuchung nicht auf. Dies ist allerdings auch nicht das Interesse der Studie, der Widerspruch wird hier wahrscheinlich als notwendiges Element der doxa geduldet. Die Frage, die Christians anschließt, ist allerdings wohl auch fruchtbarer: »Die zentrale Frage könnte daher sein, ob es einen Amok vor dem Amok gibt?« (S. 23) – mit anderen Worten, ob sich das Phänomen Amok auch jenseits der von den gegenwärtigen massenmedialen Diskursen bereiteten Wegen untersuchen lässt. Die Formel »Amok vor dem Amok« lässt sich räumlich interpretieren, als die Frage nach dem (realen) Vorbild jenseits klischeehafter Abbilder – aber ebenso auch zeitlich, als die Frage nach der historischen Genese »unserer« (d.h. der von den modernen Massenmedien bestimmten) Perspektive auf den Amok.

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»Amok hat eine Geschichte«, heißt es im Vorwort lapidar (S. 13). Ganz im Sinne Foucaults also sucht Christians’ Studie über den Amoklauf den historisch konturierten Zugriff auf die Thematik, um die scheinbaren Selbstverständlichkeiten der aktuellen Diskurse als kontingent zu beschreiben. Foucault schreibt:

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Dem komplexen Faden der Herkunft nachgehen heißt [...] das festhalten, was sich in ihrer Zerstreuung ereignet hat: die Zwischenfälle, die winzigen Abweichungen oder auch die totalen Umschwünge, die Irrtümer, die Schätzungsfehler, die falschen Rechnungen, die das entstehen ließen, was existiert und für uns Wert hat. 1
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In diesem Sinn beschreibt Christians zunächst die Geschichte der Berichte, der Kenntnisse, des Wissens über den Amok – um dadurch die fundamentale Diskurs- und Mediengebundenheit jedes Wissens über das Phänomen belegen zu können.

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Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass das Phänomen »Amok« seinen historischen Ursprung – wie das Wort ja schon belegt – in Südostasien, genauer auf der Insel Java hat. Der Amokläufer war – bis zum 20. Jahrhundert, als das Phänomen plötzlich auch in Europa und immer wieder in Amerika auftrat – über Jahrhunderte hinweg das Emblem einer unverständlichen, fremden und teilweise wohl als minderwertig bis barbarisch empfundenen Kultur. Die Geschichte des Wissens über den Amok ist damit zugleich eine angewandte Studie in der Konstruktion von Alterität.

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In dieser Geschichte erfährt der staunende Leser nicht nur etwas über mittelalterliche Reisen nach Ostasien – er wird auch instruiert über die Topik und Schreibpraxis des mittelalterlichen Reiseberichts überhaupt (vgl. S. 68f.). Christians unterrichtet nicht nur über die beginnende Kolonialisierung Südostasiens im 17. Jahrhundert und die damit einhergehende Begegnung europäischer Soldaten mit der Kampftaktik Amok; er analysiert auch die Schreib- und Publikationsmethoden des Reiseberichts im 17. Jahrhundert (vgl. S. 105). Mit minutiöser Genauigkeit, unglaublicher Belesenheit und einer methodischen Skepsis behält Christians diese doppelte Perspektive stets bei: Immer geht es um die Frage, wer was unter welchem Umständen beobachtet haben kann – und zugleich um die Frage, mit welcher Verzerrung oder mit welchem Interesse das Gesehen dann diskursiv (d.h. medial) weitergegeben und archiviert wurde.

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Das aus heutiger Sicht zunächst überraschendste Ergebnis der historischen Untersuchung: Der Amoklauf galt in Südostasien keineswegs als pathologisches Verhalten von Individuen, sondern war – zunächst jedenfalls – eine soldatische Kampftaktik. Erst zu einem historisch späteren Zeitpunkt, nach der Kolonisierung des heutigen Indonesien, greifen wütende Einzeltäter zu ihrem Kris und beginnen einen Amoklauf, der der heutigen Form des Phänomens zumindest insofern ähnelt, als nach der Motivation eines an sich nur schwer verständlichen Verhaltens gesucht werden muss.

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Dabei zeigt sich eine tatsächlich verblüffende Vielfalt an historisch wechselnden Angeboten zur Erklärung der Mordsucht. »Das Amoktableau bekommt langsam Konturen«, schreibt Christians:

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Geisteskrankheit im gesamten 20. und ausgehenden 19. Jahrhundert, kriegerische Praxis vor 1800, Aufruhr gegen die Obrigkeit und Opiumsucht um 1700, elitäre kriegerische Taktik um 1600, Ehrenhandel um 1500. (S. 96)
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Aber die hier aufgelisteten Erklärungsversuche stellen nur die explizit in den verschiedensten Texten angebotenen Gründe für Amokläufe dar. Christians’ Studie befragt die historischen Quellen nach den in ihnen entfalteten Modellen für den Amok, aber zugleich nach den ihnen nicht ausdrücklich vertretenen, oftmals aber implizit erzählten Geschichten und (Vor-)Verurteilungen. Dazu zählt erstens die mehr als einmal implizit angedeutete, einmal ausdrücklich angesprochene Möglichkeit, die immer wieder auf Java vorkommenden Amokläufe als verzweifelte Akte unter einem bedrückenden Kolonialregime zu interpretieren (vgl. S. 121). Dazu zählt zweitens die vor allem seit dem 19. Jahrhundert dominierende Verbindung des Amoklaufs mit Rassetheorie: Es zeigt sich, dass »gerade die weiter verbreiteten populärwissenschaftlichen Bücher in Sachen Amok einen Kurzschluss mit den vagen rassetheoretischen Spekulationen des 18. Jahrhunderts herstellen, dessen Folgen nicht unterschätzt werden dürfen« (S. 125). Der Diskurs über den Amoklauf dient somit – zumindest ab einer bestimmten Phase kolonialistischer Rhetorik – zur Aufstellung bzw. Bestätigung rassistischer Theoreme: Jenseits der explizit dargestellten Begründungen für den Amoklauf eine offenkundig wichtige Funktion der Diskurse über den Amok.

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Amok und Nachahmung

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Beim »Amok vor dem Amok«, bei dem (noch?) nicht massenmedial inszenierten realen Phänomen, ist Heiko Christians’ Untersuchung damit offensichtlich noch nicht angekommen. Die Bedeutung des Amoks innerhalb der malaiischen Kultur – jenseits der »westlichen« Interpretationen des Phänomens – versucht Christians nun ausgerechnet durch die Lektüre eines literarischen Textes zu erschließen: des Romans Hikayat Hang Tuah, dessen älteste bekannte Manuskripte aus dem Zeitraum zwischen 1650 und 1750 stammen, dessen Quellen aber wohl bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen.

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Dieser Zugriff mag zunächst überraschen – denn gerade einem literarischen Text wird man kaum eine unverfälschte Wiedergabe außertextueller Wirklichkeit unterstellen, weniger noch sogar als den bereits zitierten Reiseberichten. Christians nimmt diesen Einwand jedoch vorweg, indem er auf eine spezifische Konstellation von Literatur und Gesellschaft im Südostasien der Frühen Neuzeit verweist: Indem die javanischen Herrscher ihr Heer im 17 Jahrhundert in der Tradition der altjavanischen Dichtung Bharatayuddha »in der Form einer Garnele« (S. 137) aufstellen ließen, beweisen sie eine – für »abendländische« Maßstäbe unerhörte – Beziehung zwischen »Literatur und Gesellschaft, genauer: Literatur, Zeremoniell und Krieg« (S. 139).

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Die Struktur des Amok in seiner javanischen Heimat ist nun, wie Christians insistiert, komplexer als in den europäischen und amerikanischen Vorfällen der Gegenwart: Es gibt Amokläufe einzelner und in Gruppen. Daneben wird unterschieden zwischen dem »gemeinen Einzeltäter aus dem einfachen Volk« (S. 145) und dem »kontrollierten mehrköpfigen Angriff, der den Amok mittelbar ausübt, um einen oder mehrere hohe politische Würdenträger [...] zu ermorden« (S. 145): Amok hatte auf Java also eine offene Grenze hin zu Phänomenen hin wie Meuchelmord oder auch zu gewöhnlichen Kampf- und Kriegstaktiken herausgehobener Soldatengruppen; zugleich gab es aber auch schon den ›illegitimen‹, nicht von einer soldatischen Hierarchie befohlenen und kontrollierten Amok.

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Die Grenze zwischen diesen beiden Polen ist offenbar von Anfang an durchlässig und labil. Die Figur der beständigen Möglichkeit ihrer Überschreitung liefert Christians einen neuen Schlüssel zum Phänomen Amok überhaupt. Diese Figur ist die der Nachahmung: Indem die [...] ausdifferenzierte kriegerische Ethik [...] in der Führungselite der vielen Stadtstaaten, Fürstentümer oder Klein-Königreiche der südostasiatischen Welt [...] Vorbildcharakter für die gesamte männliche Bevölkerung, ja in Teilen sogar für die weibliche« (S. 151) besitzt, kann der kontrollierte, ritualisierte Amok der Kriegstechnik und -taktik jederzeit qua Nachahmung zum unkontrollierten und scheinbar irrationalen Amoklauf eines Einzelnen führen.

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Die Scheidelinie zwischen dem Ritual als scheinbar statischem, höfisch-steifem Zeremoniell und dem scheinbar spontan-anarchischen Anti- oder Gegenritual des Amoklaufs ist nur hauchdünn und ständig der Gefahr der Übertretung ausgesetzt. (S. 151 f.)
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Eine Kulturgeschichte des Amoklaufs

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Mit dem Konzept der Nachahmung – medial gewendet: der Programmierung – findet Christians nun eine Verbindung zwischen dem »originalen« Amoklauf auf Java und den aktuellen Formen des Amoks in den westlichen Amoktaten der Gegenwart. »In beiden Fällen« geht es um »eine Übernahme heroischer Identitäten« (S. 235) aus dem Bereich der Fiktion und die gewaltsame Umsetzung dieser Fiktion in der Realität.

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Nach der Analyse der Grenze zwischen rituellem und unkontrollierten Amok in seiner »originalen« Umgebung beschreibt Christians in den folgenden Kapiteln eine Literatur- und Kulturgeschichte des Amoks in einer gedrängten, sehr pointiert formulierten und – wie in allen Abschnitten des Buches – mit immenser Belesenheit glänzender Argumentation. Diese kann hier nicht in allen Verästelungen nachvollzogen werden, hingewiesen sei auf zwei besonders fruchtbare Abschnitte:

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Mit Stefan Zweigs Novelle Der Amokläufer (1922) wird ein literarischer Text als Verbindung zwischen dem malaiischen Amok und der modernen Amok-Semantik im 20. Jahrhundert ausgemacht. Hier wird Amok »als Metapher nervös-krankhafter Überempfindlichkeit nach Zivilisationsentzug und einseitigem Verkehr mit atavistischen Kulturen« (S. 207) entwickelt. Von hier aus wird die Attraktivität des Amoks insbesondere für die Populärkultur des 20. Jahrhunderts nachvollziehbar.

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Christians liest Martin Scorseses Film Taxi Driver (1976) höchst plausibel im Raster seiner Überlegungen zum Verhältnis von Amok, Medien, Ethik und Nachahmung. Die Geschichte des psychopathischen Taxifahrers Travis Bickle wird in dieser Perspektive lesbar als die Erzählung vom »Ritter Bickle«: Der Wahn von Scorseses Protagonist als das Schreiben eines Lebensromans, in dem er – als Agent einer künftigen amerikanischen Regierung – dazu berufen ist, Recht und Ordnung in den Straßen New Yorks wiederherzustellen. Im Kern einer populären Darstellung eines Amoklaufs erkennt Christians damit das Muster wieder, das er anhand seiner Lektüre frühneuzeitlicher malaiischer Literatur entwickelt hat: Der (unkontrollierte, wahnhafte) Amoklauf als Folge der mimetischen Übernahme einer elitären, ritterlichen Ethik aus dem Bereich der Literatur.

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Abschließend

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Heiko Christians gelingt nicht nur eine faszinierende und hochgradig informative Studie über die Geschichte des Amoklaufs und der Vielzahl seiner Interpretationen. Zugleich zeigt seine Untersuchungen auf faszinierende Art und Weise das Potential einer Medienkulturwissenschaft auf.

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Hervorzuheben ist dabei die methodische Beharrlichkeit, mit der jeder Bericht über das Phänomen Amok und jede Interpretation desselben auf medienbedingte, gattungsbedingte oder sonstige Limitationen und Vorbedingungen befragt wird. Christians’ Untersuchung des Amoks bildet damit eine Vielzahl von Perspektiven ab und entwirft geradezu en passant so etwas wie eine Fallgeschichte zu einer Medienkulturgeschichte des Kolonialismus.

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Außerdem ist die jederzeit klare und verständliche Sprache zu loben, in der die ruhige und sachliche Argumentation vorgetragen wird. Der Autor verschont seine Leser mit jedweder Form von Jargon, und so ist seine Studie auch ohne intensive Kenntnisse der kulturwissenschaftlichen Theorieentwicklungen der letzten Jahrzehnte verständlich. Nicht wenige Abschnitte, insbesondere diejenigen, in denen eine spezifische malaiische Literatur und Kultur des Amoklaufs entdeckt wird, sind geradezu spannend zu lesen. Die große Lesbarkeit und Verständlichkeit des Buchs ist möglicherweise dem Umstand geschuldet, dass es sich erkennbar um die Ausarbeitung eines Vorlesungstextes handelt, was hier und da sogar noch an einzelnen Formulierungen sichtbar wird.

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Wollte man die Arbeit kritisieren, so können wohl zwei kritische Argumente vorgebracht werden: Erstens ist es bedauerlich, dass die recht komplexe Struktur der Argumentation nicht erläutert oder erklärt wird. Es wird keineswegs eine lineare »Geschichte des Amoklaufs« erzählt, sondern die Argumentation setzt immer wieder wie neu an, wodurch die Struktur der Arbeit vergleichsweise komplex wird. Warum beispielsweise die Ausführungen über kulturtheoretische Ansätze zum Amoklauf (Georges Devereux und Pierre Legendre) nicht in den Abschnitt über die Geschichte des Wissens über den Amok integriert wurden, wäre eine interessante Frage – und ebenso, warum die Frage nach der Rolle »der Medien«, die in den ersten Kapiteln dominiert, in diesen (späteren) Kapiteln keine vergleichbar zentrale Rolle mehr spielt. Die durchaus spannenden Ansätze Pierre Legendres etwa werden weitgehend in dessen eigenem theoretischen Vokabular expliziert – dabei wäre es vielleicht gerade fruchtbar gewesen, sie in Relation zu medientheoretisch inspirierten Überlegungen zu setzen.

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Zweitens – und mit diesem Komplex zusammenhängend – stellt sich die Frage, ob und wie sich die von Christians entwickelte Erklärung des Phänomens Amok als »unreine Fiktion« – als Nachahmungshandlung einer ritterlich-kriegerischen Ethik aus der Literatur – von den Mimesis- und Ansteckungsmodellen des Amok abgrenzen lässt, die in den ersten Kapiteln mit einigem Recht als zu grob gestrickt kritisiert werden. Der postulierte Gegensatz zwischen dem (zu einfachen?) Blick auf »die Motivik, das Genre oder das Spielsetting« auf der einen Seite und der (reflektierten?) Sicht auf »die fatale Verbindung von Formen und Intensitäten des Medienkonsums mit der vereinfachenden Deutungsmacht der vormodernen Geschichten im modernen Kontext« (S. 235) scheint bei näherer Betrachtung instabil zu bleiben. Eine präzisere Darlegung des eigenen theoretischen Zugriffs hätte hier vielleicht eine klarere Differenzierung ergeben können.

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Diese Einwände sollen und können den Wert von Heiko Christians’ hervorragender und inspirierender Abhandlung über den Amoklauf jedoch nicht schmälern. Im Gegenteil: Eine kulturwissenschaftliche Arbeit wird möglicherweise weniger an den ›abgeschlossenen‹ und quasi ad acta gelegten Themen bemessen als vielmehr an den offenen und interessanten Fragen, die sie eröffnet. Nicht nur in dieser Hinsicht kann Christians’ Studie mit viel Gewinn gelesen werden.

 
 

Anmerkungen

Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: ders.: Von der Subversion des Wissens. Hrsg. und aus dem Französischen und Italienischen übers. von Walter Seitter. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1987, S. 69–90, hier S. 74.   zurück