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»In der Mitte zwischen Magie und Logos«. Morgenröte in Arizona
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Am 21. April 1923 hielt Aby M. Warburg im Kreuzlinger Sanatorium »Bellevue« einen Vortrag über seine schon 27 Jahre zurückliegende Reise zu den Hopi-Indianern in Arizona, in der Hoffnung, »einen Eindruck von dieser in ihrer Kultur jedenfalls aussterbenden Welt« zu vermitteln sowie das Problem zu umreißen, »das für unsere ganze Kulturgeschichtsschreibung so entscheidend ist: Worin haben wir hier wesentliche Charakterzüge primitiven heidnischen Menschentums zu erblicken?«
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So die schriftliche Fassung. Die Unterstellung, die Eingeborenen Amerikas seien ein »Survival« (E. B. Tylor) einer viel älteren Lebensform, gründete in Warburgs Bekanntschaft mit der Schule Useners und damit einer Religionsforschung, die antike Texte und den Ursprung der griechischen wie römischen Religion mit Hilfe noch existenten Heidentums zu begreifen suchte. Tatsächlich lässt sich die Ineinssetzung von nordamerikanischen ›Primitiven‹ mit dem erwachenden Abendland bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen.
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Warburg beschrieb in seinem Vortrag Lebenswelt, Kosmologie und Rituale der Hopi, zog Verbindungen zwischen ihrer Bauweise (den stufenartig angelegten ›pueblos‹) und ihrer vordringlichen Symbolik (Zickzacklinien, die er als Treppenformen interpretierte) und vollzog damit den geschlossenen, über mimetische Techniken des Sprechens und vor allem Einkleidens und Bemalens zur Darstellung gebrachten Kosmos nach. Er streifte die Praktiken des Totemismus, deren Logik er als magische Annäherungsversuche an die zu beeinflussende Natur durch die Tierwelt verstand. Das berühmte Kernstück der Ausführungen, das titelgebende »Schlangenritual« ist jedoch ausschließlich dem letzten Drittel vorbehalten; den Tanz der Moki-Indianer in Oraibi und Walpi hatte Warburg nicht mit eigenen Augen gesehen. Dennoch – oder deshalb – kam er, anhand einiger Fotografien, mündlicher und gedruckter Mitteilungen – schon 1885 lag mit John G. Bourkes The Snake Dance of the Moquis of Arizona der erste Bericht vor
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– zu dem Schluss, die Plateaubewohner vollzögen mit ihrem Ritual die für das Abendland so markante »Erlösung vom blutigen Opfer«, die »als innerstes Reinigungsideal die religiöse Entwicklungsgeschichte vom Orient zum Okzident« beherrscht habe.
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Wie das? Der Schlangenclan der Moki, durch den Ursprungsmythos in eine genealogische Verbindung mit den Tieren gestellt, entsandte die Klapperschlangen im August als Regenbringer in die Wüste, mithin zu den gemeinsamen Ahnen. Im Kontext eines Fruchtbarkeitszaubers spielten sich eine Reihe von durch Tanz verbundenen Vorgängen ab, deren wichtigste zum einen die symbolische Instruktion der vermutlich hochgiftigen Schlange war – sie wurde auf ein Sandgemälde geworfen, das eine Wolkenmasse darstellte – , zum anderen die nur angedeutete Identifizierung von Mensch und Tier (angesichts der »Anverleibung ohne Einverleibung« [Gombrich] wäre es gleichermaßen unrichtig gewesen, von Opfer wie Nachahmung zu sprechen, treten die Tiere doch als Boten und ›Mitspieler‹ ins Ritual ein). Die Szene nimmt noch heute den Atem:
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Der Oberpriester des Schlangen-Clans zieht aus dem Busch eine Schlange, ein anderer Indianer, das Gesicht bemalt und tätowiert, mit einem Fuchsfell hinten, packt diese Schlange und nimmt sie in den Mund. Ein Gefährte, der ihn bei den Schultern faßt, lenkt die Aufmerksamkeit der Schlange durch die Bewegungen eines Federstockes ab. Der dritte ist der Aufpasser und Schlangenfänger, für den Fall, daß die Schlange dem Mund entgleitet. Der Tanz spielt sich in wenig mehr als einer halben Stunde auf diesem schmalen Platz in Walpi ab. Sowie alle Schlangen eine Zeitlang so zum Geräusch der Klappern getragen sind – die Indianer haben sowohl Klapper-Rasseln wie an ihren Kniegelenken Schildkrötenschalen mit kleinen Steinen, mit denen sie das Geräusch machen – werden sie von den Tänzern blitzschnell in die Ebene gebracht, wo sie verschwinden.
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Die Schonung des Totem- und Opfertiers, das, anstatt getötet zu werden eine Segnungs- oder Weihezeremonie durchläuft, interpretierte Warburg allerdings weniger im Hinblick auf die Moki, als vielmehr hinsichtlich der bekannten antiken Schlangenkulte, wobei das Verhältnis einer jeweiligen Gemeinschaft zur Schlange als »Gradmesser des vom Fetischismus zur reinen Erlösungsreligion sich wandelnden Glaubens angesehen werden« sollte,
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und zwar in der »Entwicklung von triebhaft-magischer Annäherung zur vergeistigender Distanzierung, die das giftige Reptil als Symbol dessen bezeichnet, was der Mensch äußerlich und innerlich an dämonischen Naturkräften zu überwinden hat.«
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Die Ambivalenzen in der Symbolisierung waren und sind schillernd: hier das Tier als personifizierte vernichtende Unterweltsgewalt (in Babylon, bei den Erynnien), da als Sinnbild ewiger Lebensfülle (aufgrund des Häutungsprozesses, in Fruchtbarkeitsriten der dionysischen Mänaden, aber auch – was Warburg nicht erwähnt – in der Mythologie von Apollon und Python/Delphyne
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), dort gar als Medium der Heilung (Asklepios, dessen Ikonografie Christus vorwegnimmt, um dessen Stab sich die »abgeschiedene Seele des Verstorbenen« ringelt, die aus der Erde und damit aus dem Totenreich wiederkehrt und somit Unsterblichkeit verheißen soll).
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Selbst der biblische Paradiesmythos hatte der Schlange nichts anhaben können, ruft man sich mit Warburg die Darstellungen der »ehernen Schlange« vor Augen, die bis in den Barock anzutreffen war, die »die Anbetung der vor diesem Asklepiosstab knieenden Menge als eine, wenn auch zu überwindende, Vorstufe der heilsuchenden Menschheit behandelt«.
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So nimmt es nicht Wunder, dass die sogenannten Pueblo-Indianer für Warburg schon im Vorzimmer jenes »Andachtsraum[s]« stehen, der sich nach dem Mythos, aber vor dem »Maschinenzeitalter« auftut.
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Schlangenknäuel. Perspektiven der Hopi- und Warburg-Forschung
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Ulrich Raulff hatte ganz recht, als er im Nachwort seiner Edition verkündete, der Kreuzlinger Vortrag sei – darin ein Gegenstück zu den Pueblos – ein Bau mit vielen Eingängen: »Je nachdem, welchen von ihnen man wählt, gelangt man auf andere Wege und Abzweigungen, stößt man auf andere Kreuzungen.«
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Die Geschichte des Vortrags ist nämlich mindestens genauso interessant wie dieser selbst. In gewisser Hinsicht schreiben die beiden angezeigten Bände die ›Biografie‹ von Warburgs Hopi- und Schlangenbeschwörung, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven. Während Schlangenritual aus einer im April 2002 im Hamburger Warburg-Haus stattgefundenen Tagung erwuchs, auf der die im Vortrag angerissenen ethnologiehistorischen und medienwissenschaftlichen Fragen diskutiert wurden, dokumentiert die Unendliche Heilung die Verfertigungsszene des Kreuzlinger Vortrags, die einer Selbstheilung mittels jener Reptilien gleicht, die zu töten wie auch zu retten vermögen. Wenn nachfolgend zuerst auf den Tagungsband orientiert wird, so deshalb, weil er wie ein Zoom die allmähliche Fokussierung von Zeit und Raum auf das Ereignis des Vortrags vornimmt, wogegen die Unendliche Heilung dieses Ereignis lebensgeschichtlich zurückspiegelt, die Schlange sich quasi einrollt.
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Schlangenritual orientiert vor allem auf das Wissen, das Warburgs Arbeit zugrunde lag, sowie die Formen, in denen sich dieses Wissen nach und durch Warburg realisierte. Das liegt nicht zuletzt in dessen Rezeption als »Spiritus rector einer anthropologischen Kulturwissenschaft« (S. 9) begründet (in den Entwürfen zum Kreuzlinger Vortrag berichtet Warburg von seinem »Ekel« vor der »ästhetisierenden Kunstgeschichte«: »Die formale Betrachtung des Bildes – unbegriffen als biologisch notwendiges Produkt zwischen Religion und Kunstausübung – […] schien mir ein steriles Wortgeschäft hervorzurufen.«
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) So widmet sich der Band Warburgs ›Wissenschaftspoetik‹, nämlich den gleichsam nach Familienähnlichkeiten angelegten Zettelkästen genauso wie der Geschichte des »Schlangenrituals«, mit dem sich eine ganze Tradition der Hopi-Philie verknüpfen lässt. 1895/96, noch weniger 1923, boten diese Rituale den reinen Ausdruck ›primitiven‹ Verhaltens, im Gegenteil funktionierten sie nach der Logik zunehmend massenmedial geprägter Öffentlichkeit, die sich das Spektakel des Geheimen erhoffte,
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wobei andererseits sich die Akteure der Erwartung ihrer Beobachter bewusst waren und diese für politische Zwecke einzusetzen suchten. Dies war sicher eine Folge von John C. Bourkes Buch, dessen Titel bald zum Label für zahllose Repräsentationen des Ereignisses wurde. Zugleich begann damit auch eine neue Geschichte anthropologischen Schreibens in Amerika: Man emanzipierte sich von der kulturvergleichenden Spekulation, indem die Texte akkurater, detailreicher ausfielen, aber trotzdem ein größeres Lesepublikum anvisierten (so Cora Bender in ihrem Aufsatz A Man Made Matter out of Place, S. 153–186). Für dessen größten Teil bedeutete das Schlangenritual einen besonders privilegierten Zugang zu Mythos und Lebenswelt der Eingeborenen Mesoamerikas – wogegen es im Vergleich zu anderen Festen und Zeremonien für die Hopi-Kosmologie von geringerer Bedeutung war, wie die Herausgeber schon im Vorwort vermerken –, und nicht nur Theodore Roosevelt oder D. H. Lawrence widmeten sich dem Spektakel, vielmehr entwickelte sich eine touristische Industrie, ein Reisebewegung, die den Wandermythos des Totemtiers Schlange auf der Rezeptionsebene ein weiteres Mal repräsentierte.
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Erhard Schüttpelz entwickelt unter Rückgriff auf Lea Dilworths Studien
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die These, dass im Schlangenritual die Konflikte zwischen Indianern und Nicht-Indianern Gestalt gewinnen (S. 192 ff.): Weiße U.S.-Amerikaner, ausgerückt zur Unterwerfung und Erschließung Arizonas mit Hilfe der Eisenbahn, seien bei den Hopi auf beharrlichen, aber gewaltlosen Widerstand getroffen, auf eine Gesellschaft, die mittels ihrer Rituale die »elementare Bändigung von Wildnis und Feindschaft« vorführte. Diese These lautet »ritualpolitisch« zugespitzt:
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Die bisherige und weiterhin bestehende Indianerphobie, der Wille zur militärischen Extermination und betrügerischen Deportation, von dem das nordamerikanische 19. Jahrhunderte bis dahin geprägt war, wurde gebannt, indem jedes Jahr ein bestimmtes indianisches Ritual touristisch und massenmedial gefeiert wurde, das eine analoge Phobie beschwört und bannt (S. 193).
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Welche Rückkopplungen sich daraus für die Organisation der Hopi, ihre Stellung als Objekt anthropologischer Forschungen und administrativer Einschnitte ergaben, wie sie das ›Copyright‹ auf ihr Ritual gegenüber der Mimikry von Hobby-Indianern durchsetzten und vor allem, wie die Hopi darüber sprachen und sprechen, das alles berichtet anschaulich und reflektiert der Feldforscher Hans-Ulrich Sanner in seinem Aufsatz zur ›Schlangenpolitik‹: Marginale Notizen zum Schlangentanz der Hopi 1989–1990, nebst einem historischen Katalog. Hilfreich ist, dass im »Dossier« das zugrundeliegende Material – abzüglich des Warburgschen Vortrags – gleich mitgeliefert wird: der Schlangenmythos in der Fassung von Fewkes und Warburg sowie der Bericht jener Reise, die Paul Ehrenreich im Sommer 1898 nach Arizona unternahm, wo er – anders als sein Hamburger Vorgänger – nicht nur das Ritual verfolgte, sondern die von der Verwaltung und berufenen nicht-indianischen ›Lizenzhändlern‹ erteilte Initiation erfuhr.
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Weniger den politischen und performativen Voraussetzungen des Rituals, stattdessen mehr am symbolischen und motivgeschichtlichen Kapital der Schlange interessiert, zeigen sich die Beiträge von Christian F. Feest, Spyros Papapetros und Thomas Hensel. Feest, der für die hervorragenden Schauräume zu nordamerikanischen Lebenswelten im Dahlemer Völkerkundemuseum verantwortlich zeichnet, bezweifelt, »ob man Warburg einen großen Dienst erwiesen hat, wenn man den von ihm selbst ohne Koketterie als nicht veröffentlichungsreif qualifizierten Text […] veröffentlicht hat.« (S. 119) Der Zweifel betrifft den heuristischen Wert von Warburgs Theorie einer indianischen Opferüberwindung insofern, als dass Warburgs ›primitivistische Lektüre‹ der Hopi die inzwischen belegbare Historizität ebendieser Gesellschaft entgegengestellt zu werden verdient (nebenbei bemerkt betrifft dies die grundsätzliche, zwischen Philologen und Anthropologen divergierende Einstellung zum Mythos: ist er systematische, in sich logische Darstellung von Transformationsvorgängen oder ordnet er sich durch Adaptionen jeweils neu?). Wesentliche Punkte der Kreuzlinger Argumentation werden unter der Hand dennoch bestätigt: Dass Schlangen mit Fruchtbarkeit, Wasservorräten, Krankenheilung assoziiert werden, ist unstrittig und wird auch nicht durch die vom Abendland abweichende herpetologische Klassifizierung der Hopi verneint.
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Die Schlange trägt, gerade wegen ihrer einfachen Form, einen symbolischen Überschuss in sich, der unmöglich von einem Ritual, einem Mythos zu entfalten ist (was Interpreten stets zur weiteren Entgrenzung der im jeweiligen Schlangenmythos beheimateten Bedeutungen verführte). Ob dieses Überschusses entwickelt sich eine in Kunst- und Kulturgeschichte nachverfolgbare Dialektik von Zeigen und Verbergen (Schlangenformen lokalisierte man in der Linie, im Kreis, in der Zickzackform der Treppe, sämtlichen Übergängen von Naturalismus zur geometrischen Stilisierung, im frühen 20. Jahrhundert ubiquitär im Umkreis von ›Abstraktion und Einfühlung‹). Wie Papapetros demonstriert, eröffnet sich indes ein Zugang über das Faszinosum ihrer Bewegung »ohne Füße und Hände« (S. 217–266), das seine kulturelle und kultische Evidenz erst in der Moderne auszuspielen vermag: in der im Wortsinn blitzschnellen Bewegung der Elektrizität. Das schließt zugleich die Entladung der symbolischen Potenz ein. Nicht umsonst endete Warburgs Text mit der Gegenüberstellung von mythisch vorbereitetem »Denkraum« und »Onkel Sams« Elektrifizierungsprogramm, mithin der willfährigen »Kupferschlange Edisons«.
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Warburg inszenierte einen innermythologischen Kampf zwischen dem »moderne[n] Prometheus«, der den Blitz im Draht auf Vorrat stellt, und dem archaischen Heidentum, was nicht so sehr mit der üblichen Abwertung Nordamerikas als Inbegriff von Kulturlosigkeit und Profitgier zu verrechnen ist, sondern vielmehr veranschaulicht, wie im gegenwärtigen Amerika die Kämpfe des ältesten Europa ausgefochten werden.
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Mit dieser letzten Schlangenverwandlung holt Warburg, wie Thomas Hensel in seinem medienarchäologischen Essay Kupferschlangen, unendliche Wellen und telegraphierte Bilder. Aby Warburg und das technische Bild darlegt (S. 297–360), die Voraussetzung seiner Bild- und Kulturwissenschaft wieder ein: Die durch Draht-Schlangen übertragenen telegrafischen Bilder des Maschinenzeitalters überführen zeitliches Nacheinander in räumliches Nebeneinander und unterstreichen damit nicht nur die Kernkompetenz des Bildwissenschaftlers, das Vergleichen, sondern bestärken dessen genealogische Narrative, die von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ausgehen.
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Das primitivistische Phantasma. Warburg in Kreuzlingen
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Das Herzstück des Bandes, von dem die Schlangen sozusagen in alle Himmelsrichtungen ausströmen, ist zweifelsohne Erhard Schüttpelz’ auf Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag gerichtetes Brennglas.
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Von hier ergibt sich ebenso die Querverbindung zur Unendlichen Heilung. Schüttpelz rückt Raulffs Edition von 1988 zurecht, geht diese doch keineswegs auf den tatsächlich gesprochenen Vortrag zurück, vielmehr auf die anschließende Bearbeitung der Notizen durch Warburg und seinen Mitarbeiter Fritz Saxl.
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Aby Warburg befand sich seit dem 16. April 1921 in der von Ludwig Binswanger, dem Vater der »Daseinsanalyse« geleiteten Heilanstalt Bellevue (Binswanger orientierte sich an Husserl, seit Sein und Zeit auch an Heidegger, der 1946 eine psychotische Krise ausstehen sollte
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); er litt seit Kriegsende unter dem, was man heute als paranoide Psychose bezeichnen würde, witterte Mordpläne und Verschwörungen und war zur Gefahr für sich und andere geworden. Ernest Gombrich hat in seiner intellektuellen Biografie die Umstände dieser Erkrankung weitgehend ausgesperrt. Erst am 12. August 1924 wurde Warburg entlassen. Die in der Unendlichen Heilung versammelten Dokumente (die Krankengeschichte aus den Augen der medizinischen Betreuer, Fritz Saxls und des Patienten selbst) wie auch die Einlassungen der Herausgeber selber lassen den Schluss auf eine Ursache der Krankheit nicht zu; Ulrich Raulff hatte dereinst vermerkt,
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[l]ediglich spekulieren läßt sich darüber, ob es tatsächlich ›nur‹ eine zeitlebens gefährdete Psyche war, die jetzt nachgab – oder ob nicht vielmehr eine überaus komplexe und fragile politisch-ethnisch-religiöse Identität, die sich ebenso in Anlehnung an das politische System des wilhelminischen Deutschland (Stichwort ›Hamburger Kaiserjuden‹) wie in Absetzung von diesem, in der Identifikation mit dem Judentum wie im Bruch mit der praktizierten Religion gebildet hatte, dem Druck der Verhältnisse nicht mehr standzuhalten vermochte.
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Der Vortrag in Kreuzlingen hatte somit nicht zuletzt den Zweck, die Genesungsfortschritte des Patienten zu veranschaulichen; er war darum auch an Ludwig Binswanger adressiert,
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damit an das Konzept der »Daseinsanalyse«, das weniger Heilung als vielmehr Heil suchte, mithin eine Aufhebung der antagonistischen Verschränkung von Krankheit und Gesundheit. Knapp, aber sehr luzide arbeitet Chantal Marazia im Nachwort Binswangers therapeutisches Selbstverständnis heraus. Diese Konstellation bekräftigt Schüttpelz’ Lesart, in Warburgs Vortrag einen Weg der Selbstheilung durch das von den Hopi angebotene Bild einer Anverwandlung des abendländischen Heilungssymbols schlechthin sehen zu wollen. Es handelt sich dann um einen Umweg über den ›Primitivismus‹ (nicht nur von Freud mit dem Nervenkranken zusammengeschmiedet),
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um eine vom Hopi-Asklepios
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geführte »unterirdische Reise«,
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an deren Ende Warburg zusammen mit den indianischen Kindern aus der Höhle tritt: »Die Kinder stehen vor einer Höhle./ Heraufbringen zum Licht ist die Aufgabe nicht bloß der amerikanischen Schule, sondern der Menschheit überhaupt.«
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Es geht also, wie Schüttpelz sehr zart unter Berufung auf Malinowski vorbringt, durchaus um Magie.
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Andererseits wird Warburg tatsächlich zum Ethnologen einer gleichsam internalisierten Feldforschungssituation (und vielleicht trägt sein Text dadurch doch mehr zur Ethnographie der Hopi bei, als man vordergründig annimmt), »denn Warburg mußte sich in jedem Satz seines Vortrags zugleich als Subjekt und als Objekt anthropologischer Forschungen inszenieren, als Subjekt und als Objekt einer wissenschaftlichen Regeneration und einer wissenschaftlichen Travestie«.
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Die Situation muss der des Rotpeter in Kafkas Bericht an eine Akademie geglichen (sprich: unwillkürlich die ›Aporien der Assimilation‹ offengelegt) haben. Auch das spricht eindeutig für den Text.
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Fazit
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Vor beiden Publikationen kann sich der Rezensent nur verneigen (das gilt auch, obgleich in Stimillis Einleitung der Bellevue-Dokumente die Dekonstruktion von hagiografischen Versatzstücken innerhalb der Warburg-Biografik bloß neue Hagiografien befördert: Warburg bleibt ein ›Trickster‹, dadurch ein Stachel im Fleisch der Metasprachen). Das fängt bei der Ausstattung an und geht weiter zum sorgfältigen Lektorat, dem nur selten ein Nachweis oder Registereintrag entgangen ist – lediglich hätte man sich gewünscht, der Akademieverlag wäre auf einen großzügigeren Satzspiegel verfallen. Dafür sind die reichhaltigen Abbildungen, Faksimiles, historische Fotografien etc. ein zu denken gebendes Vergnügen. Das Schlangenritual zeigt, wozu eine sozialwissenschaftlich informierte und mediengeschichtlich fundierte ›Intellectual history‹ befähigt ist, einzig ein Ausblick auf die literarischen Rezeptionsspuren des Hopi-Rituals sowie von Warburgs Text scheint zu fehlen (ist aber ohnehin ein Desiderat der großen Indianergeschichte der deutschen Literatur, die noch zu schreiben wäre). Wer über den Bannkreis der Ideen nachsinnt, wie die jüngste Warburg-Biografie von Karen Michels überschrieben ist (die von den hier vorliegenden Ergebnissen entscheidend profitiert hätte),
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muss Ausgangspunkt, Medium und Adressat dieses Banns zu untersuchen bereit sein.
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Im Vergleich dazu profitiert die Krankengeschichte der Unendlichen Heilung gerade von der verstörenden Distanzlosigkeit. Ob die »restitutio ad integrum« gelungen ist, weiß man nicht (Binswanger ließ sie weniger unwahrscheinlich erscheinen, als er die ursprüngliche Diagnose der Schizophrenie zugunsten des gesellschaftlich akzeptableren »manisch-depressiven Mischzustandes« änderte); Warburg hatte nicht mehr lange zu leben. Dafür hielt er sich gegen sämtliche Zurichtungen der Draht-Schlangen (die Elektroschocktherapie zog Gott sei Dank erst 1946 ins Bellevue ein
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) den »Andachtsraum oder Denkraum« des symbolischen Denkens offen, wehrte mittels eines ganz speziellen Pharmakons –»Symbol tut wohl« erinnerte Max Warburg einen Ausspruch seines Vaters
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– den giftigen Biss ab, und überlebte die Kosmologie der Hopi, indem er das, was er für ihre Mythen und Ritualen hielt, in eine »Wissenschaft in Bildern«
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übersetzte.
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