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Gegenstand der beiden Werke sind der deutsche Inkunabelforscher Konrad Haebler (1857–1946) und die Inkunabelforschung als historische Wissenschaft. Diese soll – Haebler zufolge – 1640 entstanden sein, als anlässlich des zweihundertsten Jahrestages der Entstehung der Schwarzen Kunst die ersten Inkunabelverzeichnisse gedruckt wurden. Als selbstständige historische Wissenschaft entstand sie aber erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als ein wissenschaftlicher und methodologischer Ansatz zu diesem Fach erstmals entwickelt wurde. Dies führte kurz danach zur systematischen Erschließung der Inkunabelbestände und Veröffentlichung der ersten Handbücher und Fachberichte, die eine Grundlage für die Kenntnis der ältesten Produkte der Buchdruckerkunst darstellten.
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Zu Konrad Haebler und seinen Nachfolgern
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In ihren Arbeiten stellen Ledda und Barbieri Konrad Haebler als Altmeister der Inkunabelforschung vor. Mit dem Typenrepertorium der Wiegendrucke (1905–1924)
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gelang es ihm, ein handhabbares Arbeitsinstrument zu schaffen. Mit Hilfe des Drucktypenvergleichs erreichte er, einen Druck der Inkunabelzeit nach Ort, Drucker und ungefährem Druckdatum auf wenige Jahre festlegen zu können. Den ersten Versuch, dem Typenvergeich eine wissenschaftlich exakte Basis zu verschaffen, hatte Henry Bradshaw (1831–1886)
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schon im Jahr 1870 unternommen. Er schlug vor, die Inkunabeln nach Typenformen einzuteilen, und sprach sich des Weiteren für die geographisch-chronologische Ordnung der Verzeichnisse nach dem Vorbild Georg Wolfgang Franz Panzers (1729–1805)
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aus. Seine Ideen kamen jedoch erst durch das Wirken Robert George Collier Proctors (1868–1903)
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zu ihrer vollen Wirkung. Inspiriert von Bradshaws Ansatz begann dieser, ein Verzeichnis aller Inkunabeln des British Museum und der Bodleian Library Oxford zu erstellen
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. Dabei ordnete auch er die Titel nach Druckorten und Druckern und erst nachfolgend chronologisch an. Proctor konzentrierte sich in seinem Werk ganz auf die drucktechnische Seite der Wiegendrucke. So verzichtete er auf jede textliche Beschreibung
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und gab lediglich den kurz gefassten Titel sowie das Jahr und gegebenenfalls den Tag des Erscheinens des jeweiligen Werkes an. Darauf folgten ausführliche Angaben zu den verwendeten Schriftarten. Proctor gab dabei für jede Druckerwerkstatt einen breiten Überblick über die verwendeten Typen. Sein wichtigstes Hilfsmittel, um die Größe einer Type zu bestimmen, war dabei das am Rand der Seite gemessene Maß von zwanzig Zeilen, das heißt von der Basis der untersten bis zur Basis der einundzwangisten Zeile.
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Während Proctor den Typenvergleich initiiert hat, kam Konrad Haebler zu einer Systematik, in der die varianten- und facettenreichsten Typen, nämlich das »M« (in den gotischen Schriften) und die Ligatur »Qu« (in den Antiquaschriften), so vollständig wie möglich erfasst und katalogisiert wurden. Er bemühte sich, Bradshaws und Proctors Methode weiter zu verbessern. Als ein entscheidendes Kriterium des Typenvergleichs übernahm Haebler von Proctor das Maß von zwanzig Zeilen, verbesserte jedoch den Modus der Messung.
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1904 übertrug man Haebler die Leitung der Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke (GW)
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, das erste moderne Gesamtverzeichnis aller jemals erschienenen Inkunabeln nach Hains Repertorium bibliographicum.
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Dabei handelte es sich um ein bahnbrechendes Projekt von weltweiter Bedeutung sowohl im Hinblick auf das ehrgeizige Ziel einer vollständigen Inkunabelbibliographie als auch wegen der durch den GW begründeten neuen Erschließungsmethode, die durch die ausführliche Beschreibung der einzelnen Inkunabelausgaben gekennzeichnet ist. Die Beschreibung jeder Inkunabelausgabe setzt sich aus fünf Teilen zusammen: der bibliographischen Notiz (d.h. Name des Verfassers, Sachtitel, Herausgeber, Übersetzer, Kommentator, Korrektor, Druckort, Drucker, Verleger, Druckdatum und Format), der Kollation (d.h. Umfang des Druckwerkes, Lagen, Signaturen, Blattzählung, Kustoden), der textlichen Beschreibung, den bibliographischen Nachweisen und den Exemplarnachweisen. Was die textliche Beschreibung angeht, wird insbesondere auf den Schrifttypus, die Interpunktion, die Abbreviaturen, die Initialen, den Zeilenschluss und die Blattbezeichnung geachtet. Zum Inhalt einer jeden Inkunabel werden unbedingt der Titel, die Dedikationsverse nach Anzahl und mit ihrem Anfang, Widmungen und Vorreden, der Anfang des Textes, die erste Zeile der zweiten Lage, die letzten Worte der eigentlichen Textes, die Schlussschrift angeführt.
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Bis heute gültig sind auch Haeblers Publikationen zu Wiegendrucken. 1925 erschien sein Handbuch der Inkunabelkunde,
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das eine [die erste?] umfassende Einführung in jenen speziellen Zweig der Buchkunde darstellt.
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In knapper und übersichtlicher Form behandelt es alle Fragen der Inkunabelkunde und ist auch heute noch für jeden, der sich mit ihr beschäftigt, ein unentbehrlicher Führer.
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1927 erschien in München Haeblers Monographie zu den Italienischen Fragmenten vom Leiden Christi,
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bei denen es sich Haeblers Ansicht nach um das älteste Druckwerk Italiens handelt.
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Anlage und Ziel der Arbeiten
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Alessandro Leddas Publikation bietet eine italienische Übersetzung dieser letztgenannten Werke. Vom Handbuch der Inkunabelkunde gab es bis heute nur eine englische (1933)
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und eine spanische Übersetzung (1995).
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Was die Passio Christi angeht, handelt es sich um die erste Übersetzung der Studie Haeblers aus dem Deutschen, die diese einem italienischsprachigen Publikum zugänglich macht.
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Den beiden Übersetzungen ist eine ausführliche und detaillierte Einführung vorangestellt, in der die wichtigsten Etappen der Entstehung dieser Werke, Konrad Haeblers Leben,
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die Beziehungen zum Nationalsozialismus, der Briefwechsel mit Ilse Schunke (1892–1979)
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und dem berühmten Antiquariat Jacques Rosenthal (1854–1937)
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aus München beschrieben sind.
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In der Übersetzung wurde sowohl die Anlage als auch die Seitenzählung des Originaltextes beibehalten; die einzigen Ausnahmen sind der Abbildungsapparat, die aktualisierte Bibliographie aller genannten Werke, inklusive der Bände vom British Museum Catalogue und dem Gesamtkatalog der Wiegendrucke, und das Namensregister.
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Zur Entwicklung der Inkunabelkunde nach Haebler
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Edoardo Barbieri bietet einen Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Inkunabelkunde im 20. Jahrhundert anhand der wichtigsten Persönlichkeiten Europas, die sie förderten: Henry Bradshaw, Robert Proctor, Alfred William Pollard (1859–1944)
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und Victor Scholderer (1880–1971)
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für Großbritannien; Marie Léontine Catherine Pellechet (1840–1900)
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und Marie-Louis Polain (1866–1933)
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für Frankreich und Belgien; Konrad Haebler für das deutsche Sprachgebiet.
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Das letzte Kapitel enthält einige Überlegungen über die Inkunabelforschung in Italien. Vorgestellt und kurz beschrieben werden einige der wichtigsten Verzeichnisse und Kataloge der italienischen Inkunabelbestände, zum Beispiel in der Biblioteca Nazionale di Palermo bearbeitet von Antonio Pennino
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, der Biblioteca Universitaria di Bologna durch Andrea Caronti
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, der Universitätsbibliothek Sassari durch Federico Ageno,
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der Biblioteca Guernacci di Volterra bearbeitet von Tommaso Accurti
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und das Gesamtverzeichnis aller italienischen Bestände im Indice generale degli incunaboli delle biblioteche d’Italia
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– besser gekannt als IGI –, der 1931 begonnen und 1972 beendet wurde.
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Das letzte Kapitel ist den heutigen Projekten über die Inkunabelkatalogisierung gewidmet: Von (I)ISTC
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– heute auch als Online-Datenbank verfügbar – bis zum 2005 erschienenen Inkunabelkatalog der Bodleian Library Oxford
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. Berücksichtigt ist auch noch BMC XI, das heißt der elfte Band vom BMC, der 2007 veröffentlicht wurde.
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Am Ende des Buches findet man vier Tafeln und das Namenverzeichnis: Die ersten zwei Abbildungen geben drei verschiedene Inkunabelbeschreibungen wieder,
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auf der dritten ist eine Seite aus dem Typenrepertorium von Konrad Haebler wiedergegeben,
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die vierte und letzte bietet Beispiele für die Anwendung von Haeblers Klassifizierungssystem.
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Fazit
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Die teilweise erhebliche Spezialisierung der Beiträge lässt nur einen begrenzten Leserkreis erwarten. Außerdem setzen die Aufsätze ein polyglottes Publikum voraus: Die Publikationen sind beide in italienischer Sprache verfasst. Beide Werke sind jedoch von unbestreitbarer Bedeutung. Leddas italienische Übersetzung von Haeblers Handbuch der Inkunabelkunde war für das italienische Fachpublikum nötig und lange erwartet. Damit wurde den italienischen Inkunabelforschern und Katalogbearbeitern ein unabdingbares Werk der Inkunabelkunde zugänglich gemacht, das anderen Beiträgen den Weg geöffnet hat.
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Für deutsche Forscher zeigt Leddas Publikation, dass Haeblers Werk in Italien große Anerkennung findet und bis heute wirksam geblieben ist. Barbieris Monographie enthält zahlreiche aufschlussreiche Erkenntnisse; sie bietet eine Gesamtübersicht der wichtigsten Entwicklungen in der Inkunabelkunde im letzten Jahrhundert, als die wichtigsten Inkunabelkataloge weltweit bearbeitet wurden. Es ergänzt und aktualisiert in dieser Hinsicht das erste Kapitel von Haeblers Werk, in dem die Geschichte des Buchdrucks und die dazu gehörige Literatur behandelt wird.
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