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Um den
spatial / topographical turn
herum

  • Jörg Dünne / Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. (Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft 1800) Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006. 554 S. Paperback. EUR (D) 18,00.
    ISBN: 978-3-518-29400-0.
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Nach der Propagierung vielfältiger turns in den Kulturwissenschaften versucht der Sammelband explizit den direkten Anschluss an einen spatial bzw. topographical turn und die damit verbundenen »Determinationen«, wie sie von den Herausgebern angenommen werden, zu vermeiden. Vielmehr will der Band »die Proklamation des spatial turn im angelsächsischen Bereich mit ihren weitgehend europäischen Wurzeln […] konfrontieren« (S. 13), woraus sich auch die Konzentration auf vorwiegend deutsch- und französischsprachige Autoren ableiten lässt.

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Implizit steht der Band jedoch in keiner reinen Absetzungsbewegung von einem turn. Dies ist einerseits daran abzulesen, dass die Intention verfolgt wird, Texte zur Verfügung zu stellen, die die gegenwärtige Diskussion um ›Raum‹ – und das heißt nach einem spatial / topographical turn – bestimmen, andererseits aber vor allem daran, dass die Textauswahl von einem impliziten Telos bestimmt ist, das kulturwissenschaftliche Ansätze weitgehend prägt und worauf sich die Rede von einem cultural turn beziehen kann: die grundsätzliche Annahme eines Gemachtseins. So erklärt sich auch der Schwerpunkt der Textauswahl: Mit Ausnahme eines Textes aus dem 17. (Descartes) und jeweils zweier aus dem 18. (Leibniz und Kant) und Ende des 19. Jahrhunderts (Ratzel und Schmarsow) stammen sämtliche Bezüge aus dem 20. Jahrhundert, mit einem leichten Schwerpunkt auf dessen zweiter Hälfte.

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Positionierungen im Vorwort?

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Das Vorwort versucht, alle möglichen Determinationen zu umschiffen, so beispielsweise hinsichtlich der Konzentration auf deutsch- und französischsprachige Autoren, woraus keine »prinzipielle Priorisierung der hier ausgewählten Theorien ableitbar« (S. 13) sei. Auffällig bleibt dennoch die inhärente Aufteilung in einen angelsächsischen, womit vorwiegend nordamerikanische Beiträge bezeichnet werden, und einen europäischen Bereich. Eine vergleichbare Struktur setzt sich in der Charakterisierung des Verhältnisses von deutsch- und französischsprachigen Texten fort: Soll wiederum einer »sprach- oder gar kulturdeterministischen Ordnung« (S. 11) entgegengewirkt werden, so wird das Spannungsverhältnis von Raumtheorien zwischen der »Annahme einer absoluten, territorialen Bindung einerseits« und dem »Ausgangspunkt einer relationalen Verortung andererseits« (S. 10) etymologisch dennoch an der Differenz zwischen dem deutschen ›Raum‹ und dem französischen espace verdeutlicht.

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Auch der Umstand, dass sich die Textauswahl auf die spätere Neuzeit beschränkt, mit der Begründung, dass sich die verschiedenen Raumbegriffe in ihrer »heute vertrauten Alltagsbedeutung« (S. 10) im ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Neuzeit herausgebildet hätten, schwächt die Konfrontation mit Fremdem und die Möglichkeit des Aufbrechens selbstverständlicher Denkweisen eher ab. Vielleicht hätte – aber auf diese Lücken weisen die Herausgeber sorgsam und ausführlich hin – dann doch ein historisch breiteres Spektrum abgedeckt werden müssen. Vorneuzeitliche Theorien werden in den abgedruckten Texten zwar rezipiert (so etwa in Luce Irigarays Aristoteles-Lektüre), doch kommt darin vorrangig eine ›postmoderne‹ Perspektive zum Tragen.

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Der Schwerpunkt liegt auf ›modernen‹ Texten des späten 19. und vor allem (der zweiten Hälfte) des 20. Jahrhunderts. Eine Auswahl, die sicherlich der gegenwärtigen Diskussionslage entspricht und diese somit nachvollziehbarer macht. Um aber wirkliche »Grundlagentexte« zu bieten und der gegenwärtigen Diskussion vielleicht auch alternative, da nicht in erster Linie neuzeitlich oder gar ›modern‹ geprägte Anstöße zu geben, hätte man sich stärker von gängigen Diskussionen lösen müssen.

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Ähnlich verhält es sich mit der als zentral angenommenen Grundproblematik von Raumtheorien: Diese bewegen sich nach den Herausgebern in dem Spannungsverhältnis, »einerseits mit den begrifflichen Vorentscheidungen zu Rande kommen« zu müssen und andererseits »einen von der Sprache unabhängigen Sachverhalt fassen« zu wollen (S. 9). Dies ist eine sehr gängige, fast populistische Annahme, bei genauerer Betrachtung jedoch eine sehr starke und kaum haltbare Voraussetzung, auch wenn sie dahingehend relativiert wird, »das Feld möglicher Diskussionen über Raum abzustecken« (S. 9).

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Die von Augustinus hinsichtlich der Zeit formulierte, im besten Sinne theoretische Forderung, selbstverständliche Vertrautheiten durch Fragen zu durchbrechen, wird durch allzu absichernde und zugleich relativierende Äußerungen in ihrer Radikalität gebrochen. Das Vorwort bleibt in dem Problem befangen, dass diskursives Sprechen immer ›Etwas‹ sagen, immer irgendwie ›determiniert‹ und ›bestimmt‹ sein muss, dass Festlegungen und Einschränkungen unumgänglich sind, was dem Anspruch einer allseitigen Offenheit und Relativität widerspricht. So wird das Vorwort paradigmatisch für die Problematik einer Erscheinungsweise der Kultur- und mit ihr der Raumtheorien.

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Felder und Lücken der Textauswahl

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Die Gliederung der Texte in insgesamt 6 Teile, im Vorwort abweichend vom Inhaltsverzeichnis bezeichnet als »Philosophie und Naturwissenschaften« (I), »Phänomenologie« (II), »Anthropologie, Psychoanalyse, Medienwissenschaft« (III), »sozialwissenschaftliche Ansätze« (IV), »Geographie und Politik« (V) sowie »ästhetische Raumtheorien« (VI), deckt die wesentlichen Bereiche der Raumdiskussion ab.

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Die Teile sind mit Einleitungen versehen, die die Texte in das Denken der Autoren sowie in die zeitgenössische Diskussion einordnen und Anschlüsse an die heutige Diskussion aufzeigen. Es folgen biobibliographische Angaben zum Verfasser, nützliche Verweise auf weitere raumtheoretische Texte des Autors sowie eine Auswahl einschlägiger Sekundärliteratur. Am Ende des Bandes (nicht zu Ende des Vorworts, wie dort angegeben) findet sich eine in sich vorwiegend nach Publikationsart geordnete (leider aber thematisch kaum gegliederte) Auswahlbibliographie zur Raumtheorie, die als umfassendere Ergänzung zu den spezifischen Verweisen am Ende der Texte sinnvoll ist, sich jedoch relativ unübersichtlich gestaltet und nicht mit den Inhalten des Bandes verknüpft wird.

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Die Edition der Texte erhebt einen peniblen Anspruch, die Übersetzungen wurden überprüft, teilweise korrigiert und mit Anmerkungen zu ausgelassenen Passagen versehen. Zudem erscheint der Text von Henri Lefebvre, »Die Produktion des Raums« (1974), zum ersten Mal in deutscher Übersetzung, und der bisher nur schwer zugänglich Text von Paul Virilio, »Die Auflösung des Stadtbildes« (1984), in einer Neuübersetzung.

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Die historischen und systematischen Verortungen der Texte in den Einleitungen zeigen vor allem auch auf, welche ›kanonischen‹ Autoren nicht in die Textauswahl einbezogen wurden. Dadurch klärt sich auch die zunächst etwas lückenhaft anmutende Textauswahl dahingehend, dass offensichtlich Texte ausgewählt wurden, die möglichst viele Bezüge zu anderen Theorien aufweisen und diese somit implizit mit abdecken. Doch werden diese Bezüge lediglich in den Einleitungen deutlich, so dass die Textauswahl nicht ganz einschlägig bleibt. Zusätzlich zu der Auswahlbibliographie an Forschungsliteratur wäre die separate Auflistung nicht abgedruckter, aber zentraler Primärtexte am Ende der Teile wünschenswert.

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Hier drängt sich auch die Frage nach der Angemessenheit des Titels des Bandes auf: ›Raum‹ meint hier entsprechend der Breite der heutigen Diskussion immer auch ›Räume‹, ›Räumlichkeit‹ und ›Räumlichkeiten‹, v. a. aber die Symbolisierungen die Metaphorisierungen des Raumbegriffs. Auf diese ganze wesentliche Problematik, die allererst die Aufnahme eines Großteils der Texte rechtfertigt und die Diskussion um ›Raum‹ bestimmen muss, wird jedoch nicht eingegangen. 1

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Wird ›Theorie‹ im Sinne einer Distanzierung von einem bloßen Lebensvollzug und somit als Möglichkeit, Selbstverständlichkeiten fragwürdig werden zu lassen, aufgefasst, so ist dieser Ausdruck in Bezug auf die Textteile und die Einleitungen angemessen, im Vorwort jedoch nicht konsequent ausgearbeitet. Auch müsste unbedingt für den Plural plädiert werden. Ähnliches gilt für den Untertitel: »Grundlagentexte« lässt zunächst eine ›kanonischere‹ und historisch breitere Auswahl erwarten, auch wenn der Ausdruck im Vorwort dahingehend spezifiziert wird, für die gegenwärtige Raumdiskussion maßgebliche Texte zu versammeln. Unspezifiziert bleiben zudem die zentralen Begriffe im Untertitel: »Philosophie« und »Kulturwissenschaften«.

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Die historisch am breitesten angelegte Textauswahl in Teil I, »Physik und Metaphysik des Raums«, gruppiert sich um die implizite Zentralfrage nach der Substanzgebundenheit von Raum in der Aristotelischen Tradition im Gegensatz zu der sich im Laufe der Neuzeit herausentwickelnden Annahme eines ›leeren Raums‹. Die Einleitung von Stephan Günzel arbeitet mit diesem Zentrum, stellt es aber nicht deutlich als solches heraus. Dennoch kommen die historischen Schwankungen zwischen diesen Polen zur Geltung,

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Die Konzentration auf deutsch- und französischsprachige Autoren hat in dem zweiten Teil »Phänomenologie der Räumlichkeit« ihren eigentlich Ort, wobei hier der einzige Text des Bandes aus dem »angelsächsischen Bereich« (S. 106), »Kriegslandschaft«, von Kurt Lewin eingeht. Wird entsprechend der Breite der phänomenologischen Ansätze sowie deren Absetzung von gängigen Raumvorstellungen die Rede von ›Räumlichkeit‹ statt von ›Raum‹ vorgeschlagen, so geht diese Begriffsverschiebung nicht weit genug. Gerade in diesem Kontext müsste die Bedeutung von ›Räumlichkeit‹ grundlegender geklärt und die Textauswahl daraus begründet werden, vor allem dann, wenn auf Denker wie den späten Heidegger eingegangen wird, dessen sprachliche Anklänge an ›Räumlichkeiten‹ mit ›Raumtheorie‹ kaum mehr in Verbindung gebracht werden können.

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Dasselbe gilt für den dritten Teil und drängt sich vor allem bei einem weiteren Denker von Sprachlichkeit, Lacan, auf. Die zunehmende Metaphorizität von Räumlichkeit wird von Hermann Doetsch zwar erwähnt (vgl. S. 199), jedoch nicht ausgeführt. Als Zentrum dieses heterogensten Teils, »Körperliche, technische und mediale Räume«, fungiert ein etwas unspezifisch gefasster Medienbegriff als »Gefüge aus organischer und anorganischer Masse sowie Zeichen« (S. 195). Die Einleitung wirft einerseits im guten Sinne Fragen auf, andererseits sollten die Erläuterungen durch teilweise extreme Verdichtungen nicht schwerer lesbar werden als die Primärtexte. Dies ist auch der Verwendung zahlreicher ›-ismen‹ zu schulden, die dem differenzierend-offenen Grundansatz und der Orientierung am Einzelnen und Konkreten zuwiderlaufen.

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Ausgesprochen angenehm präsentiert sich in dieser Hinsicht die Einleitung von Jörg Dünne zu Teil IV, »Soziale Räume«. Ausgehend vom ›Urvater‹ der Thematik, Simmel, wird das gemäßigt konstruktivistische Zentrum (des Kapitels wie implizit des Bandes) mehrmals verdeutlicht und die Textauswahl, gerade auch hinsichtlich der nicht aufgenommenen Texte, genau begründet. Die Auswahl zeigt eine gute exemplarische Umgrenzung des ›Raumes‹ der ansonsten teilweise zu disparat bleibenden Theorien auf. Hier scheint das Verhältnis von Offenheit und Begrenzung, und somit der performative Feldcharakter der Raumtheorien, am ausgewogensten gelungen zu sein. Zwar wird auch hier nicht immer deutlich, wie der Bezug zum ›Raum‹ genau bestimmt sein könnte, doch wird diese Problematik zugleich offener und eingehender behandelt (so beispielsweise in Bezug auf die ›Felder‹ Bourdieus, S. 302) als in den anderen Einleitungen.

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Dasselbe gilt für den fünften, ebenfalls von Jörg Dünne besorgten Teil »Politisch-geographische Räume«. Auch hier zeigt sich wiederum eine performative Offenheit und Vielgestalt, die eine eigenständig-kritische Auseinandersetzung, auch als Wechselwirkung zwischen der Einleitung und den Texten, geradezu provoziert. Dies ist besonders hinsichtlich der Thematisierung einer ›Geopolitik‹ mit ihren Auswirkungen auf den Nationalsozialismus der Fall. Zwar behandeln die Teile vier und fünf ›klassische‹ und bereits relativ differenziert erforschte Felder der Raumtheorie, doch bleiben die Textzusammenstellungen und die Einleitungen insgesamt positiv hervorzuheben.

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Der letzte und sechste Teil, »Ästhetische Räume« von Roger Lüdeke, kann als gelungener Abschluss des Bandes gelten. Auf den ersten Blick erscheint die Textauswahl auch hier disparat, von der Einleitung wird sie jedoch durch einen Gewährsmann der späteren Kulturwissenschaften gebündelt: Ernst Cassirer mit seiner expliziten Unterscheidung von ›ästhetischem‹ und ›mythischem‹ Raum, seinem für das beginnende 20. Jahrhundert paradigmatischen Ausgangspunkt von der Leib- und Wirklichkeitswahrnehmung und dem – auch noch für die gegenwärtige Diskussion und nicht zuletzt für den vorliegenden Sammelband – maßgeblichen ›relationalen Konzept von Raum‹ (vgl. S. 449): ein in Bezug auf Raumtheorie und kulturwissenschaftliche Ansätze dankbarer Kristallisations- und Ausgangspunkt. Die weiteren ausgewählten Texte stehen allesamt innerhalb dieser Horizonte, reißen diese auf und konkretisieren sie auf die Theaterwissenschaft, die Architektur, den Strukturalismus und die Filmtheorie hin.

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Theorie und Theoria

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Insgesamt provoziert der Band, trotz des sich allseits absichernden Vorworts, die Frage nicht nur nach seiner Gesamtanlage, nach den Zusammenhängen der Einleitungen sowie der Texte untereinander, sondern nach ›Raum‹ und ›Räumlichkeit‹ selbst. Darin wird er im doppelten Sinne performativ: einerseits Felder von Raum durch das Ineinanderspiel von Umgrenzungen und dynamischer Relationalität eröffnend, andererseits zugleich die Problematik der Be- und Entgrenzungen der Raumthematik, ihre möglichen internen Konstitutionen und externen Bezüge, selbst evozierend.

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Somit wird der Band einerseits seinem Anspruch und ›Quasi-Motto‹ gerecht: der Übertragung des philosophisch-theoretischen Anspruchs Augustins von der Zeit auf den Raum. Da hätte es das übervorsichtig-gewundene und doch teilweise ungenaue Vorwort gar nicht gebraucht. Andererseits zeigt Augustinus aber zugleich das an, was dem Band dennoch fehlt: der weitere Raum jenseits eines neuzeitlich geprägten Denkens und jenseits einer vorzeitigen Abwehr jeglicher möglicher Determinationen, auch jenseits eines (gemäßigten) Konstruktivismus’.

 
 

Anmerkungen

Überzeugender in dieser Hinsicht ist die Einleitung »Kulturelle Geographien nach dem Cultural Turn« in dem Band von Christian Berndt und Robert Pütz [Hrsg.]: Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn. Bielefeld: transcript 2007, S. 7–25.   zurück