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Zur Verschränkung von Epistemologie und Ästhetik in Musils Mann ohne Eigenschaften

  • Annette Gies: Musils Konzeption des 'Sentimentalen Denkens'. Der »Mann ohne Eigenschaften« als literarische Erkenntnistheorie. (Epistemata - Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 446) Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. 233 S. Geheftet. EUR (D) 43,20.
    ISBN: 978-3-8260-2465-8.
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Das Buch ist eine Studie über das epistemologische Problem im Werk Robert Musils. Es besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil wird auf das so genannte »Funktionale Erkennen« eingegangen, unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses des Empiriokritizismus’ Ernst Machs (Kap. I.1–3) sowie auf Friedrich Nietzsches nicht-systemische, volitive Logik (Kap. I.4.1.3.) in Musils Erarbeitung einer eigenen Erkenntnistheorie. Im Kapitel I.4 versucht die Autorin zu zeigen, wie Musil im Mann ohne Eigenschaften die Resultate dieser Reflexion in narrative Formen und Erzählstrukturen umsetzt. Dieser Teil wird mit einer breiten Darlegung des Prinzips des Essayismus abgerundet. Im zweiten Teil versucht Gies, Musils Konzeption des »Emotionalen Erkennens« als integrativen Begriff nach zu zeichnen. Dabei analysiert sie die Rolle der Gestalttheorie und der Mystik im Zustandekommen einer auf dem Gefühl basierenden Erkenntnistheorie und Erkenntnispraxis. Sie fokussiert dabei ihre Aufmerksamkeit auf die Begriffe »Ekstase«, »Liebe« und »Kontemplation«.

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Die Argumentation selbst überzeugt im Prinzip, der Text ist klar formuliert, doch zeigt er einen Mangel an begrifflicher Differenzierung. Ein Grund könnte darin liegen, dass die untersuchten Begriffe nicht kontextualisiert, d.h. nicht vor dem Hintergrund der damaligen wissenschaftlichen Diskussion betrachtet werden. So entsteht das Risiko, dass Schlussfolgerungen gezogen werden, die fragwürdig anmuten. Auch wurden grundlegende Arbeiten zu den behandelten Themen nicht zur Kenntnis genommen. Ein Beispiel: Die Autorin rekonstruiert Musils Mach-Rezeption angefangen von der Arbeit Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs, die Musil 1908 an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin als Dissertation vorlegte. Die Autorin scheint allerdings übersehen zu haben, dass diese Arbeit maßgeblich von der Kritik Carl Stumpfs, Musils Professor und erstem Gutachter der Dissertation, an Machs Empiriokritizismus, sowie von der neokantischen »Korrektur« geprägt ist. Die erste Version der Dissertation Musils, die von Stumpf abgelehnt wurde, sollte bekanntlich eine breite Studie zur erkenntnistheoretischen Grundlage der Physik unter besonderer Berücksichtigung der Lehre Machs sein. Die zweite, von Musil laut den Anforderungen Stumpfs korrigierte Version spiegelt noch stärker die Position Stumpfs wider. Die Kritik Stumpfs am Empiriokritizismus Machs bettet sich in eine breitere Reaktion der akademischen Welt gegen Machs Behauptung ein, dass physikalische Theorien Symbolsysteme bzw. Differentialgleichungen seien. Gegen diese Behauptung sprachen sich u.a. Physiker wie Max Planck, Ludwig Boltzmann und Heinrich Hertz aus sowie Neokantianer, die an der Friedrich-Wilhelm-Universität zu der Zeit stark vertreten waren und Musil in Person des Zweitkorrektors Alois Riehl nah waren. Musils Kritik an Mach zielt darauf, eine realistische Lektüre zu ermöglichen, in der eben das Gefühl eine maßgebende Rolle spielt. Die Funktionen des »Gefühls« wurden wiederum von Carl Stumpf in der Schrift Erscheinungen und psychische Funktionen (1906) behandelt – es ist eine Schrift, die Musil las und explizit zitierte. Hier werden passive Emotionen (Gemütsbewegungen) und aktive Emotionen (volitive Akte) als »psychische Funktionen«, d.h. als Modalitäten des intentionalen Bezugs auf die Welt besprochen. Musils Mach-Lektüre, die zur Dissertation führte, erfolgte im Zeichen der Diskussion über die psychischen Funktionen, die von den Schülern Franz Brentanos initiiert wurde und dann zur Phänomenologie führte. In diesem Rahmen ist auch die Reflexion über das Gefühl anzusiedeln.

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Das Ausbleiben von Bezügen zu den Werken Carl Stumpfs bei Annette Gies überrascht ebenso wie das Ausbleiben von Verweisen auf die Positionen von Alexius Meinong, Edmund Husserl u.a. Annette Gies schlägt außerdem einen ziemlich kühnen Bogen zwischen Musils Mach-Lektüre, den gestalttheoretischen Ansätzen – hier scheint die Autorin nicht ganz den Stand der Forschung berücksichtigt zu haben – und der Mystik. Zur Evaluierung von Musils »Korrektur« der epistemologischen Skepsis Machs hätte man meines Erachtens mindestens auch die theoretischen Entwürfe im Nachlass heranziehen sollen, allen voran das Fragment Bemerkungen über Apperceptor udgl., 1 in dem eben Musils Apperzeptionstheorie dargelegt wird und die veröffentlichten theoretischen Schriften um die Vereinigungen (Das Unanständige und Kranke in der Kunst, Über Robert Musil’s Bücher).

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Das Erkenntnisinteresse der Verfasserin liegt in der Erhellung des Verhältnisses bei Musil zwischen theoretischer Reflexion und erzählerischer Praxis. In diesem Sinne sind, mindestens rein ideell, drei Möglichkeiten gegeben: a) die kritische Reflexion erfolgt nach der Erzählung, reflektiert ein Phänomen, das an sich unmittelbar gegeben ist: das Schreiben; b) die kritische Reflexion erfolgt im Schreibprozess selbst, entspringt gleichsam dem Schreibprozess. Ein gutes Beispiel dafür liefern etwa Italo Calvinos Erzählwerke; c) die kritische Reflexion geht dem Schreiben voran, sie bereitet das Schreiben vor. In diesem Falle kann das Schreiben den Charakter eines Erzählexperimentes annehmen, d.h. geht von bestimmten Annahmen aus, prüft sie und am Ende wird klar, ob diese Annahmen korrekt waren oder nicht. Es ist selbstverständlich, dass in der Tat diese drei Aspekte zusammenfließen können. Allerdings scheint es mir, dass bei Musil dieser dritte Aspekt in vielen Fällen überwiegt. Musils Erzählwerk kann daher, mindestens zum Teil, auch als »Experiment« zur Prüfung von bestimmten Postulaten dienen; das erste davon ist die Annahme, dass Wissenschaft Kenntnis vermittelt. Daher wundert es nicht, dass Musils kritische Reflexion eine beeindruckende Kohärenz aufweist, und dies von den Anfängen, um 1908, über die Aufsätze der 20er Jahre (allen voran Skizze der Erkenntnis des Dichters, Geist und Erfahrung, Ansätze zu neuer Ästhetik) vor dem Hintergrund der Arbeit am Roman, an den Theaterstücken und an den Novellen, bis zu den »großen Aufsätzen« der 30er Jahre (Literat und Literatur allen voran), die sich durch Prägnanz, argumentative Weite und Stärke auszeichnen. In den 30er Jahren wird diese Reflexion durch Elemente bereichert, die aus weiteren disparaten Wissenschaftsbereichen einfließen – Anthropologie, medizinische Psychologie, Massenpsychologie u.a. Diese grundlegende Kohärenz lässt sich allerdings nicht für das Erzählwerk und das Theater feststellen. Die Frage, ob das Werk Robert Musils homogen ist, wird in der Musil-Forschung heftig diskutiert und ist hier nicht Gegenstand. Allerdings scheint mir doch, dass die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis zwischen Theorie und Schreiben eine unerlässliche Vorbedingung für das Aufwerfen der weiteren Frage ist, ob man den Mann ohne Eigenschaften als literarische Erkenntnistheorie betrachten kann.

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So lässt sich meines Erachtens zusammenfassen, dass die Untersuchung von Annette Gies wichtige Ansätze zur Deutung von Musils Ästhetik liefert. Das Thema der Verschränkung von epistemologischer Problemstellung und ästhetischem Anliegen und ihre Realisierung in narrativen Strukturen ist zweifelsohne sehr komplex, und jeder Versuch einen Beitrag zu leisten sehr begrüßenswert.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe (DVD-Edition 2009), Transkriptionen Mappe VII/6, S. 180–183. Die Nachlasstexte waren bereits im Anhang der Tagebuchausgabe Adolf Frisés zugänglich, vgl. Robert Musil: Tagebücher. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1976, Band 2, S. 927–934.   zurück