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Wenn Psychoanalyse und Kriminalliteratur einander umfangen

  • Alexander N. Howe: It Didn’t Mean Anything. A Psychoanalytic Reading of American Detective Fiction. Jefferson NC, London: McFarland & Company 2008. ix, 285 S. S. Softcover. USD 39,95.
    ISBN: 978-0-7864-3454-1.
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Der Literaturwissenschaftler Alexander N. Howe verbindet in seinem Buch Psychoanalyse und – vorwiegend amerikanische – Kriminalliteratur auf mannigfache Art. Er bespricht, wie es der Untertitel nahe legt, Kriminalliteratur aus der Perspektive der Psychoanalyse, berücksichtigt jedoch auch umgekehrt die Sicht der Literatur auf die Psychoanalyse. Zudem bereichert er seine Ausführungen zum Verhältnis zwischen Literatur und Psychoanalyse mit Überlegungen aus unterschiedlichsten Perspektiven: So räumt er der Diskussion der populären 1 Analogie zwischen Detektiv und Analytiker einen großen Stellenwert ein, und auch Jaques Lacans Auseinandersetzung mit Edgar Allen Poes The Purloined Letter wird diskutiert.

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Theoretische Grundlegungen

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Die Vielfalt der Annäherungen verwundert nicht, wenn man Howes Zugang zum Thema liest: Nach einer Einführung in die Detektiv-Analytiker-Analogie, wirft Howe in der Einleitung die Frage nach der »applied psychoanalysis« auf, die er als »much-maligned practice« bezeichnet (S. 4). Unter »applied psychoanalysis« versteht er die Annahme, dass es möglich sei, einen Autor zu ›diagnostizieren‹ und dadurch auch die ›Wahrheit‹ eines Werks zu finden, die dann zur Stützung der ursprünglichen Diagnose verwendet wird. Howe bezieht sich hier auf den französischen Psychoanalytiker Jaques Lacan, der ein häufiger Kritiker dieser Praxis gewesen sei, sowie die Literaturwissenschaflterin Shoshana Felman, die an der hierarchischen Beziehung zwischen Psychoanalyse und Literatur Kritik übe, und – in Bezug auf angewandte Psychoanalyse – eine Neubewertung der Konjunktion ›und‹ in ›Literatur und Psychoanalyse‹ fordere. 2 Howe stützt seine Forderung nach Aufhebung der Hierarchie zwischen Literatur und Psychoanalyse auf das diskursive Element beider Zugänge, das den Wirkungen der Autorität entgegen gerichtet sei:

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As each discourse seeks to curb the effects of authority with insight into the tautological nature of all discursive power, clearly the concurrence in question can no longer be thought of in terms of subject and object. For Felman, this requires that the previous relation of application be rethought in terms of implication, with etymologically suggests ›being folded within‹. (S. 5, Hervorhebung im Original)
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Der Autor fasst zusammen, dass er seinen Prolog als Einladung verstehe, den Weg, auf dem Literatur Einsicht in das Unbewusste der Psychoanalyse gebe, genauso zu beachten wie jenen, auf dem die Psychoanalyse Einsicht in die unbewussten Prozesse der Literatur gegeben habe. Dies bedürfe nicht nur einer Erneuerung der Konjunktion ›und‹ in ›Literatur und Psychoanalyse‹, sondern auch der Restrukturierung des analytischen Wissens und seiner Verwendung.

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Was ist Psychoanalyse?

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Die Studie sei »intended as an introduction for students and others interested in the meeting point(s) of these discourses« (S. 4). Hier ist die richtige Stelle, den Standort der Rezensentin zu identifizieren: Ich bin eine an Kriminalliteratur interessierte Psychiaterin mit tiefenpsychologischer Ausbildung, deshalb sind mir am ›meeting point‹ der Diskurse psychoanalytische und diagnostische Kategorien weit vertrauter als literaturwissenschaftliche Konzepte, was für meine Lesart prägend ist. Und aus dieser Lesart fällt mir auf, dass Howe ›Psychoanalyse‹ mit ›Lacan‹ und ›Freud‹ gleichsetzt, wobei Lacan erheblich mehr Gewicht zukommt. So fällt es schwer, Howes Buch als »psychoanalytic reading of american detecive fiction« zu verstehen, wenn man unter »psychoanalytic« einen Zugang versteht, der die Entwicklungen der Theorie bis in die Gegenwart repräsentiert. Vielmehr haben wir es mit einem ›Freud-Lacanian Reading‹ zu tun, und zwar in der Auseinandersetzung mit Autoren und Autorinnen, die gegenüber Lacans Ideen eher affirmativ eingestellt sind. Dies ist dem Autor selbstverständlich freigestellt, wäre dann aber wohl entsprechend zu benennen und reflektieren.

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»The Classical Detective:
Truth, Knowledge, and the Imbecility of the Master«

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Im ersten Kapitel (S. 11–66) beschäftigt sich Howe zunächst ausführlich mit der Diskussion um die Detektiv-Analytiker-Analogie, der er umfangreiche Überlegungen zum Genre sowie zu Lacans Analyse von Edgar Allen Poes Text The Purloined Letter und die anschließende Debatte durch Jaques Derrida, Barbara Johnson und Slavoj Žižek zugrunde legt. Lacan, so führt Howe aus, sei nicht am Text als Kriminalgeschichte interessiert gewesen, er habe sich von Literaturkritik und besonders psychobiographischer Literaturkritik distanziert und weder Autor noch Text interpretiert. Vielmehr habe sich Lacan für eine Ebene jenseits der Narration interessiert, die sich mit der symbolischen Ordnung befasse, der bestimmenden Orientierung, die ein Subjekt durch den Plan eines Signifikanten erhalte (S. 56 f.).

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Auf der Basis der Theorien Michel Foucaults in Überwachen und Strafen entwirft Howe das Bild einer disziplinären Gesellschaft, in der der Detektiv als »eye of the power« für die Aufrechterhaltung des Status quo und die Anpassung der Individuen steht (S. 18 f.). Die Methode des klassischen Detektivs sei die »celebrated deduction«, eine Methode, die einem rationalistischen und kausalen Weltbild entspreche (S. 23 f.). Doch Howe zeigt an zahlreichen Textbeispielen, wie Conan Doyles »Sherlock Holmes« und insbesondere Poes »Auguste Dupin« vom Weg der klassischen Deduktion abweichen.

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Die Analogie zwischen Detektiv und Analytiker bezeichnet Howe als »compelling«, wenn man die Ähnlichkeit zwischen den investigativen Techniken des Detektivs und den analytischen Techniken des Analytikers betrachte. Doch diese Sichtweise ordnet Howe einer konservativen Lesart von Detektivliteratur zu:

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However, this correlation is all too frequently spoken of in terms of the interpretative mastery that the conservative readings of the detective presented above espouse. To these ends, the detective and the analyst become mediators of the status quo, demanding the adaptation of the individual to ›things as they are‹. (S. 50)
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Hier setzt auch Howes Kritik an der Detektiv-Analytiker Analogie an: Während der klassische Detektivroman – konservativ gelesen – ein Mediator des Status quo sei, sei das die Psychoanalyse gerade nicht. Psychoanalyse konfrontiere das Individuum mit der Unmöglicheit der Anpassung. Allerdings stellt Howe auch die interpretative Macht des klassischen Detektivs in Frage:

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[…] the classical detective’s interpretative power is not quite so seamless, or indubitable, as it may at first appear. Much like psychoanalysis, then, classical detective fiction, particularly when read through the model of Poe, suggests as often as not that knowledge matches the world only with the greatest difficulty. (S. 50)
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»Protective Thinking:
Obsessional Neurosis, Analysis,
and the Hard-Boiled Detective«

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Im zweiten Kapitel (S. 67–121) analysiert Howe vorwiegend die Œuvres von Dashiell Hammet, Raymond Chandler und Mickey Spillane entlang der klinischen Struktur der Zwangsneurose, die eine geeignete Struktur für die häufig divergenten Aspekte dieser Version von Kriminalliteratur biete (vgl. S. 72).

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Howe beginnt seine Einführung in das Thema mit der Theorie der Zwangneurose Sigmund Freuds, der ›Wiederholung‹ und ›Isolierung‹ als wichtige Mechanismen beschreibe, etwas ungeschehen zu machen, was passiert sei. Der Zwangsneurotiker leugne nicht die Konsequenzen eines Ereignisses, sondern vielmehr das Ereignis selber. In der Terminologie einer narrativen Theorie ausgedrückt, sei das Zwangsritual eine Gegengeschichte, die auf das fraglich traumatische Ereignis abziele. Doch anstatt, dass Stimuli überarbeitet würden, sodass ein komfortablerer Plot entstünde, lösche das Ritual beides – Ereignis und Interpretation – aus (S. 72 f.).

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Howe macht Zeichen der Zwanghaftigkeit im hard-boiled-Krimi sowohl an der Sprache als auch an den Plots und an den Detektiven fest. Als wichtige Themen arbeitet Howe anhand mehrerer Romane Spillanes und Hammets die Beziehung des hard-boiled-Detektivs zum Vater und die Rolle der femme fatale heraus (S. 90).

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Eine besondere Rolle nimmt in Howes Analyse das Werk Raymond Chandlers ein. Anhand der Romane The Big Sleep, Farewell, My Lovely und The Long Goodbye beschreibt Howe eine Hysterisierung des Protagonisten Chandlers, Philippe Marlowe, durch ein zunehmendes Scheitern der zwanghaften Abwehrstrategien, wie sie in Hammets Werk vorkommen (S. 102 f.).

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»Philipp K. Dicks Anti Detective Fiction«

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In dritten Kapitel (S. 122–171) liest Howe das Werk von Philipp K. Dick gemäß der Kategorien ›Psychose, Neurose und Hysterie‹, etwas, das Howe angesichts der Masse und Inkonsistenz des Materials zu einem dubious task erklärt. Während Philipp K. Dick auf seiner official website als science fiction writer bezeichnet wird, liest Howe seine Texte als ›Antidetektivliteratur‹, so dass sie ihren Platz in Howes Buch aufgrund ihrer Verdienste für das Detektivgenre finden (S. 123).

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Howe führt aus, dass es im Bereich der Literatur hilfreich sei, die Unterscheidung zwischen Paranoia in Neurose und Psychose durch die entgegengesetzten narrativen Strukturen der Detektion und Anti-Detektion zu treffen. Howe sieht ein Charakteristikum der klassischen oder der hard-boiled-Detektivliteratur darin, dass der Detektiv – trotz der Abwesenheit des definitiven Signifikanten – Wissen produziere, auch wenn erschöpfende Erklärungen außer Reichweite bleiben. Die Antidetektivliteratur dagegen arbeite gegen die Produktion von Wissen und parodiere damit auch die westliche Tradition der Aufklärung:

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Working against this knowledge production, the anti-detective text refuses the detective’s (or reader’s) demands for solution. While the conclusion of any good detective tale offers some form of resolution – even if this is fleeting – the anti-detective story offers only chaos, discontinuity, and non-solution. (S.132)
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Howe wählt drei zentrale Schwerpunkte, entlang deren Verbindungen er sich mit dem Werk Dicks beschäftigt: ›Paranoia‹, ›Liebe‹ und ›Frau‹.

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Im Gegensatz zu den vorherigen Besprechungen, in denen Texte nach psychoanalytischen Gesichtspunkten untersucht wurden, gerät hier auch der Autor selber in den Fokus psychoanalytischen Interesses. Howe verweist darauf, dass selbst 20 Jahre nach seinem Tod Gerüchte und Geschichten über die exakte Natur von Dicks Störung zirkulierten, und beleuchtet die Pathologie des Autors aus verschiedenen Blickwinkeln. Anders als Texte, die analysiert werden, konnte sich hier das Objekt der Analyse, Philipp K. Dick, selber zu Mutmaßungen über seine Pathologie äußern und Howe lässt ihn in Zitaten zu Wort kommen. Howe interpretiert überlieferte Verhaltensweisen und Äußerungen des Autors nach Lacan’schen Kriterien und findet Hinweise auf eine Angst in der Präsenz des Metaphorischen, was das Kennzeichen des Psychotischen sei (S. 134).

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»Remembering, Repeating, and Working Through:
Traumatic Narrative in the Hard-Boiled Fiction
of Marcia Muller«

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Howe bezeichnet Marcia Muller im vierten Kapitel (S. 171–236) als ›Gründermutter‹ des zeitgenössischen, weiblichen »hard-boiled private eyes«, nachdem Frauen zuvor zur »femme fatale« oder sogar zu weniger bedeutenden Objekten reduziert worden seien (S. 172 f.). Doch anders als ›der ideale Mann‹, der von Chandler in seinem hard-boiled-Programm entworfen werde, was zum Beispiel bedeute, dass der Mann seine Konsistenz in der Welt aufrecht erhalte, sei es das Ziel Mullers gewesen, eine Frau zu schaffen, die einem voll entwickelten Individuum entspreche, »living in the real world, and carrying on believable interactions with supporting characters« (S. 173). Howe betont die Subversivität des Genres »at the level of genre and, more generally, in terms of basic gender expectations« (S. 175) und diskutiert die kritischen Positionen von Kathleen Gregory Klein und – als Gegenposition – Priscilla Walton und Manina Jones. 3 Klein betrachte Detektivliteratur als konservatives Genre, das nicht imstande sei, einen fruchtbaren Boden für ein feministisches Projekt zu liefern. Sie nehme eine entweder / oder Position ein: »Either the female detective genre is in all ways subversive – that is, aligned with and helpful to the feminist cause – or is not.« (S. 175) Auf der anderen Seite stünden Walton and Jones, die für das politische Potenzial dieses Subgenres einträten, »claiming, these works also establish the distinctive voice of an empowered female subject, and this, clearly, is not just a formal but is also a political gesture« (S. 177).

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Howe setzt sich das Ziel, Mullers Werk – anders als das zweite Kapitel, das den hysterisierten, zwanghaften männlichen Detektiv gelesen habe – in Begriffen der Hysteria proper zu lesen, wobei dies jedoch nicht pathologisierend verstanden werden solle (vgl. S. 181). Howe versteht Hysterie basierend auf Lacan’schen Thesen im Kontext von Distanzierung und Trennung während des kindlichen Entwicklungsdramas und dem Auftauchen von Begehren durch den Verlust von Ganzheit. Hysterie wird als Strategie verstanden, diesen Verlust nicht anzuerkennen (S. 181 f.). Ausgehend von der These, dass des Hysterischen wesentlichstes Verlangen das nach mehr Interpretation sei (S. 181), entwickelt er anhand von Mullers Werk ein Verständnis von Hysterie als Methode der Ermittlung (S. 186).

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Ein Kaleidoskop der Ideen

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Vorläufigkeit sowie die »Unmöglicheit eines allumfassenden Wissens« 4 sind zentrale Elemente des Werkes von Jacques Lacan, die fehlende Systematik, die Widerborstigkeit seiner Ideen machen die Auseinandersetzung mit seinen Texten nicht einfach. »Fünfe gerade sein lassen«, empfiehlt Peter Widmer, der versucht hat, in seinem Buch Subversion des Begehrens Interessierten den Zugang zu den wesentlichsten Ideen Lacans zu erleichtern, als Ratschlag für das Lesen Lacans. Es brauche für die Lektüre einerseits Beharrlichkeit, andererseits aber auch ein zeitweiliges Sich-Hinwegsetzen über das, was sich dem denkerischen Nachvollziehen nicht sogleich füge.

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Diese Sperrigkeit findet sich – wie zu erwarten – auch in Howes Buch wieder. Es entspräche wohl einer unangemessenen Reduktion der Ideen Lacans, wenn sie in einen flüssig und geradlinig zu lesenden Text mündeten. Lässt man sich jedoch auf die Lektüre ein, eröffnet sich eine Fülle neuer Sichtweisen sowohl auf Detektivliteratur als auch auf Aspekte der Psychoanalyse. Howe führt mit viel Arbeit am Detail einen literaturwissenschaftlichen und einen psychoanalytischen Diskurs, um beide dann zusammenzuführen – oder auch einmal zu unterbrechen, später wieder aufzunehmen oder mit ganz anderen Aspekten anzureichern. So entsteht ein Teppich der Ideen, die teils miteinander verwoben sind, teils seltsam allein zu stehen scheinen, sich auch einmal diametral widersprechen.

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Dies jedoch lässt mich – so muss ich leider gestehen – bisweilen irritiert und ratlos zurück. Das mag wohl zum Teil an der Schwierigkeit des Zugangs zu Lacan liegen, teils aber auch an der Darstellung Howes. Zwar gibt er an vielen Stellen umfangreiche Zusammenfassungen der Theorien, die seinen Überlegungen zugrunde liegen, bisweilen schreitet seine Argumentation aber auch etwas schnell voran. Wenn Howe schreibt, »the detective is unquestionable hystericized in this encounter […]« (S. 109) oder: »clearly this rift expresses changing relations to authority and the underlying fantasy structure of such exchanges« (S. 80), ist es doch etwas verzwickt, die komplizierten theoretischen Schlüsse, die hinter »unquestionable« oder »clearly« stehen, nachzuvollziehen. Besonders schwierig wird es etwa, wenn Howe schreibt:

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What I am suggesting here is that the hard-boiled text itself is always already a hysteric structure that forces the detective to confront the limits of her or his various identifications – thereby hystericizing the detective and acknowledge the fundamental emptiness of the other itself. (S. 186)
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Dies ist doch einigermaßen überraschend, nachdem sich Howe ein Kapitel lang mit der zwanghaften Struktur des hard-boiled-Genres auseinandergesetzt und die (temporäre) Hysterisierung des Philipp Marlowe als Ausnahme Schritt für Schritt dargelegt hat.

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Auch wenn Howe nicht müde wird, die Vorläufigkeit von Theorien zu betonen und wir uns über große Strecken mit Lacans »Failure of Knowledge« beschäftigen, fällt es an Stellen wie diesen schwer, sich angemessen vor Augen zu halten, dass wir es immer mit vieldeutigen und vorläufigen Begriffen zu tun haben: »Always« indiziert in meiner Lesart keine besondere Vorläufigkeit. Und so fragt man sich manchmal: Ist es jetzt Howe oder Lacan, der mich so haltlos im Kreis denken lässt und ist das überhaupt zu trennen?

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Methodische Überlegungen:
Kann man Kriminalliteratur durch die Linse
Lacan’scher Theorien analysieren?

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Im Bedürfnis, einen Teil der Irritation doch zu benennen – nach dem Motto Freuds: »Wenn wir nicht klar sehen können, wollen wir wenigstens die Unklarheiten scharf sehen« 5 –, möchte ich versuchen, Howe ein Stück von Lacan zu distanzieren, indem ich ihn an sich selber messe und sein Werk in den Rahmen seiner eigenen – im Vorwort definierten – Prämissen stelle.

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Einen zentralen Stellenwert nimmt in Howes methodischen Überlegungen die Forderung von Shoshana Felman ein, die Hierarchie zwischen Literatur und Psychoanalyse müsse aufgehoben, Literatur nicht mehr zum Objekt der Psychoanalyse gemacht werden, vielmehr müssten Psychoanalyse und Literatur einander umfangen (S. 5). Das, so Howe, setze einen neuen methodischen Zugang voraus. Dieser neue methodische Zugang wird zwar nicht weiter ausgeführt, aber ich lese einen guten Teil des Buches unter diesem Blickwinkel. Howe wechselt nicht nur die Perspektiven zwischen verschiedenen Zugängen, sondern vernetzt sie zuweilen so, dass die Grenzen zwischen Literatur und Psychoanalyse nur mehr schwerlich zu erkennen sind.

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Darüber hinaus möchte Howe Kriminalliteratur durch die Linse Lacan’scher Psychoanalyse betrachten, aus einem Blickwinkel ›angewandter Psychoanalyse‹ – und hier tun sich doch einige Fragen auf. Einerseits ist dieser Zugang dem Ziel Shoshana Felmans diametral entgegengerichtet, bringt er doch Psychoanalyse wiederum in eine hierarchisch übergeordnete Position. Ist es möglich, diese hierachische Perspektive in die Vernetzung zwischen Literatur und Psychoanalyse hinein zu arbeiten? Und – falls nein –, stammt ein Teil der Irritation möglicherweise daher, dass die Grenzen zwischen den unvereinbaren Zugängen im Text keinesfalls reflektiert und markiert werden und ich als Leserin versuche, Unvereinbares zusammen zu bringen?

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Außerdem möchte ich die Frage aufwerfen, ob ›angewandte Psychoanalyse‹ überhaupt Lacan’sche Psychoanalyse sein kann, wenn Lacan selber doch ein vehementer Gegner dieses Zugangs war. Howe selber geht auf diese Problematik ein:

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In this sense, I will engage in diagnosis (and likely application), but I would like to suggest that this is a ›diagnosis‹ that is ambiguous in all the senses implied in analytic praxis. (S. 6)
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Howe führt den oben ausgeführten Gedanken leider nicht weiter, und ich selber bin zu wenig bewandert in Lacan’scher Theorie, dass ich beurteilen könnte, was dies nun bedeutet. Handelt es sich um eine entschuldigende Geste des Autors, der betont, wenn er schon – entgegen Lacans Intention – Literatur diagnostiziere, dann in einer Lacan angemessenen, offenen und mehrdeutigen Art? Oder gibt es tatsächlich eine Art des Diagnostizierens, beispielsweise, wenn Howe die Hysterie mit dem Streben nach mehr Interpretation und am Versagen der Interpretation markiert (S. 238), die von einem ›kategorialen‹ Diagnostizieren so weit entfernt ist, dass sie einem Lacan’schen Diskurs entspricht?

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Fazit

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Das Buch ist viel mehr und viel weniger als der Titel verspricht: Es ist viel mehr als eine psychoanalytische Lesart amerikanischer Detektivliteratur. Es ist eine Auseinandersetzung mit vielfältigen Aspekten von Literatur und Lacan’scher Psychoanalyse unter mannigfachen Blickwinkeln. Es ist weniger, wenn man »Psychoanalyse« wörtlich nimmt, weil Lacan (begleitet von etwas Freud) als Pars pro toto für »Psychoanalyse« steht und Lacans Position innerhalb der Psychoanalyse nicht reflektiert wird.

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Howes Werk liest sich für mich wie die Arbeit eines Autors, der sich sehr in ein Thema vertieft hat und seine Thesen mit Kompetenz, Energie und Begeisterung zu Papier bringt, uns dabei jedoch wenig an seinen Gedanken darüber teilhaben lässt, wie denn nun alles zusammen passt – oder möglicherweise auch nicht zusammen passt, und wie das Ganze darüber hinaus auch noch zum theoretischen Umfeld steht.

 
 

Anmerkungen

Vgl. z.B.: Joel Wilbush: The Sherlock Holmes Paradigm – Detectives and Diagnosis: Discussion Paper. In: Journal of the Royal Society of Medicine 85 (1992), S. 342–345, siehe hier .   zurück
Shoshana Felman: To Open the Question. In: Literature and Psychoanalysis. The Question of Reading: Otherwise. Ed. by S. F. Yale French Studies 55/56 (1977), S. 5–10. (Reprint: Baltimore, MD: Johns Hopkins University Press 1982).   zurück
Vgl. Kathleen Gregory Klein: The Woman Detective. Gender and Genre. Urbana and Chicago, IL: Illinois University Press 1988; Priscilla L. Walton and Manina Jones: Detective Agency. Women Rewriting the Hardboiled Tradition. Berkeley, CA: California University Press 1999.   zurück
Peter Widmer: Subversion des Begehrens. Jaques Lacan oder die zweite Revolution der Psychoanalyse. Frankfurt / M.: Fischer 1990, S. 13.   zurück
Sigmund Freud: Hemmung, Symptom und Angst. In: S. F.: Gesammelte Werke. Hg. von Anna Freud. Werke aus den Jahren 1925–1931. Frankfurt: Fischer. 5. Auflage 1976, S. 143.   zurück