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Bücherspuren als Lebensspuren

  • Christiane Hoffrath: Bücherspuren. Das Schicksal von Elise und Helene Richter und ihrer Bibliothek im »Dritten Reich«. (Schriften der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln 19) Köln, Weimar: Böhlau 2009. 225 S. 12 s/w Abb. Leinen. EUR (D) 34,90.
    ISBN: 978-3-412-20284-2.
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Die Suche nach Kulturgut, das zwischen 1933 und 1945 seinen Besitzern »entzogen« wurde, ist längst nicht abgeschlossen und beschäftigt inzwischen die Forschung wie die Öffentlichkeit. Seit den 1990er Jahren lassen staatlichen Kunstsammlungen und Bibliotheken die Provenienz der Bestände aus dieser Zeit untersuchen. Das führt nicht nur zur (meist posthumen) Klärung von Eigentumsrechten an Kunstwerken oder Büchern, sondern oft genug auch zur Begegnung mit lebensgeschichtlichen Zeugnissen der Vorbesitzer. Im Fall der zwei Wiener Philologinnen und Autorinnen Elise und Helene Richter und ihrer Privatbibliothek ist dieser Zusammenhang offenkundig. Eine minutiöse Arbeit an Beständen, Erwerbungsakten, Aufzeichnungen und Korrespondenzen, wie sie hier dokumentiert wird, erlaubt nicht nur eine Vorstellung vom ursprünglichen Inhalt und Umfang dieser Bibliothek bis zu ihrer Auflösung, sondern gleichzeitig auch die Vergegenwärtigung der Besitzerinnen und ihrer Verfolgung im nationalsozialistischen Österreich. Dabei ist erstaunlicherweise die Stadt Köln der Ausgangspunkt.

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Bildung als Lebensform

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Beim »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 waren die Schwestern Helene und Elise Richter 76 und 73 Jahre alt. Als Töchter einer wohlhabenden Wiener Arztfamilie blickten sie auf ein außergewöhnliches Leben als Wissenschaftlerinnen und Buchautorinnen, aber auch als fördernde und kritische Teilnehmerinnen am kulturellen Leben der Hauptstadt zurück. Beide hatten als junge Mädchen unter strengster Aufsicht des Vaters eine Hauserziehung genossen, die zwar den Lehrstoff eines Gymnasiums umfasste, aber zu keiner weiteren Fortbildung berechtigte. Erst nach dem Tod des Vaters konnten die jungen Frauen auf Reisen, in Selbststudien und als Gasthörerinnen an der Wiener Universität ein selbständiges Leben beginnen. Und erst 1897 meldete sich Elise zur externen Matura an und ertrotzte sich danach in einer entschieden frauenfeindlichen akademischen Welt Studium, Promotion, Habilitation und schließlich die Lehrbefugnis in Romanistik. Helene, die ältere, verzichtete auf diesen mühsamen Weg, arbeitete als Privatgelehrte, verfasste Biographien englischer Schriftsteller und Wiener Schauspieler, und begnügte sich später mit Ehrendoktoraten. Beide Schwestern begannen früh mit dem Aufbau einer vielsprachigen Privatbibliothek, vor allem zur Romanistik und Anglistik, zu der auch eine Theatersammlung gehörte. 1895 fand alles Platz in einem Haus, das die beiden Damen mit dem Erbe des Vaters in der Vorstadt hatten errichten lassen, und das zum Zentrum ihrer Arbeit, aber auch zum Treffpunkt der Wiener Kunstgesellschaft wurde. Unabhängig davon blieb das Einkommen der beiden aber beschränkt (im Haus war eine Wohnung vermietet), und als nach den Krieg auch ihr Vermögen verloren ging, musste das Haus unter dem Vorbehalt eines Wohnrechts für Helene und Elise Richter verkauft werden. Immerhin konnte bis 1938, unter wechselhaften politischen Umständen, aber mit anhaltender wissenschaftlicher und schriftstellerischer Tätigkeit, das Leben weiter gehen.

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Bis hierhin schildert Christiane Hoffrath das Leben zweier Frauen in einer bildungsgesättigten und weltläufigen bürgerlichen Welt, in der man, wiewohl vom Krieg und dem Ende Alt-Österreichs erschüttert, an den gewohnten Prinzipien und Lebensformen beharrlich festzuhalten versuchte. Für die Schwestern Richter kommt dann die Katastrophe, scheinbar unvermutet, aus Deutschland. Als Angehörige einer nicht-konfessionellen jüdischen Familie sind sie zwar durchaus mit dem Antisemitismus ihres eigenen Landes bekannt, sehen sich aber nun, nach der Eingliederung Österreichs von 1938 gewissermaßen verspätet, einer systematischen Verfolgung ausgesetzt. Die Einzelheiten müssen hier nicht repetiert werden, genug, dass ihr Haus aus wiederum jüdischem Besitz in staatliche Verwaltung übergeht, immer noch unter Beibehaltung des Wohnrechts für die vormaligen Besitzerinnen, aber auch mit zunehmender Bedrohung für deren Verbleiben. In die obere Mietwohnung zieht ein nicht-jüdischer Kollege von der Universität ein. Zwangspensionierung und Vermögensabgabe lassen die Mittel für den Unterhalt knapp werden, erst recht reicht es nicht mehr für eine Auswanderung. Damit beginnt der zweite Teil des Buches, in dem Christiane Hoffrath die Korrespondenz um einen Bibliotheksverkauf dokumentiert.

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Auflösung einer Bibliothek

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Helene Richter hatte schon seit 1938/39 damit begonnen, Teile ihrer Bibliothek zu verkaufen. Im Sommer 1941 musste sich ihre Schwester Elise entschließen, einen weiteren Bestand zum Verkauf anzubieten. Ihre Adresse war jedoch nicht die Nationalbibliothek in Wien, sondern die Stadt- und Universitätsbibliothek im fernen Köln. Vermittler war dabei offenbar – die Forschung kann den entscheidenden Brief wegen fehlender Adresse nicht eindeutig zuordnen – der Romanist Eugen Lerch (1888–1952), ein alter Bekannter, der jetzt, selbst amtsenthoben, in Köln lebte. Beteiligt war ebenfalls der seit 1936 in Köln lehrende Fachkollege Fritz Schalk (1902–1980), während Prof. Hermann Corsten (1889–1968), Bibliotheksdirektor seit 1933, in seiner amtlichen Eigenschaft die Verbindung aufnahm.

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Im September 1941 erscheint Direktor Corsten mit Ehefrau zu einem Besuch in Wien, er besichtigt die verbliebene Richter-Bibliothek und macht ein pauschales Angebot über 4.000.- RM, das sofort akzeptiert wird. Gleichzeitig nimmt er Kontakt mit der Österreichischen Nationalbibliothek und mit den zuständigen Wiener Behörden einschließlich der Gestapo auf. Erst danach werden Bücherlisten angelegt, etwa 3.000 Bände kommen dabei zusammen, während der ursprüngliche Bestand etwa 8.000 Bände umfasst haben dürfte. Jetzt beginnt eine verzweigte Korrespondenz, da Corsten nicht nur mit Elise Richter Briefe wechselt, sondern auch mit dem stellvertretenden Generaldirekter der ÖNB Dr. Robert Teichl, einem bekennenden Nationalsozialisten, den er seit seinem Besuch näher kennt. Teichl, selbst interessiert, ist zur kollegialen Zusammenarbeit bereit. Korrespondenzen und Bücherlisten sind über den Krieg hinaus erhalten, möglicherweise, weil Corsten das Material zu Hause aufbewahrt hatte, und befinden sich heute im Universitätsarchiv Köln (Akte Richter), während Gegenkorrespondenzen und Teile des Nachlasses in Wien vorhanden sind.

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Am 1. Oktober 1941 berichtet Corsten dem Kuratorium seiner Universität über die Wiener Reise, bezeichnet die Bibliothek der »nicht-arischen früheren Professorin« als wertvoll, ja »notwendig« für das Studium in Köln, und die gebotene Summe als »Spottpreis«. Als die Zustimmung des Kuratoriums zu der Erwerbung erfolgt, wird zusätzlich auch die Theatersammlung von Helene Richter ins Auge gefasst, die die ÖNB haben möchte. Beide Häuser interessieren sich ferner für die Autographen. Diese erweiterte Begehrlichkeit kompliziert allerdings die Verhandlungen mit Elise Richter, die mit der politisierten ÖNB am wenigsten zu tun haben möchte. Da die NS-Behörden den Juden zudem keine Nebeneinnahmen erlauben, die über ihre Steuerschuld pro Jahr hinausgehen, versucht sie, ihr Angebot in Ratenlieferungen aufzuteilen. Durch ein Missverständnis schaltet sich zum Jahreswechsel 1941/1942 die Gestapo ein, und Elise Richter will nun, verängstigt, vom gesamten Verkauf zurücktreten. Jetzt fragt Hermann Corsten seinen Wiener Kollegen verärgert, ob man »die Sache radikal zur Entscheidung bringen« solle. Als im März die Richtersche Wohnung einem nach Wien versetzten Kölner Kollegen zugewiesen wird, erwägt er eine Beschlagnahme der Bücher durch die Polizei und ihre Verbringung in die ÖNB (S. 153–156). Die Beschlagnahme erübrigt sich: Elise und Helene Richter müssen ihre Wohnung räumen und ins Jüdische Altersheim umziehen. Die Bücher werden abtransportiert. Ab März 1942 treffen, wie vereinbart, die Kisten per Spediteur in Köln ein, anderes kommt in die Obhut der ÖNB. Während die Bibliothekare untereinander noch bis ins Jahr 1943 Briefe über Zahlungsfragen wechseln, werden die Schwestern Richter nach Theresienstadt deportiert, ohne selbst irgendwelche Zahlungen erhalten zu haben. Ihre Todesdaten werden nach dem Krieg mit 08.11.1942 (für Helene) und 21.6.1943 (für Elise) ermittelt.

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Nacharbeit

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Die politischen und geschäftlichen Hintergründe dieses »Erwerbungsvorgangs« zusammenfassend zu referieren, ist nicht ganz einfach, da der von Christiane Hoffrath abgedruckte und von ihr kommentierte Briefwechsel die einzige Quelle ist. Bei aller Sorgfalt im Detail und allem Streben nach »Dinglichkeit« der Erinnerung ist der Verfasserin der Widerspruch bewusst, der zwischen den administrativen Vorgängen in den Bibliotheken und der ungehindert fortschreitenden Judenverfolgung bestand. Mit dem umfangreichen biographischen Teil ihrer Arbeit (S. 21–93) und dessen Schlusskapitel In memoriam versucht sie, diesem Widerspruch gerecht zu werden. Kritik am formellen Vorgehen der Kölner Bibliothek weist sie ab. Der dahinterliegende Normenkonflikt bleibt undiskutiert.

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Tätiges Gedenken jedoch bedeutet die Recherche, die von der Verfasserin selbst im Kölner Haus begonnen wurde und von der sie im dritten Teil des Buches berichtet. Sie beschreibt dort zunächst die Inventarisierung der Richterschen Bücher in der USB Köln zwischen 1942 und 1994, die späte Wahrnehmung dieses Bestandes in den neunziger Jahren und schließlich die 2005 begonnene Suche nach allen ursprünglich dazu gehörenden Büchern und Drucksachen im Rahmen der Provenienzforschung, und zwar aufgrund der originalen, teilweise handgeschriebenen Listen von Elise Richter – sie mussten die im Krieg verlorenen Inventarisierungsbücher ersetzen. Diese Recherche zog sich über zwei Jahre hin. Nur noch ein Bruchteil der annähernd 3.000 körperlich aufgefundenen Bücher konnte allerdings dem früheren Besitz der Schwestern Richter eindeutig zugewiesen werden, sodass der Katalog einer virtuellen (Teil-)Bibliothek entstand. Da an dieser Rekonstruktion auch die interessierte Öffentlichkeit teilnehmen sollte, wurde unter Virtuelle Bibliothek Elise und Helene Richter ein Internetportal eingerichtet. 1 Das Portal informiert über Vorgeschichte und Umfang der Richter-Bibliothek und erlaubt die Suche im virtuellen Katalog. Dort finden sich, teilweise annotiert, Einträge zu französischen Diderot-Ausgaben ebenso wie zum 32bändigen Arden-Shakespeare.

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2006 erschien im Übrigen eine kritische Studie aus Österreich, die sich aufgrund von dortigen Quellen und Nachlassbeständen ebenfalls mit dem Fall Richter befasst, und die auch das Schicksal der in Wien verbliebenen Bücher aufklärt. Sie wurden von einer Erbin der Schwestern an die Nationalbibliothek verkauft. 2

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Christiane Hoffrath bringt in ihrer Arbeit das vieldiskutierte Thema Raubgut, Provenienzforschung und Restitution auf die Ebene einer objektbezogenen, lebensgeschichtlich und bibliothekswissenschaftlich orientierten Forschung. Sie ist bemüht, die Untersuchung des Einzelfalls in den Zusammenhang der Zeitgeschichte zu stellen und gibt damit auch eine Vorstellung vom tätigen Anteil »großdeutscher« Bibliotheken an der Verstreuung jüdischer Büchersammlungen. Ihre Studie zeigt deutlich, dass »Provenienzforschung« zugleich auch eine Selbsterforschung der heutigen Kulturinstitute nach sich zieht.

 
 

Anmerkungen

Murray G. Hall und Christine Köstner: ... allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern. Eine österreichische Institution in der NS-Zeit. Wien: Böhlau 2006, S. 270–274.   zurück