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Methodische Vorentscheidungen
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Mit dem Konzept ›Wissenschaften des Lebens‹ werden jene Gebiete naturkundlichen Wissens bezeichnet, die sich mit den Phänomenen lebendiger Körper und deren Prinzipien beschäftigen. Tobias Cheung hat ein Buch über Erklärungsmodelle des organischen Lebens zwischen 1600 und 1800 vorgelegt. Weder gab es damals die Biologie als eigenständige Disziplin, wie wir sie heute kennen, noch wusste man etwas über Zellen, Chromosomen, Gene oder die DNS-Struktur. Stattdessen untersucht Cheung in seiner Studie sogenannte ›Agenten‹, die im 17. und 18. Jahrhundert die Ordnung des organischen Lebens konstituieren. ›Agenten‹ sind als ›Regulatoren‹ zu verstehen, durch die sich die organische Ordnung selbst reguliert. Mit den Agentenmodellen gehe ein neuer Fragekanon einher, der nicht mehr von der Einheit von Leben und Denken ausgeht: »Wie lässt sich eine Ordnungsform des Lebens kennzeichnen, der kein Denken zugrunde liegt und die sich doch selbst reguliert?« (S. 11)
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Cheung trifft von vornherein eine Entscheidung, die auf den ersten Blick erstaunt: Er setzt mit seiner Geschichte der Ordnungsformen des Lebens um 1600 an und blendet dabei Aristoteles’ Theorie des Lebendigen in dessen Schrift Über die Seele aus, die zu diesem Zeitpunkt den ›biologischen‹ Diskurs sicherlich noch beherrschte. Nimmt man aber den Haupttitel des Buches – res vivens – genauer in den Blick, so merkt man durch die Assoziation mit der res cogitans, dass in ihm die Problematik des Lebendigen von Konzepten der Philosophie des Descartes aus gedacht ist.
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Der Grund für diese Vorentscheidung ist rasch ermittelt: Methodisch schließt Cheung nämlich an Michel Foucaults Die Ordnung der Dinge (frz. 1966) an, ein Buch, das, so Cheung, »auf Diskurskonstellationen abzielt, die am Ende des achtzehnten Jahrhunderts zu einem wissenschaftlichen Ordnungsdispositiv des Lebens führen« (S. 13). Und in der Zeit vor 1800, so Foucault, »existiert in der Tat das Leben nicht, sondern lediglich Lebewesen.«
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Vom Leben könne man denn auch nur »als von einem Merkmal« sprechen, als taxonomisches Kriterium also, nach dem Lebewesen klassifiziert werden.
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Dies wiederum erklärt nicht nur, weshalb Cheung von »Ordnungsformen körperlichen Lebens« (S. 11) spricht, sondern auch warum er sich in seiner Untersuchung de facto vor allem auf die zweite Hälfte des 17. und auf das 18. Jahrhundert konzentriert, dem sogenannten âge classique also, in dem nach Foucault auch ein epistemologischer Bruch bzw. eine andere Wissensordnung als im 16. Jahrhundert zu verzeichnen ist, nämlich die der ›Repräsentation‹, die das sogenannte Ähnlichkeitsdenken der Renaissance ablöse.
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Damit wird klar, warum Aristoteles Theorie des Lebendigen von vornherein keinen konstituierenden Ansatz für diese Arbeit bilden konnte, schon deshalb nicht, weil Aristoteles’ Begriff der Seele mit der Annahme einer res cogitans als denkende Substanz nicht zu vereinbaren ist. Von der res cogitans aber – wie von der res extensa als der leblosen Materie – grenzt Cheung die res vivens als »eigenständige (in sich fundierte) Existenzform« (S. 12) ja gerade ab. Was Cheung durch seine methodische Vorentscheidung jedoch verkennt, ist, dass die Aufteilung der Existenzformen in res cogitans und res extensa, durch die das Problem der Existenzform der res vivens erst sichtbar wurde, selbst als Produkt der aristotelischen Seelendebatte um 1600 hervorgegangen war:
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Biologische Prozesse werden vom anima-Begriff abgekoppelt und dem Naturbegriff zugeordnet; die (vom Körper abgelöste) Seele wird in der Wissenschaft der Metaphysik behandelt, in der anima nunmehr mit mens identifiziert wird.
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Dabei reflektiert das von Cheung diskutierte ›Assimilationsmodell von Seele und Körper‹ in den Disputationes metaphysicae (1597) des Francisco Suàrez (S. 124–132) die hier angesprochene Problematik: »Die Ordnungsform des ›Lebens‹ in ›lebendigen Körpern‹ bleibt [...] in Suàrez’ Ansatz grundlegend von der substantiellen Differenz zwischen Seele und Körper abhängig« (S. 131). Die Reduktion der Seele vom Prinzip des Lebens zu einem Denkorgan war also der philosophie- und medizinhistorisch bedeutsame Grund, der das System der Wissenschaften um 1600 veränderte und neue Fragen in der Ordnung des Lebens aufkommen ließ.
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Methodisch folgt Cheung Foucault dennoch nicht auf der ganzen Linie, sondern zieht einen anderen Gewährsmann heran: Georges Canguilhem, der in seinen Arbeiten als epistemologischen Wissenschaftshistoriker »Erklärungsmodelle [untersucht], die sich auf Aspekte der Ordnung des ›immanenten Leben‹ beziehen« (S. 13). Dies erklärt denn auch den eher begriffsgeschichtlichen Charakter von Cheungs Studie. So spricht Canguilhem etwa in seiner Studie über den Begriff der biologischen Regulation im 18. und 19. Jahrhundert davon, dass »[d]ie Geschichte der ›Regulation‹ sich also nur schreiben [lässt], wenn man mit der Geschichte des ›Reglers‹ beginnt, einer Geschichte, die aus Theologie, Astronomie, Technologie, Medizin und sogar aus der gerade erst entstehenden Soziologie zusammengesetzt ist«.
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Cheungs Untersuchung »setzt Canguilhems und Foucaults Arbeiten fort, verfolgt jedoch einen anderen Weg der historischen Rekonstruktion« (S. 13).
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Agentenmodelle
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Cheungs Untersuchung ist durch neun Themen gegliedert: 1. Tiermaschine und Menschenseele, 2. plastische Natur, 3. Instinkt, 4. Seelenautomat, 5. lebendige Faser, 6. Seelenorganismus, 7. Sensibilität, 8. lebendige Webmaschine und 9. Funktionssystem (S. 13). Die Themen werden in acht Kapiteln dargestellt, in denen im Wesentlichen deren Inhalte rekonstruiert und die Modelle organischer Ordnung geduldig auch bis in einzelne Details erörtert werden. Dies macht die Lektüre manchmal etwas ermüdend. Cheung stellt seine Diskussion dieser Modelle aber auch in ein gröberes Raster. Er betont an mehreren Stellen den Unterschied zwischen Ansätzen, denen das Seele-Körper-Modell – belebte Körper – zugrunde liegt und solchen Ansätzen, in denen es nicht mehr um eine Körper-Seele-Beziehung, sondern nur noch um die Kategorie des lebendigen Körpers per se geht (S. 103, 106). Dabei macht Cheung auch auf die Übergangsfiguren aufmerksam, die als Bindeglied zwischen der einen Logik des Lebens und der anderen fungieren. So stellt etwa Hermann Samuel Reimarus Trieb- und Instinkttheorie ein Bindeglied zu Xavier Bichats und Georges Cuviers Funktionssystemen dar, so wie Francis Glissons Konzept der ›lebendigen Faser‹ eine Brücke zu Théophile Bordeus ›Sensibilität von Organen‹ bildet. Dasselbe gilt für Georg Ernst Stahl ›Seelenorganismus‹, der ein Übergang zu Paul-Joseph Barthez ›vitales Prinzip‹ darstellt. Damit zeigt Cheung, wie sich auf der Ebene der Begriffsformationen und der Theoriekonzepte Kontinuitäten und Filiationen ergeben, die das diskursive Feld ›Agentenmodelle‹ im untersuchten Zeitraum strukturieren.
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Wie wichtig es allerdings gewesen wäre, Kontinuitäten auch mit der aristotelischen Seelendebatte um 1600 herzustellen, zeigt die Darstellung der ›materiellen Agenten‹ im dualistischen ›Tiermaschinen-und-Menschenseele‹-System von Kenelm Digby um die Mitte des 17. Jahrhunderts (S. 17–40). Dieses geht nämlich als Resultat der Fragmentierung des aristotelischen Systems hervor, das schon im 16. Jahrhundert wegen der Inkompatibilität des naturalistischen Seelenkonzepts bei Aristoteles mit dem kirchlichen Dogma der Unsterblichkeit der menschlichen Seele in Konflikt geriet und zu einer Anthropologie führte, die den menschlichen Körper ›entspiritualisierte‹, ihn also als ›seelenlose‹ Maschine auffasste und sämtliche Körperprozesse mechanistisch auf die Gesetze von Materie und Bewegung zurückführte. Dies erklärt warum »[d]as Leben in lebenden Körpern [...] für Digby keine eigene, vom Unlebenden kategoriell abgrenzbare Ordnungsform [ist]« und die menschliche Seele »nicht zur Natur aller Körper gehört« (S. 39f.).
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Das mechanistische Weltbild, das sich durch Descartes’ Naturphilosophie im Laufe des 17. Jahrhunderts konsolidierte, drohte nicht nur die Geistseele aus dem Körper, sondern parallel dazu auch Gott aus der Welt auszuschliessen und in die Transzendenz zu verbannen. Ohne die mechanische Natur zu leugnen, führte daher der Cambridger Neuplatoniker Ralph Cudworth in seinem True Intellectual System of the Universe (1678) ein finales Prinzip in die Welt ein, nämlich das einer ›plastischen Natur‹, die Gott als Instrument seiner bloß ›mittelbaren‹ Wirkung in der Körperwelt dienen sollte. Natürlich verband die plastic nature nicht nur Körper und Seele, sondern wurde auch als regulatives Prinzip sämtlicher vitaler Prozesse angesehen (S. 52). Obwohl Cheung nur in einer Fussnote darauf hinweist, dass Leibniz in seinen Considérations sur les principes de vie, et sur les natures plastiques (1705) Cudworths Begriff der plastischen Natur kritisiere (S. 52, Anm. 55), ist diese Kritik dennoch bedeutsam, um zu verstehen, wie das neue Weltbild des 18. Jahrhunderts funktionierte. Indem nämlich Leibniz in den Considérations sein Konzept der ›materiellen plastic natures‹ oder ›physischen Monaden‹ gegen Cudworths Konzept der ›immateriellen plastic natures‹ absetzt, nährt er den Suspekt, dass er den gefährlichen spinozistischen bzw. pantheistischen Implikationen von Cudworths Naturbegriff, den auch Goethe und Herder kannten,
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aus dem Weg gehen wollte.
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Auf Leibniz’ Konzept physischer Monaden sollte aber vor allem Francis Glissons Weise einfliessen, sich das ›Leben der Natur‹ als eine ›energetische Substanz‹ vorzustellen, die in der körperlichen Ordnung wirkt und durch welche Lebewesen erst zu ›lebendigen‹ Wesen werden. Die Wirkungsweise der energetischen Natur ist perzeptiv und wird von Glisson am »physischen Modell einer ›perzipierenden Faser‹« (S. 136) verdeutlicht: »Jede Tätigkeit oder ›Operation‹ der ›Faser‹ ist immer schon (blosse) Perzeption, Appetition oder gerichtete Bewegung« (S. 138). Wichtig ist dabei zu sehen, dass es sich hier um eine sogenannte ›natürliche Perzeption‹ handelt, die also ohne sinnliche Wahrnehmung und Denken ist. Als Grundbaustein der Ordnung lebendiger Körper – egal ob Pflanze, Tier oder Mensch – vollzieht die Faser eine kontraktive und entspannende Bewegung, die Glisson in De natura substantia energetica (1672) ›Irritabilität‹ nennt (S. 141f.) Damit legt er die konzeptuelle Basis für die experimentelle Erforschung der Reizbarkeit durch den berühmten Physiologen Albrecht von Haller um 1750, der aber – gegen Glissons »Metaphysik des ›Lebens der Natur‹« (S. 133) – die kontraktive Kraft in der Muskelfaser (irritabilité) neomechanistisch als Wirkung einer physikalischen Grundkraft (vis mortua) deutet.
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Das Kapitel über Georg Ernst Stahls Seelenorganismus (S. 145–173) ist eines der spannendsten in Cheungs Buch. Nicht nur weil es den ›Mechanismus‹ und den ›Animismus‹ bzw. ›Vitalismus‹ als die beiden konkurrierenden Deutungsmuster in den ›Wissenschaften des Lebens‹ des 18. Jahrhunderts anhand von Beispielen deutlich vor Augen führt, sondern auch weil es zeigt, dass die Wissensbestände der Renaissance den Medizinern noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein präsent waren. Da Cheung Letzteres aber nur ansatzweise anzeigt (meist nur mit knappen Hinweisen in den Fußnoten), geht in seiner Argumentation diese relevante historische Tiefendimension etwas verloren. So heißt es zum Beispiel:
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Jegliche ›Lenkung‹ körperlicher Bewegung muss für Stahl jedoch auf einem ›Wissen‹ natürlicher Agenten beruhen. Ein solches ›Wissen‹ ist nicht notwendig an Bewusstseinsakte gebunden. Um es zu charakterisieren führt Stahl eine Differenz zwischen einer ratio, die geregelten organischen Prozessen ohne Bewusstsein zugrunde liegt, und ›schlussfolgerndem Denken‹ (ratiocinatio) ein (S. 166).
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Stahl übernimmt hier Argumentationsmuster aus der Debatte um das ›Wissen‹ der vegetativen Seele, die in einer Reihe von Schriften des Marburger Logik- und Physikprofessors Rudolph Goclenius in den 1590er Jahren herausgebildet wurden und die gegen den naturalistischen Seelenbegriff des medicus philologus Julius Caesar Scaliger in seinem Werk Exotericae exercitationes (1557) gerichtet waren.
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Scaliger betont etwa: »Da sie [die vegetative Seele] das Herz baut, weiss sie, was das Leben ist«
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und formuliert damit ein Paradoxon, das Goclenius durch die Einführung von Differenzierungen im Wissensbegriff – ähnlich wie bei Stahl – auflöst.
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Es ist denn auch kein Zufall, dass Leibniz in seinem kritischen Kommentar zu Stahls Theoria medica vera (1708) den motus vitalis als vorbewusste Seelenregung (appetitio obscura) begreift und diese anhand niedriger Stufen des foetalen Lebens, in denen sich der Embryo lediglich ernährt, veranschaulicht.
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Eine genauere Lektüre von Leibniz’ Animadversationes Circa Assertions aliquas Theoriae Medicae verae Clar. Stahlii (1709) hätte sich hier also bestimmt gelohnt.
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Im Zuge der europaweiten Rezeption von Hallers Irritabilitätslehre verschiebt sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Bedeutung des Begriffs der ›Sensibilität‹ in relevanter Weise. Während Haller noch zwischen der unbewussten Irritabilität der Muskelfaser und der – mit dem zerebralen Bewusstseinszentrum verbundenen – Sensibilität der Nerven unterschieden hatte, schreibt der Mediziner aus der Schule von Montpellier, Théophile Bordeu, organischen Körpern eine sensibilité vitale direkt als Eigenschaft zu, die sie von unlebendigen Körpern kategoriell trennt. »Für Bordeu konstituiert sie [die Sensibilität] das Leben in lebendigen Körpern« (S. 175). Das einzelne Organ selbst ist also ›sensibler Agent‹ des Lebens. Dabei schwankt Bordeu »zwischen zentraler Regulation und lokalen Aktivitätszentren«, das heißt zwischen der Annahme, dass das »›Prinzip der Sensibilität‹« die Summe der lebenden organischen Teile ist, und der Annahme, dass eine erhaltende Kraft (force conservatrice) den Organismus des lebendigen Körpers (organismus du corps vivant) zentral reguliert (S. 195).
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Auf ein solches erhaltendes Prinzip, das ›vitales Prinzip‹ genannt wird, legt sich hingegen Paul-Joseph Barthez fest, der 1785 zum Direktor der medizinischen Fakultät in Montpellier ernannt wurde. Die Beschreibung des Barthez’schen principe vital hört sich dabei wie eine Verallgemeinerung der Leibniz-Stahl’schen perzeptiv-plastischen Funktion an, die im ausgebildeten organischen Körper sämtliche automatisierte vitale Bewegungen ausführt (S. 202f.). Hinzu kommt, dass sich für Barthez organische Ordnung auch noch durch ein allgemeines ›sympathetisches System‹ organischer Teile auszeichnet, »die ihr einheitliches Zusammenwirken – etwa zur Aufrechterhaltung einer bestimmten Ökonomie innerer Wärme – ermöglicht« (S. 208f.). Dabei erinnert das Konzept der Wärmeerhaltung aus Barthez’ Élémens de la science de l’homme (1778/21806) an eine antike Definition des Lebens, die erneut Aristoteles in De iuventute et senectute, De vita et morte – ein Text aus der Sammlung der Parva naturalia – gegeben hat und die offenbar nachhaltig wirkte.
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Aufbauend auf der Sensibilitätstheorie Bordeus und dem vitalen Prinzip Barthez’ entwickelte ferner der in Paris arbeitende Chirurg Xavier Bichat um 1800 eine Gewebetypologie organischer Ordnung. Wie die Elementenlehre in der Chemie konstituieren 21 Gewebearten (u.a. zelluläre, nervöse, arterielle, medulläre, fibröse, muskuläre, muköse, die der Drüsen, der Haut) »die innere ›Organisation‹ organischer Körper« (S. 239 u. 242). Bichat stellt den 21 Gewebearten 21 Funktionen gegenüber und teilt diese wiederum in vier ›Klassen‹ ein: 1. Funktionen des tierischen Lebens (Gefühle, Gehirnfunktionen, Fortbewegung), 2. Funktionen des organischen Lebens (Verdauung, Atmung, Blutzirkulation), 3. Die Art betreffende Funktionen (Samenproduktion, Menstruation), 4. Funktionen der Vereinigung der Geschlechter (Fortpflanzung) (S. 240). Diesen Lebensfunktionen liegen somit organisierte materielle Strukturen zugrunde, also bestimmte ›Systeme‹ von Organen, die sich ihrerseits aus Kombinationen der 21 Gewebe zusammensetzen (S. 241). Gewebearten und Funktionen sind dennoch »nur Bedingungen, nicht jedoch selbst Erklärungen für die Wirkweise ›vitaler Eigenschaften‹«, weil diese ständigen Modifikationen unterworfen und daher konstant instabil sind (S. 242).
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In den Augen des vergleichenden Anatomen Georges Cuvier, der 1802 am Pariser Muséum d’histoire naturelle den gleichnamigen Lehrstuhl übernahm, musste Bichats Ordnungssystem eher ›künstlich‹ und abstrakt erscheinen. Die Ordnungsebene, von der Cuvier seine ›tierische Ökonomie‹ bestimmt, ist nämlich nicht die der Gewebe, deren Struktur von bloßem Auge nur schwer zu bestimmen ist, sondern die der Organe (S. 246). Nach den Organen der Wirbeltiere legt Cuvier denn auch den ›Typ‹ fest, nach dem er die Organe anderer Tiere ordnet, insofern Analogien zu ermitteln sind (S. 244, Anm. 47). »Dieser Erfahrungskontext ermöglicht es ihm, die ›natürlichen‹ Ordnungsformen lebendiger Körper systematisch zu ordnen« (S. 246f.). ›Natürlich‹ ist Cuviers Organisationstyp eines lebendigen Körpers auch deshalb, weil er ihn auf dessen ›natürlichen Existenzbedingungen‹ bezieht:
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[Ein Carnivor existiert dann, wenn] seine Kieferknochen so konstruiert sind, dass sie die Beute verschlingen können; dass seine Zähne das Fleisch zerkleinern und zerteilen können; dass das ganze System seiner Bewegungsorgane die Beute verfolgen und ihr auflauern kann; und dass seine Wahrnehmungsorgane es ermöglichen, die Beute von weitem wahrzunehmen. (S. 251)
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Das, was für den Löwen die Kieferknochen sind, sind für die Heuschrecke die Beine, deren äußere Form ebenfalls von einer bestimmten Lebensform oder Verhalten abhängt: »›Sind sie dazu bestimmt, im Wasser zu bleiben, zu schwimmen? Dann sind die Beine flach, lang und behaart. [...] Sind sie zum Springen geeignet? Der Schenkel ist massiger, das Bein in die Länge gezogen, oft gebogen‹«, so Cuvier (ebd.). Das ›rationale‹ Verhältnis zwischen Organisationstyp und Existenzform ist – wie schon in Reimarus’ Instinktlehre – auf den Endzweck der Selbsterhaltung bzw. gegen den Tod gerichtet. Gleichzeitig ist dieses Verhältnis ›konstant‹ und nicht von einer Art auf die andere übertragbar, deren Variabilität durch einen gemeinsamen ›Bauplan‹ der Tiere – analog zur Präformationstheorie der Keime nach Charles Bonnet – begrenzt ist (S. 255f). Bonnets und Leibniz’ Ordnung der scala naturae »zerfällt« zwar in Cuviers ›Wissenschaft organischer Körper‹ »in Netze verschiedener Ähnlichkeiten« (S. 256). Der Immutabilismus der Arten, welcher der schöpfungstheologischen Idee eines intelligent design folgt, ist bei Cuvier jedoch noch keineswegs in Frage gestellt.
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Fazit
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Tobias Cheung hat sicherlich eine sorgfältige Studie vorgelegt, die es in dieser Form und mit dieser Materialkenntnis im deutschen Sprachraum bislang noch nicht gab. Cheung präsentiert genaues begriffliches Wissen, wo es um die Rekonstruktion des jeweiligen Ordnungsdiskurses des Organisch-Lebendigen geht, vernachlässigt aber zugunsten dieser Genauigkeit kontextuelles Wissen, besonders die Beziehungen ebendieses Ordnungsdiskurses zu anderen Diskursen wie den sozialen, anthropologischen oder naturrechtstheoretischen, die den Ordnungen des Lebens nicht indifferent gegenüber standen. Zwischen 1600 und 1800 bewahrten gerade die Gegenstände der Wissenschaften des Lebens – im Gegensatz zu denen der Mechanik –»ihren ›moralischen Sinn‹, d.h. ihre soziale Markierung«.
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Noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts entschied etwa die Akzeptanz eines embryogenetischen Modells – nämlich das der Epigenese oder der Präformation – nicht nur über die Aufrechterhaltung einer Naturordnung, sondern auch über die Bewahrung eines Modells von Gesellschaft, eines Moralsystems oder einer Regierungsform.
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So gesehen ist auch das ›lebendige Ding‹ nie in ›rein‹ begrifflicher Form gegeben und als solche als bare Münze zu nehmen. Vielmehr ist das ›lebendige Ding‹ immer schon durch kulturell bedingte Denkmuster geprägt, die dessen Historizität konstituieren. Vor allem aber ist es Cheung durch die Ausklammerung der Debatte um die aristotelische Seelenlehre und Theorie des Lebens nicht ganz gelungen, zu erklären, warum die Seele letztlich aus den Wissenschaften der Natur und des Lebens eliminiert wurde – eine Frage, die nicht nur um 1600 brisant war, sondern auch heute sowohl die natur- als auch die geisteswissenschaftliche Forschung wieder stärker beschäftigt.
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