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Von Mäusen und Männern

Prolegomena zu einer Narratologie der Gastlichkeit

  • Peter Friedrich / Rolf Parr (Hg.): Gastlichkeit. Erkundungen einer Schwellensituation. Heidelberg: Synchron 2009. 394 S. Paperback. EUR (D) 39,80.
    ISBN: 978-3-939381-19-8.
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Kulturwissenschaftliche Forschung rund um die Begriffsfelder Schwelle, Grenze und Liminalität ist derzeit en vogue: Davon künden etwa die Reihe »Literalität und Liminalität« des transcript-Verlages, der Tübinger Promotionsverbund »Abgrenzung – Ausgrenzung – Entgrenzung: Gender als Prozess und Resultat von Grenzziehungen« oder der Blick in den Eppelsheimer-Köttelwesch, der für das Schlagwort ›Schwelle‹ eine Vielzahl an Treffern bereithält. Mit der Bestimmung von Gastlichkeit als »Schwellenphänomen« (S. 9) beziehen sich die Bielefelder Herausgeber Peter Friedrich und Rolf Parr in ihrem Sammelband also auf ein aktuelles, virulentes und ausgesprochen fruchtbares Forschungsparadigma, um ein anderes, (fast) gänzlich neues zu erschließen. Der aus einer Tagung hervorgegangene Band verfolgt die These, dass die »Situation Gast/Gastgeber immer auch etwas mit Erzählen zu tun hat; Gastlichkeit ist […] eine jener Schwellensituationen der Begegnung von Fremdem und Eigenem, von Innen und Außen, Nähe und Ferne, Intimität und Öffentlichkeit, die Erzählen geradezu herausfordern« (S. 8). Damit ist der explizite thematische Kern der insgesamt achtzehn Beiträge auch schon genannt; modelliert wird, was sich als Narratologie der Gastlichkeit bezeichnen ließe.

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Gliederung und Schwerpunkte

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Die Herausgeber haben die Beiträge unter den Überschriften »Gastlichkeit: Gesetze, Diskurse und Poetiken«, »Historische und literarische Räume der Gastlichkeit«, »Gastlichkeit in der Literatur – zwischen Irritation und Eskalation« und »Gäste im Film und im Mediendispositiv Fernsehen« in vier thematische Blöcke gegliedert. Vorliegende Rezension orientiert sich nicht an dieser (gleichwohl für den Sammelband sinnvollen) Gliederung. Sie setzt zu Beginn einen gleichsam verschobenen Schwerpunkt, indem sie mit einer Frage beginnt, von der – sobald man den Reigen der Aufsätze überblickt – deutlich wird, dass sie neben der der Gastlichkeits-Narratologie immer auch mitverhandelt wird. Es ist die Frage nach dem ontologischen Status des Phänomens Gastlichkeit, die wiederum bestimmt, wie sich ihr am besten zu nähern sei. Der erste Aufsatz von Hans-Dieter Bahr und der letzte aus der Feder Matthias Thieles bilden gleichsam den Rahmen dieser – mehr oder weniger impliziten – Verhandlungen. Bahr, dem so mancher Poststrukturalist ›Essentialismus‹ bescheinigen würde, fragt nach dem Wesen der Dinge; Matthias Thiele nach ihren medialen Verhandlungen zu bestimmten historischen Zeitpunkten. Aus dieser Spannung ergibt sich der erste von drei Schwerpunkten dieser Rezension.

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Mit der Frage nach der ›Gästin‹ ist der zweite Punkt genannt, den die Rezension prominent verhandeln möchte. Das ist eine Privilegierung, die im Band selbst nicht angelegt ist, der Rezensentin aber geboten scheint, weil Julia Bertschiks Aufsatz die ungenannte Voraussetzung der meisten anderen Beiträge offen legt: Dass Gastlichkeit von einem »phallogozentrischen, väterlichen Hausherrenmodell aus« (S. 317) gedacht wird.

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Der dritte Punkt schließlich fragt nach der Narratologie der Gastlichkeit, um die es den Herausgebern geht. Dabei lassen sich drei Spielformen einer solchen Narratologie unterscheiden: Zum einen können Situationen der Gastlichkeit Poesie generieren. Zum anderen kann Gastlichkeit erzählt werden – wie es eben in den zahlreichen Texten der Fall ist, die den im Band geleisteten Analysen und Interpretationen zugrunde liegen. Und schließlich kann Gastlichkeit selbst als ein Narrativ begriffen werden.

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Gastlichkeit: Anthropologische Konstante,
kulturelles Fundamental, soziale Praxis?

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Mit dem allerersten der Beiträge wird der – zumal philosophisch weniger versierte – Leser gleich auf eine Probe gestellt. Hans-Dieter Bahr, dessen Publikationen zum Thema eine Referenz darstellen, auf die sich nahezu alle Beiträger mehr oder weniger explizit beziehen, beginnt mit einem Text, dessen Vortragsfassung auf der dem Band zugrunde liegenden Tagung rege diskutiert worden sein dürfte. Zur Streitbarkeit von Bahrs Ausführungen unter dem Titel »Gast-Freundschaft« trägt bei, dass diese sich – mit Erwähnung des Stichwortgebers Heidegger – in ungastlich dunklem Geraune verlieren:

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Das ursprüngliche Geben ist also ein das Empfangen empfangendes, wodurch das Empfangen gewährt und als Empfangen gewahrt ist. Das empfangende Gewähren des Empfangens ist das Selbst des gebenden Empfangens. In einer Bewegung also taucht die urentspringende Seinsweise des Empfangens und Gebens auf zu ihrem Selbst-da-sein. (S. 26)
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Wo so geschrieben wird, fällt zum einen auf, dass die kulturwissenschaftliche Öffnung, die die Gesamtanlage des Bandes demonstriert, sich in den einzelnen Beiträgen in unterschiedlichem Maße niederschlägt – und etwa hier, mit der Demonstration eines philosophisch-hermetischen Sprachgestus, ganz entfällt. Vor allem aber formuliert Bahr entschieden und explizit, was den einen Pol, das eine Extrem der Frage nach dem ontologischen Status von Gastlichkeit darstellt. Eine Formulierung wie die von der »urentspringende[n] Seinsweise des Empfangens und Gebens« macht schon deutlich, was auch durch die Rede vom »Wesen der Freundschaft« (S. 23) klar wird: Dass Gast-Freundschaft hier als anthropologische – oder eher: existenziale – Konstante begriffen wird: »Es ist die alte Rede Ich bin ein Gast auf Erden, die uns auf ein universelles Existenzial verweist« (S. 25).

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Historische Perspektive

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Mit dieser Position kontrastieren lässt sich Meinolf Schumachers Beschäftigung mit Konstellationen von Gastlichkeit in der Literatur des Mittelalters, die zeigt, dass in der Vormoderne Gast und Freund streng geschieden wurden, der Begriff ›Gastfreundschaft‹ mithin paradox war. Ein Freund wurde nicht als Gast betrachtet, wenn er sich im Haus aufhielt; die Verhaltenscodices gegenüber Gästen und Freunden waren unterschiedliche. Hier, wie auch in Beat Kümins historischem Beitrag zur Wirtshausgeschichte, der das Wirtshaus als »wichtigste[n] Kommunikationsraum der frühneuzeitlichen Gesellschaft« (S. 126) perspektiviert, zeigt sich die historische Bedingtheit des Gastlichkeitskonzeptes mit einer Evidenz, die an einem überzeitlichen Wesen der (Gast-)Freundschaft zweifeln lässt. Für Bahr allerdings erscheinen jeweils (historisch) verschiedene kulturelle Ausdrucksformen lediglich als die Gefäße, in die sich die »urentspringende Seinsweise« der Gast-Freundschaft gleichsam ergießt: »Die Weisen der Freundschaft sind zweifellos in der Geschichte auch recht unterschiedlich bedingt. Doch erklären solche Bedingungen das Wesen der Freundschaft nicht« (S. 23). Dieses »Wesen der Freundschaft«, aus dem heraus Bahr auch das der Gastlichkeit bestimmt, ist eines, das »in ihr selbst jedes hierarchische Verhältnis [suspendiert]« (S. 23). Für die platonische Idee der Freundschaft mag das gelten. Gerade die spezifische Ausprägung von Freundschaft im Rahmen von Gast-Freundschaft – um an dieser Stelle bereits auf die Gender-Thematik hinzuweisen – ist allerdings ohne ein (geschlechter-)hierarchisches Gefälle gar nicht zu denken, von dem die semantische Leerstelle der ›Gästin‹ kündet.

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Gastlichkeit und Massenmedien

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Wer den Band von Anfang bis Ende durcharbeitet, wird feststellen, wie klug Rolf Parr und Peter Friedrich die Dramaturgie der Beiträge gestaltet haben. Denn am Ende steht mit Matthias Thieles Text »Szenen der Gastlichkeit: Zur Figur und Funktion des Gastes im Mediendispositiv Fernsehen« ein Aufsatz, der gleichsam den Kreis schließt. Thiele greift – wie viele andere Beiträger – Bahrs Gastlichkeits-Konzept auf. Er kritisiert es allerdings auch diskret und voller Respekt, indem er darauf hinweist, dass Gastlichkeit und Massenmedien bei Bahr in einem Ausschlussverhältnis gedacht werden, Bahrs Ansatz mithin keine Anschlussfähigkeit für film- und fernsehwissenschaftliche Untersuchungen besitzt. Thieles leitende These ist dagegen, »dass das Fernsehen fundamental auf die Figur des Gastes und Szenarien von Gastlichkeit angewiesen ist« (S. 356). An einer Fülle von ausgesprochen überzeugenden und interessanten Beispielen belegt Thiele, dass das Fernsehen ein Medium der Gastlichkeit sein kann. So gab es etwa in den Fernseh-Programmzeitschriften der 1950er Jahre Bewirtungstipps zum Fernsehabend, die darauf verweisen, dass Hausfrauen in der Frühphase bundesdeutschen Fernsehkonsums mit dem häufigen Besuch von Gästen konfrontiert wurden, die selbst noch keinen Fernseher besaßen. Heute gibt es eine Vielzahl von Formaten, deren Bezug auf Gastlichkeit evident ist – etwa, indem Überraschungsbesuche in fremden Wohnzimmern stattfinden; das Konzept von Talksendungen besteht im Empfangen von Gästen. Wo Bahr vom Wesen der Freundschaft handelt, ist es Thiele also um mediale Praktiken der Gastlichkeit zu tun. Nicht nur mit dieser alternativen Fokussierung, auch durch den unbefangenen Umgang mit dem Massenmedium Fernsehen setzt Thiele einen Kontrapunkt zu den Ausführungen Bahrs.

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Metaphysik der Gastlichkeit

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Gleichsam zwischen diesen beiden Polen ist Alexander Honolds Aufsatz »Im Gasthaus. Spielräume der Gast-Wirtschaft zwischen Theologie und Ökonomie« anzusiedeln. Honold betont die »geschichtlich in ihrer kulturellen Logik differenten Gesetze[.] der Gastfreundschaft etwa in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit« (S. 138) – und weist darauf hin, dass vor diesem Hintergrund seine Bestimmung des Gasthauses in der Moderne als paradoxaler Ort »nicht so sehr als systematisch bedingt, sondern vor allem als Ausdruck eines speziellen historischen Übergangszeitraums« zu verstehen ist. Die hedonistisch-charmante »gastronomische Metaphysik« (S. 155), die Honold am Ende seines Beitrags entwirft, lässt sich gleichwohl als milde ironische Anlehnung an die Rede vom Existenzial der Gastlichkeit lesen. Zunächst bestimmt Honold das Gasthaus als paradoxalen Ort: »Obwohl man weiß, dass man einmal für all das wird bezahlen müssen, fühlt man sich gastfreundlich behandelt, ja geradezu beschenkt« (S. 136). Die geschäftliche Grundlage des Wirtshausbesuches werde von den Beteiligten nach Möglichkeit »camoufliert«: »Von Seiten des Bewirtenden bedeutet das, möglichst störungsfrei die Suggestion aufrecht zuerhalten, der Gast werde mit den offerierten Gaben aus reiner Gastfreundschaft überhäuft [...]«(S. 137). Das Gasthaus als »Musterfall des [...]›Warenfetischs‹«(S. 137) verweist damit darauf, dass sich »[d]ie Kontraktform der Bewirtung […] in einer Art Rollenspiel [vollzieht], bei dem beide Seiten die Fiktion der reinen Gastfreundschaft pflegen, ohne ihr zu verfallen« (S. 137). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen widmet sich Honold zunächst dem Gasthaus bei Lessing, das sich auch (was Honold, wohl angesichts der Allgegenwart des Begriffes, nicht tut) als Heterotopie bezeichnen ließe:

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Wer für Zimmer und Verzehr bezahlen kann, den erwarten im Gasthaus diskrete Freiheiten, die es sonst im engmaschigen Netz sozialer Kontrollen kaum irgendwo gibt: Freiheiten für das Liebesleben, Freiheiten für konspirative Treffen und Geschäfte. (S. 139)
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Das Gasthaus ist damit »ein Schwellenraum sozialer und temporaler Art. Die Personen befinden sich in einem Moratorium [...]«(S. 145). Höhepunkt des Aufsatzes ist die abschließende Lektüre von Hölderlins Weingott: Honold zeigt, dass Hölderlin Weinfest und Erntedank als weltliche Formen des Abendmahls perspektiviert – die jahreszeitlichen Feste vermitteln »zwischen eucharistischem Ritual und paganem Wirken des Weingotts« (S. 152). So wird Hölderlins Gasthaus zum »Sinnbild eines radikal diesseitigen Gottesdienstes, der auf vollständig natürlichem Grund steht« (S. 154), zum »Gottesraum postreligiöser Zeiten, ein Dankgebet in der anökonomischen Form des Gabenverzehrs« (S. 155). Das korrespondiert mit Wolfgang Braungarts und Sascha Monhoffs »Theo-Poetik der Gastlichkeit«. Aus der Perspektive einer biblischen Theologie der Gastlichkeit erscheint Jesus als der »›Prototyp‹ des Gastes« (S. 91). Daraus ergibt sich eine Betonung der Leibvernunft, unter deren Prämisse Essen gleichsam als Materialisation des Gastseins erscheint. Die »irdische, ›aisthetische‹, materielle Seite der Gastlichkeit muss also wirklich gelingen, sie muss wirklich überzeugend sein« (S. 92), um ein Gleichnis zu sein für die existenzielle Gastlichkeit. Ganz in diesem Sinne fällt auch Honolds Fazit aus:

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Im Gasthaus mehr zu erwarten als einen Verkehrsort zahlungsfähiger Bedürfnisse, nämlich eine Ausnahme-Stätte zum Empfang unverdienbarer Gnadengeschenke, eine Schenke also, dies ist und bleibt ein letztes Residuum an gastronomischer Metaphysik, dessen Hoffnungsfunken frohgemute Zecher wohl niemals ganz preisgegeben werden. [...] Das Gasthaus ist und ist zugleich nicht von dieser Welt. (S. 155)
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Die Unmöglichkeit der absoluten Gastfreundschaft

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Kaum Hoffnungsfunken sprüht Torsten Voss’ Beitrag »Das verlogene Gastmahl und die Rezepte der Rache. Inszenierungsformen eines Missbrauchs der Gastfreundschaft bei Seneca, Shakespeare und Felix Dahn«. Voss zeigt, wie Gastlichkeit als Vorwand dienen kann, um dem Gastgeber Macht – bevorzugt zur Rache – zu geben. Möglich wird das »aus der Situation des Ausgeliefertseins, in welcher sich sowohl der Gast als auch der Gastgeber befinden, wenn sie sich mit ihrem Vertrag der Gastfreundschaft dermaßen aneinander binden« (S. 216). Voss anerkennt zwar die »überzeitlichen Gesetze der Gastfreundschaft« (S. 222), macht aber anhand von »Senecas Blutsdrama [Thyestes, I.H.] […] die Unmöglichkeit dieser absoluten Gastfreundschaft [deutlich]« (S. 224). Sie scheitert an individuellen Interessen und Begierden, aus denen heraus »das Gasthaus zum Schlachthaus, das Gastmahl zum Instrument der Rache« (S. 225) wird. Voss schließt daraus allerdings nicht, dass Gastlichkeit eine soziale Konvention ist, die gehalten oder die gebrochen werden kann, sondern spricht noch am Ende von der »anthropologischen Konstante der Gastlichkeit« (S. 234). Das Modell der Gastlichkeit scheitert, so Voss’ pessimistisch-realistisches Fazit,

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[…] an urmenschlichen Belangen, die immer wieder durch diese fast schon transzendenten Modelle durchbrechen und auf viel primärere Bedürfnisse verweisen, nämlich mit der Einladung für sich etwas zu gewinnen, sei es Anerkennung, Selbstbestätigung oder auch Rache durch arglistige Täuschung des Gastes. (S. 235)
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Die unmögliche Figur der Gästin

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Während Voss bereits mögliche Abgründe der Gastlichkeit auslotet, weist Julia Bertschik mit ihrem Beitrag »Zwischen männlichem Tauschobjekt und lebendigem Gastgeschenk. Die Figur der ›Gästin‹ bei Arthur Schnitzler, Stefan Zweig und Vicki Baum« auf die grundlegende Aporie hin, die sich zeigt, sobald eine Frau in die Rolle des Gastes gerät. Damit wird deutlich, dass jene Frage so schnell nicht zu verabschieden ist, die Hans-Dieter Bahr im Zuge seiner Exploration der Gast-Freundschaft kolloquial beiseite schieben möchte:

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Lassen wir die endlosen Debatten darüber beiseite, ob Freundschaft nun ›wahrhaft‹ nur bestehe zwischen Männern, wie man von Cicero bis Nietzsche meinte, oder nur zwischen Mann und Frau in der Ehe, wie Fichte behauptete, oder am reinsten zwischen Bruder und Schwester, wie Musil es andeutet, und so fort. (S. 23)
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Lässt man die Debatte, sei sie auch endlos, nicht beiseite, dann fällt auf, dass bereits »das fehlende Genus des weiblichen Gastes« (S. 317) auf jene »sprachgeschichtliche Leerstelle innerhalb des Gastlichkeitsdiskurses« (S. 317) hinweist, um die es Bertschik geht: Die ›Gästin‹ gibt es nicht. Das gilt nicht nur im engen grammatikalischen Sinn; sowohl Bahrs als auch Derridas Explorationen der Gast-Freundschaft »gehen von einem phallogozentrischen, väterlichen Hausherrenmodell aus« (S. 317). In diesem Modell »können Frauen nicht Gäste im privilegierten, zweckfreien Sinne sein, sondern werden als (bräutliche) Tauschobjekte gehandelt, fungieren als lebendige Gastgeschenke oder agieren als ›dienende Gäste‹ im Sinne von Gastgeberinnen zweiter Ordnung.«

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Ebenso unersetzlich wie eingeschränkt scheint die Figur des weiblichen Gastes daher – als Unperson wie als ungastliches Medium zugleich – eben jene Paradoxien und wechselhaften Verhältnisse zu verkörpern, welche die Rede über Gastlichkeit konstituieren. Die Leerstelle der ›Gästin‹ führt als blinder Fleck der Gastlichkeitsforschung also gerade ins Zentrum der Gastthematik. (S. 317)
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Wo die unmögliche Figur der Gästin in der Literatur auftritt, tut sie dies »vorzugsweise in den heterotopen, transitorischen und antifamiliaren Gasträumen des Hotels«, die – wie der Ausnahmezustand der Reisesituation selbst –»hier auf den ersten Blick eine Reduktion der patriarachalischen Kontrolle durch die partielle Suspension des familiaren Hausherrenmodells zu ermöglichen« scheinen (S. 318). Diese literarische Darstellungskonvention entspricht einem Trend, den Bertschik auch in Zeitgeistmagazinen der Weimarer Republik abgebildet findet – zitiert wird von ihr ein Artikel aus der Zeitschrift Dame von 1931, der sich mit alleinreisenden Frauen beschäftigt. Die Verfasserin Anita Daniel konstatiert, dass diese keine Seltenheit mehr seien – auch wenn es ganz ohne Männer nicht zu gehen scheint:

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Im übrigen: zum Oeffnen der Coupéfenster, zum Herunterholen des Handgepäcks, zum Nachsehen im Kursbuch und bei einer Maus im Zimmer kommt auch die selbständige Frau auf Reisen nicht ohne Mann aus. 1
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Bertschik sieht in diesem Fazit den Beleg, dass sich auch die ›Neue Frau‹ der Weimarer Republik »weiterhin innerhalb der Vorstellungswelten einer patriarchalisch organisierten Gesellschaft« bewegt (S. 319). Einwenden ließe sich, dass die weibliche Angewiesenheit auf den Mann hier keine existenzielle, sondern lediglich eine temporäre und gelegenheitsbezogene ist. Denn jemand, der die Fenster öffnet oder mit dem Gepäck hilft, findet sich schon. Und wie oft hat die selbständige Frau auf Reisen wohl eine Maus im Zimmer?

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»La femme n’existe pas«

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In einer fragilen Stellung zwischen Selbstständigkeit und Bezogenheit auf den Mann befinden sich jedenfalls die Protagonistinnen der von Bertschik untersuchten Literaturbeispiele während ihrer Hotelaufenthalte: Else in Schnitzlers Fräulein Else, Christine Hoflehner in Stefan Zweigs Rausch der Verwandlung und Flämmchen in Vicki Baums Menschen im Hotel. Deutlich werden in allen drei Texten die Schwierigkeiten, »sich überhaupt als ›Gästinnen‹ definieren und positionieren zu können« (S. 320). Damit geben die Texte »Auskunft über die Leerstelle des weiblichen Gastseins in der Moderne« (S. 320). Gerade die ›Nicht-Existenz‹ der Gästin, von Bertschik am Beispiel Fräulein Elses festgemacht, verweist aber auf eine »existenzielle[.] Ort- und Heimatlosigkeit, welche der Hospitalität dringend bedarf« (S. 322). Mit Lacans berühmter Diagnose »La femme n’existe pas« ließe sich sagen, dass diese Ort- und Heimatlosigkeit die Frau überhaupt betrifft; literarische Frauenfiguren in der Hotelsituation also gleichsam die fundamentale Liminalität des Weiblichen in der Kultur exemplifizieren. Betrachten etliche der Beiträge die Schwellenhaftigkeit der Gastlichkeit als Ausdruck moderner transzendentaler Obdachlosigkeit, verweist die unmögliche Figur der Gästin auf jene immanente weibliche Ortlosigkeit innerhalb der symbolischen Ordnung, die von dieser Welt ist – und die sich darum ungleich schlechter in dem hohen Ton verhandeln lässt, der die philosophisch inspirierten Abhandlungen des Bandes prägt.

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Narratologie der Gastlichkeit

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Mit der Narratologie der Gastlichkeit ist schließlich der Punkt genannt, um den es dem Band vor allem geht. So generiert Gastlichkeit – erstens – Poesie. Das »Traumhaus« Joseph Roths, wie Peter Friedrich es in seinem Beitrag »Ortlose Heimat – Gäste, Gastgeber und Gasträume bei Joseph Roth« beschreibt, ist mit dem Hotel ein »Ort, der eine penatenfreie Existenz ermöglicht und der die dichterische Phantasie in Gang setzt« (S. 165). Hotels und Pensionen stellen sich bei Roth als »Heterotopien der kommerziellen Gastlichkeit« dar, sie thematisieren »das Phänomen des Transitorischen oder Schwellenhaften bzw. die Grenze zwischen Heimkehr und Aufbruch, Willkommen und Abschied, Innen und Außen, Vergangenheit und Zukunft, Leben und Tod« (S. 157). Damit ist der Möglichkeitsraum bezeichnet, aus dem heraus Poesie entstehen kann.

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Gastlichkeit erzählen

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Zweitens kann Gastlichkeit – und das ist vielleicht die offensichtlichste Variante – erzählt werden. Rolf Parrs Aufsatz »Unruhige Gäste bei Wilhelm Raabe« geht von Renate Bürner-Kotzams Befund aus, dass Gastlichkeit ein durchgängiger Subtext realistischer Erzählliteratur sei. An Raabes Erzähltexten erprobt Parr diese These erfolgreich.

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Insgesamt wird so deutlich, wie umfassend und fast schon systematisch Raabe gerade in seinen zwischen 1871 und 1885 entstandenen Texten die Möglichkeiten des Erzählens von Gastlichkeitssituationen in nahezu allen denkbaren Kombinationen der dafür konstitutiven Elemente erprobt hat. (S. 315)
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Achim Geisenhanslüke geht von Derridas Betonung der Nähe von Gast und Feind aus und zeigt an Texten von Kleist, Flaubert und Kafka die literarische Verarbeitung solcher Ambivalenzen. In ihrem Beitrag »Narratologie versus Soziologie. Zur Betrachtung von Gastgebern, Gästen und Erzählern im homerischen Epos« geht es Beate Czapla darum, »das Bild von der homerischen Gesellschaft und ihrer speziellen Gastlichkeit zu zeichnen« (S. 187). Dabei beschäftigt sie die Frage, ob Homers Texte als sozialgeschichtliche Zeugnisse historischer Ereignisse zu lesen sind, oder ob von der »Literarizität der homerischen Gesellschaft« (S. 186) auszugehen ist. Czapla entscheidet sich für die »Prämisse der Fiktionalität der Texte […] und will versuchen zu zeigen, dass sich manche sozialhistorische Ungereimtheit als erzähltechnischer Kunstgriff aus der Welt schaffen lässt« (S. 187). Bei ihrer Analyse des homerischen Gastrechts bezieht sich Czapla auf die Episode der Odyssee, in der sich Glaukos und Diomedes im Kampf als Gastfreunde von den Vätern her erkennen. Czapla sieht darin eine erzähltechnische Funktion – nämlich den »kalkulierte[n] Kontrast zu der um die beiden tobenden blutigen Schlacht« (S. 194). Das Fazit: »Erzähltechnische Belange wie die Charakterisierung von Personen, Schaffung von Kontrasten, das Arrangement von Informationen scheinen also insgesamt die Gestaltung erzählter Gastlichkeit in den homerischen Epen wesentlich bestimmt zu haben« (S. 210).

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Gastlichkeit als Narrativ

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Spielt man wie Czapla sozialhistorische und erzähltechnische Dimensionen erzählter Gastlichkeit gegeneinander aus, kann unter den Tisch fallen, dass sich Gastlichkeit – drittens – selbst als Narrativ begreifen lässt. Mit dieser Perspektivierung einher geht die Annahme, dass es sich bei Gastlichkeit um eine soziale Praxis handelt – womit die eingangs verhandelte Frage nach dem ontologischen Status von Gastlichkeit wieder aktuell wird. »Gastlichkeit hat immer eine inszenatorische, ästhetische und rhetorische Seite, die ganz offensichtlich besonders wichtig an ihr ist« (S. 89), betonen Braungart und Monhoff. Karin Bruns’ Aufsatz »Ungebetene Gäste. Alterität, Essensritus und Geschlecht in New Hollywood-Filmen und in kulinarischen Doku-Soaps« fokussiert den »Gastlichkeitsritus« als »narrative, dramaturgische und visuelle Figur« (S. 335). Besonders überzeugt ihre Analyse der Sendung Das perfekte Dinner. Hans-Dieter Bahr, den Bruns zitiert, macht das »Befremdliche« als Qualität des Gastes aus. Im Kontext des Perfekten Dinners fällt diese Befremdlichkeit »auf die Gastgeber/innen zurück, deren privateste Gegenstände und Devotionalien (Kuscheltiere, Sex Toys, Fotografien, Fitnessgeräte etc.) zu sichtbar gemachten Objekten des Fernseh-Panoptismus gemacht werden« (S. 349 f.).

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Sprechakt Gastfreundschaft

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Bei Michael Niehaus wird Gastfreundschaft als Sprechakt erkennbar. Wie Voss interessiert sich Niehaus für den (blutigen) Missbrauch der Gastlichkeit. In Conrad Ferdinand Meyers Die Füße im Feuer, so führt Niehaus aus, hält der Gastgeber an der Unantastbarkeit seines Gastes, der immerhin Jahre zuvor dessen Frau zu Tode gefoltert hat, fest – eine fast übermenschliche Anstrengung, unter der der Gastherr über Nacht ergraut. In den weiteren literarischen Beispielen, die Niehaus anführt, sind die Gastgeber nicht so skrupulös. So lehnt es Aietes in Grillparzers Der Gastfreund ab, in Phryxus seinen Gast zu sehen – und erklärt so, dass er ihn töten kann. Gastfreundschaft muss also als Sprechakt, der den Gast als Gast bezeichnet, erst konstituiert werden, um zu existieren. »Darin liegt natürlich die Anerkennung der Gastfreundschaft als Institution. Aietes kann Phryxus nur töten, weil er in ihm keinen Gast zu töten behauptet« (S. 247).

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E.T.A. Hoffmanns Verkehrung der Gastsemantik

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Auch Ralf Simon beschäftigt sich mit misslingenden Szenen der Gastlichkeit, und zwar in E.T.A. Hoffmanns Nachtstücken. Dabei geht er davon aus, dass »der Gast […], radikaler als der Fremde oder der Andere, eine verstörende Figur des Dritten [ist]« (S. 263). Simon bezieht sich auf Hans-Dieter Bahrs Definition des Gastes als »derjenige, den man infolge des Gesetzes der Gastfreundschaft nicht abweisen darf und den man, soll er Gast bleiben, nicht integrieren darf« (S. 263) – und betont, dass dieser Status der Schwebe eine Quelle gegenseitiger Angst sein kann: »Angst vor der Möglichkeit, es könnte der Gast der Unheimliche sein, welcher das Haus mit einer unbekannten Gefahr heimsucht« (S. 264). Aus solchen Ängsten entwickeln Hoffmanns Nachtstücke eine Negation der Gastlichkeit.

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E.T.A. Hoffmanns ›Nachtstücke‹ sind in diesem Sinne eine vielleicht in der Literatur einzigartige Enzyklopädie der Ungastlichkeit. Sie zitieren in verblüffender Systematik das ganze Ensemble der Gastsemantik in der Wertung ihrer Negativität. (S. 265)
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Die Energie der Nachtstücke, so Simon, speise sich nachgerade aus dieser Verkehrung der Gastsemantik. »Eine strukturalistische Konstruktion«, deutet Simon an, »könnte versuchen, die Szenographie der Gastlichkeit als generatives Modell des Erzählens überhaupt zu entfalten.«

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Denn das Erzählen ist ja stets, wie Jurij Lotman ausführt, jener Vorgang, in dem ein Akteur eine semantische Grenze überschreitet und an einem anderen Ort als Gast ankommt. Die vielfachen Szenerien des Scheiterns sind daher immer auch Erzählmodelle der narrativen Negativität, die man als Modelle erzählerischer Modernität zu verallgemeinern versuchen könnte. (S. 279)
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Fazit

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Nicht alle Beiträge des reichhaltigen und bereichernden Bandes lassen sich unter die drei Schwerpunkte dieser Rezension subsumieren. Zu nennen ist Norbert Brieskorns Betrachtung des Gastes »aus dem Blickwinkel [...] der Welterfahrung« (S. 29) und vor dem Hintergrund der politischen Philosophie. Manfred Schneider geht in seinem Beitrag »Der Jude als Gast« von Freuds Äußerung aus, die Theorie komme zu ihm wie ein »ungebetener Gast«. Der Aufsatz verfolgt die Diskursgeschichte »parasitären Judentums« – und wundert sich beiläufig, wie unbefangen Michel Serres mit der Theoriefigur des Parasiten hantiert. Georg Mein schließlich entfaltet in seinem Beitrag »Gäste, Parasiten und andere Schwellenfiguren. Überlegungen zum Verhältnis von Hospitalität und Liminalität« anhand der Figur des Don Juan – hier am Beispiel von Mozarts Don Giovanni – ein Modell messianischer Gastlichkeit. Die Pointe: Der Parasit Don Juan erweist sich am Ende als vollendeter Wirt, da er die Alterität seines steinernen Gastes annimmt. Die Zuspitzung, die Mein nicht vornimmt, müsste demnach wohl lauten: Don Juan – Messias der Gastlichkeit.

 
 

Anmerkungen

Anita Daniel: Frauen, die allein reisen. In: Die Dame, Jg. 58 (Mai 1931), H. 17, S. 8 f., hier S. 9, wird zitiert von Julia Bertschik im rezensierten Band, S. 319.   zurück