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Der Ödipus und die Sphinx

Franziska Schößlers Einführung in die literaturwissenschaftliche Geschlechterforschung

  • Franziska Schößler: Einführung in die Gender Studies. (Akademie-Studienbücher Literaturwissenschaft) Berlin: Akademie 2008. 232 S. Kartoniert. EUR (D) 19,80.
    ISBN: 978-3-05-004404-0.
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Was ist das Anliegen der Gender Studies, und wie lässt sich dieses auch in der Literaturwissenschaft verfolgen? Welche Methoden kennt die literaturwissenschaftliche Geschlechterforschung? In welchem Verhältnis steht sie zur feministischen Literaturwissenschaft?

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Ohne Hilfestellung einen systematischen Einstieg in die Gender Studies zu finden, gestaltet sich aufgrund ihrer interdisziplinären Ausrichtung und der damit verbundenen Vielzahl an Theorien und Methoden schwierig. Nur mit einem Blick auf die an Frauenforschung anknüpfende Entstehungsgeschichte und unter Berücksichtigung der daraus folgenden wissenschaftskritischen Einstellung lassen sich die Grundannahmen und Forschungsziele der Gender Studies benennen. Mit der Einführung in die Gender Studies der Trierer Literaturwissenschaftlerin Franziska Schößler, erschienen in der Studienbuch-Reihe des Akademie Verlags, liegt nun eine solche Hilfestellung vor, die sich in ihrer Struktur an eben diesen Punkten orientiert.

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»Was sind Gender Studies?«

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Welchen Zugriff Schößler für ihre Einführung in die Theorien und Methoden der Gender Studies wählt, macht sie mithilfe eines Beispiels aus der Kunst anschaulich, das sie ihrem ersten einleitenden Kapitel »Was sind Gender Studies?« geradezu programmatisch voranstellt. Anhand von Gustave Moreaus Bild »Ödipus und die Sphinx« von 1864 kann sie zweierlei zeigen.

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Erstens wird mithilfe der Gender Studies analysiert, wie Weiblichkeit imaginiert wird, und dasjenige Instrumentarium zur Verfügung gestellt, das diese Analysen ermöglicht.

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Zweitens wollen Gender Studies die Konstruktionsmechanismen der Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander offenlegen: »Die Vernunft (von Ödipus verkörpert) bedarf des Monströsen, um sich als (männliche) Ratio definieren zu können.« (S. 8) Um sich als vernünftiges Subjekt begreifen und darstellen zu können, müssen alle Eigenschaften, die diese Subjektposition unterlaufen könnten, auf ein Außerhalb verschoben werden. Der Topos von der Frau als unlösbarem Rätsel, als dem »Andere[n] der Vernunft« (S. 8), durchzieht folgerichtig die bürgerliche Kultur.

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Mit der Fokussierung auf die Analyse der Konstruktionsprozesse von Weiblichkeit wählt Schößler einen Zugang zu literaturwissenschaftlicher Geschlechterforschung, der an literaturwissenschaftliche Frauenforschung anknüpft, die seit den 1970er Jahren in methodischer Hinsicht wichtige Beiträge in der Analyse der Kategorie Geschlecht in der Literatur hervorgebracht hat. Schößler stellt unter Bezugnahme auf einschlägige Einführungen jedoch dar, inwiefern die Geschlechterforschung keine Erweiterung der Frauenforschung ist, sondern ihre Methoden von einem grundlegend anderen Verständnis von Geschlecht ausgehend entwickelt. Das erste Kapitel dient dabei als Skizze des Gedankengangs, wie er im weiteren Verlauf der Einführung ausführlich und differenziert entfaltet wird.

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In den ersten sieben Kapiteln leistet Schößler dreierlei. Erstens nimmt sie eine Verhältnisbestimmung von Feminismus, Frauenforschung und Gender Studies vor. Zweitens erläutert sie grundlegende Begriffe der Geschlechtertheorie, und drittens skizziert sie, wie und warum das System einer binär organisierten Geschlechtermatrix historisch entstanden ist und wie Kritik daran laut werden konnte.

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Die darauf folgenden sieben Kapitel widmen sich einem systematischen Überblick über angrenzende Forschungsgebiete und zentrale Fragestellungen, um abschließend auf die wissenschaftskritische Perspektive der Gender Studies einzugehen.

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Sex und Gender

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Der entscheidende Unterschied zwischen Frauen- und Geschlechterforschung lässt sich mit einem Blick auf das gewandelte Verständnis vom Verhältnis zwischen biologischem Geschlecht (Sex) und sozialem Geschlecht (Gender) erfassen.

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Ausgangspunkt beider Forschungsrichtungen ist zunächst die Auffassung, dass Geschlecht eine fundamentale Kategorie ist, die als unsichtbares Strukturprinzip Denken und Handeln organisiert. In den Gender Studies wird jedoch nicht nur Gender von Sex unterschieden, wie es das Anliegen der Frauenforschung ist, vielmehr wird davon ausgegangen, dass Gender Sex als scheinbar natürliche Größe hervorbringt. Geschlecht als biologisches Geschlecht (Sex) tritt in den Gender Studies somit in den Hintergrund; die erste Rolle spielt das sozial und kulturell konstruierte Geschlecht (Gender). Ein zentrales Interesse gilt folglich der Untersuchung derjenigen Prozesse, in denen Materialität und Körper mit Bedeutung aufgeladen werden.

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Um zu verstehen, warum Geschlecht als natürliche Größe wahrgenommen wird, macht Schößler die Leserinnen und Leser einleitend mit dem Verständnis von Geschlecht als Effekt performativer Akte bekannt, wie es vor allem Judith Butler als Schlüsselfigur der Gender Studies vertritt:

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Indem der Einzelne agiert (sich kleidet, spricht etc.), produziert er ein Geschlecht nach Maßgabe der gesellschaftlichen Vorgaben, die als variable, sich verändernde Normen aufgefasst werden. Jede Kultur definiert Geschlechtlichkeit und die Geschlechtergrenzen anders, weshalb sich die Gender Studies vornehmlich mit »Prozessen der Um- und Neudeutung der Differenz« auseinandersetzen. (S. 10)
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Liegt der Frauenforschung eine eher statische Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit zugrunde, ist es das Anliegen der Gender Studies, aufzuzeigen, wie dieses binär organisierte System mit den beiden relational aufeinanderbezogenen Kategorien ›Frau‹ und ›Mann‹ permanent hergestellt wird.

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Zum einen ergibt sich aus der Ausdifferenzierung der Positionen durch die poststrukturalistische Wende, die alle übergreifenden allgemeingültigen Kategorien infrage stellt, eine Pluralisierung der Kategorien. Für den Kontext der Gender Studies bedeutet dies »die Absage an das universelle Subjekt, das gemeinhin das männliche ist, ebenso die Absage an Autonomie und Objektivität« (S.13).

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Zum anderen geht der Verlust der stabilen Kategorien auf Interventionen in den 1980er Jahren zurück, die darauf aufmerksam machten, dass sich der Feminismus dieser Zeit nicht im Namen ›der Frau‹, sondern vor allem im Interesse der weißen intellektuellen (amerikanischen) Mittelstandsfrau engagierte. Da die Unterdrückungserfahrungen und Lebensbedingungen der Women of Colour im Rahmen der feministischen Bewegung zunächst nicht zu Wort kamen, war es notwendig, die Kategorie ›Gender‹ durch die Kategorien ›Race‹ und ›Class‹ zu ergänzen.

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Effekt dieser Entwicklungen ist zum einen die nach wie vor virulente Diskussion um die Möglichkeit von politischem Engagement im Namen einer Gruppe, wie es für das feministische Projekt unabdingbar scheint. Zum anderen resultiert aus dem zentralen Anliegen, die Kategorien ›Frau‹ und ›Mann‹ zu pluralisieren, die wissenschaftliche Nähe zu den Postcolonial Studies, den Queer Studies und Men’s Studies.

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Der akademische Ort der Gender Studies ist außerdem geprägt von einer engen Verbindung mit den Kulturwissenschaften, »denn gemeinsam sind den Ansätzen das Interesse an Alltagskulturen sowie die kultursemiotische Prämisse, dass auch Filme, Werbung etc. als Zeichensysteme (wie ein Buch) gelesen werden können« (S. 15), was einen »extensiven Gegenstandsbereich« (S. 15) zur Folge hat.

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Im Hinblick auf das oft als schwierig wahrgenommene Verhältnis von Kultur- und Naturwissenschaften kann als permanente Herausforderung und Chance begriffen werden, dass die Gender Studies notwendigerweise disziplinäre Grenzen überschreiten, »weil Männlichkeit und Weiblichkeit in einem Netzwerk aus biologischem, medizinischem, anthropologischem Wissen und kulturellen Riten definiert werden.« (S. 16)

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Schließlich gilt es, die Gender Studies auch als internationales Phänomen zu begreifen, wobei für die Geschlechterforschung in Deutschland vor allem amerikanische, französische und englische Einflüsse von Bedeutung sind, wie sie im Verlauf der Einführung Erwähnung finden.

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Konstitution des binären Geschlechtermodells

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Mit den Kapiteln zwei und drei vertieft Schößler den historischen Einstieg in die Thematik: Sie nimmt die Jahrhundertwenden 1800 und 1900 exemplarisch in den Blick, um den Leserinnen und Leser sowohl einen sozialgeschichtlichen als auch einen kulturwissenschaftlichen Einblick in diejenigen historischen Prozesse zu geben, die zu einer binär organisierten Geschlechterordnung geführt haben, wie sie heute im Zentrum der Kritik durch die Gender Studies steht.

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Mithilfe eines Auszugs aus dem »Lied von der Glocke« von Friedrich Schiller, einer Fotografie der unter dem Namen »Augustine« bekanntgewordenen sogenannten »Hysterie«-Patientin und unter Rückgriff auf zentrale Texte veranschaulicht Schößler erstens die Entstehung, Ausdifferenzierung und Radikalisierung der beiden Kategorien ›Männer‹ und ›Frauen‹, zweitens den Normierungsprozess, der das Begehren strengen Regeln unterwarf und ausschließlich das heterosexuelle Begehren als legitimiert anerkannte, und drittens die Exklusionsstrategien, die zum Topos ›die Frau als das Andere‹ führten.

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Mit Silvia Bovenschen, Karin Hausen, Thomas Laqueur und Claudia Honegger bezieht sich Franziska Schößler auf die wichtigsten Autorinnen und Autoren im deutschsprachigen Raum, die sich mit Blick auf diesen geschichtlichen Zeitraum mit der Frage beschäftigen, wie Geschlecht zunehmend über anatomische Gegebenheiten und nicht mehr über sozialen Status definiert wird. Steht bei Bovenschen vor allem die Etablierung des Bildes von der ›empfindsamen Frau‹ im Zentrum, »die den Mann ergänzt und ausschließlich auf Gefühl bzw. Natur festgelegt ist« (S. 23), beschäftigt sich Hausen mit dem Begriff des ›Geschlechtscharakters‹, der es durch die Verbindung von Anatomie und Psyche erlaubt, Geschlecht zu essentialisieren.

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Laqueur kann durch die Untersuchung der Entwicklung vom ›Ein-Geschlecht-Modell‹ zum ›Zwei-Geschlechter-Modell‹ nachweisen, »dass Sex bzw. Anatomie eine kulturelle Größe ist und den jeweils herrschenden weltanschaulichen Bedeutungssystemen entspricht.« (S. 30) Honegger schließlich zeichnet die Entwicklung nach, die zur Ausgrenzung des Weiblichen aus der öffentlichen Sphäre führt. In der Wissenschaft beispielsweise werden Frauen zum Gegenstand der »Spezialwissenschaft« (S. 31) Gynäkologie, während Geschlechtlichkeit insgesamt aus der Wissenschaft ausgeschlossen wird.

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Für den weiteren Verlauf der Festschreibung der Geschlechterrollen spielt vor allem die um 1900 entstehende Psychoanalyse eine entscheidende und ambivalente Rolle. Einerseits ist für Sigmund Freud nur der Mann in der Lage, die Entwicklung zum gesellschaftsfähigen Subjekt, die im Rahmen der Einführung detailliert beschrieben wird, zu durchlaufen. »Allein durch die Genese ihrer Weiblichkeit, wie sie Freud konstruiert, ist sie [die Frau] aus dem Bereich der Kunst, der Bildung, der Politik, der Öffentlichkeit ausgeschlossen.« (S. 45) In diesem Ausschlussverfahren kommt es ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer Überlagerung von Weiblichkeitsbildern mit antisemitischen Stereotypen, wie sich vor allem in Otto Weiningers Studie Geschlecht und Charakter von 1903 nachlesen lässt. Als Symptom des Ausschlusses der Frau kann die Hysterie gelesen werden: ein Krankheitsbild, das als »Ausdruck eines nicht domestizierbaren weiblichen Begehrens« (S. 39) verstanden wurde und somit auf die für diese Zeit typische Aufladung des Bildes von Weiblichkeit mit Sexualität verweist.

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Andererseits macht Freud mit seinem Modell des Unbewussten auf die gesellschaftlichen und kulturellen Normierungsprozesse aufmerksam, denen Geschlechtlichkeit unterworfen ist. Seine späteren Hysteriestudien lassen sich als Kulturkritik lesen, da die Hysterikerin seiner Ansicht nach »auf den gesellschaftlichen Un-Ort weiblicher Identität in einer männlich dominierten Gesellschaft« (S. 40) aufmerksam macht. So wird es mit seiner Hilfe möglich, eine zentrale Erkenntnis der Gender Studies zu formulieren: »Die Kultur domestiziert das vielfältige Begehren und zwingt die Subjekte in die binäre Geschlechtermatrix bzw. die heterosexuelle Norm.« (S. 47)

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Von den Pionierinnen des Feminismus …

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Mit den Porträts zweier »Pionierinnen des Feminismus« (S. 49), so ist das vierte Kapitel überschrieben, beginnt Franziska Schößler diejenige Denkbewegung nachzuzeichnen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Verfahren aufzudecken, die zu einem Ausschluss von Frauen aus gesellschaftlich einflussreichen Positionen führen.

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Sowohl Virginia Woolf als auch Simone de Beauvoir verweisen auf das Phänomen, »dass Weiblichkeit auf kultureller Ebene überrepräsentiert ist, Frauen in gesellschaftlicher Hinsicht jedoch bedeutungslos und ohne Einfluss sind.« (S. 61)

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Während Woolfs Ansatzpunkt vor allem in der Beleuchtung der mangelhaften produktiven Möglichkeiten von Frauen und der Unsichtbarkeit von Frauen in der Literaturgeschichte besteht, zeigt Simone de Beauvoir auf, wie sich Frauen auf den Platz des Anderen festlegen lassen und infolgedessen zu keiner eigenen Subjektivität gelangen können. Dieser Status der ›Immanenz‹ kann jedoch überwunden werden, um ebenfalls den Status der ›Transzendenz‹,»als Wahl und sich ständig revidierende Setzung« (S. 55) zu erlangen, da Existenz von Beauvoir dynamisch gedacht wird.

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Damit bietet ihr Modell einerseits Anknüpfungspunkte für das Verständnis von Geschlecht als Effekt kultureller Praktiken und performativer Akte. Andererseits gelingt es Beauvoir nicht, das von den Gender Studies als binär kritisierte System vom Einen und Anderen zu überwinden. Sie übersieht, »dass Transzendenz allein der Effekt eines Ausschlusses ist, nämlich von Immanenz« (S. 56).

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Auch die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse, wie im weiteren Verlauf des Kapitels dargestellt, dient seit den siebziger Jahren der Entwicklung feministischer Positionen. Während Kate Millett der Psychoanalyse vorwirft, die Geschlechterdifferenz ausschließlich auf die Biologie zurückzuführen, wird es für Juliet Mitchell mithilfe der Psychoanalyse überhaupt erst möglich, »diejenigen psychisch-symbolischen Prozesse, die Weiblichkeit und Männlichkeit produzieren« (S. 57), zu beschreiben. Schließlich versuchen die Literaturwissenschaftlerinnen Renate Schlesier, Christa Rohde-Dachser und Elisabeth Bronfen zu entschlüsseln, wie Freuds eigene Auffassung von Weiblichkeit männlichen Projektionen und Mythenbildungen entspricht, die sich selbst psychoanalytisch lesen lassen: Sie lesen Freud mit Freud.

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Mit der Analyse von Weiblichkeitsrepräsentationen beschäftigt sich auch die im fünften Kapitel vorgestellte Frauenbildforschung, die zum Ziel hat, männliche binär organisierte Projektionen aufzuschlüsseln und zu durchkreuzen. Als wichtigste Ansätze kommen hier die Arbeiten von Silvia Bovenschen, Sigrid Weigel, Inge Stephan und Klaus Theweleit zur Sprache.

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Bovenschen betont in ihrem Buch Die imaginierte Weiblichkeit, einer Untersuchung der Möglichkeiten des weiblichen Schreibens im 18. Jahrhundert, die fatalen realgeschichtlichen Folgen der Konstruktionen von Weiblichkeitsstereotypen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Autorinnen nur dann das Wort ergreifen konnten, wenn sich der Gegenstand der Darstellung auf den häuslichen Raum beschränkte. Weigel und Stephan stellen mit ihrem ›Konzept des schielenden Blicks‹ die Frage nach einer weiblichen Ästhetik, die sowohl die gesellschaftliche Realität als auch die topische Darstellung von Frauen in den Blick zu nehmen bemüht ist. Schließlich werden Theweleits Männerphantasien vorgestellt, in denen er die Frauenbilder in autobiografischen Äußerungen von Soldaten im Kontext des Ersten Weltkriegs analysiert. Das Spezifische dieser Studie bringt Schößler auf den Punkt: »Die Studie von Theweleit ist deshalb so provokant, weil er die Frauenbilder faschistischer Männer, ihre Gewalt- und Zerstückelungsfantasien als Kulminationspunkt des (kapitalistisch geprägten) Patriarchats und seines Umgangs mit Frauen begreift.« (S. 73)

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… bis zu Judith Butler

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Was durch Freuds Modell vom Unbewussten grundgelegt wurde, spitzt sich in der poststrukturalistischen Bewegung weiter zu: die Dezentralisierung des Subjekts. Durch die Verbindung der psychoanalytischen Theorie Freuds mit der Zeichentheorie Ferdinand de Saussures gelingt es Jacques Lacan, psychische Prozesse zeichenhaft zu begreifen und sie so von körperlichen Merkmalen zu trennen. Der Ausschluss der Frau aus der symbolischen Ordnung, wie er ihn konstatiert, wird jedoch von ihm selbst nicht kritisiert.

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Erst die Theoretikerinnen der ›Écriture feminine‹, wie in Kapitel sechs dargestellt, bestimmen diesen Ausschluss als historisch kontingent und suchen nach einer Sprache für Frauen, die an einem Ort jenseits der Logik der symbolischen Ordnung artikuliert werden kann. In diesem gemeinsamen Interesse verbinden sich die verschiedenen Modelle der Subversion, wie sie von den feministischen Theoretikerinnen Julia Kristeva, Hélène Cixous, Luce Irigaray, Chantal Chawaf, Annie Léclerc, Sarah Kofman und Monique Wittig entwickelt werden.

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Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt ihrer Arbeiten ist die Philosophie der Dekonstruktion von Jacques Derrida. Er gab mit seinen Überlegungen wichtige Impulse für feministische dekonstruktivistische Lektüren. Einerseits folgt er der Zeichentheorie Ferdinand de Saussures insofern, als auch für Derrida Zeichen erst durch ihre Differenz voneinander Bedeutung erlangen. Andererseits geht er über die Theorie Saussures hinaus, indem er zeigen kann, dass sich diese Bedeutung aufgrund des performativen Charakters von Sprache nicht stillstellen lässt. Da die Produktion von Bedeutung durch das Zusammenspiel von Wiederholung und Verschiebung entsteht, ist der Bedeutungsraum eines Textes nie abgeschlossen.

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Vor allem Barbara Vinken und Shoshana Felman schließen an diese Lektüremethode im Rahmen der feministischen Literaturwissenschaft an, indem sie die Texte auf Widersprüche und Diskontinuitäten hin untersuchen und somit Konstruktionsprozesse von Bedeutung sichtbar machen. Aus einer zunächst ursprünglich gedachten (Geschlechter-)Differenz wird so eine Vielzahl von Differenzen.

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Auch Michel Foucault, der in Kapitel sieben vorgestellt wird, setzt mit seinem Modell der Diskursanalyse bei den Brüchen zwischen und innerhalb von Diskursen an. »Diskurse regeln nach Foucault, was wie gesagt werden kann, sind also normativ und generieren, um sich selbst unkenntlich zu machen, die Fiktion eines autonomen innerlichen Subjekts sowie einer natürlichen Geschlechterdifferenz.« (S. 92)

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Entscheidende Ansatzpunkte für die Gender Studies sind hierbei seine Auffassungen von Subjekt und Körper: Für Foucault gibt es keine autonomen Identitäten mehr, vielmehr wird das Subjekt in seiner konkreten geschichtlichen Form durch das Zusammenspiel der auf es einwirkenden Diskurse hervorgebracht. Die Einhaltung der Normen geschieht von innen heraus: Das Subjekt unterwirft und kontrolliert sich fortwährend, »wobei die Verfahren der Selbstorganisation über den Körper implementiert werden« (S. 93). Was bisher als Sitz der Autonomie, als Kern des menschlichen Wesens gedacht wurde, die Seele, erscheint bei Foucault als »Produkt dieser körperlichen Einschreibungen, wobei das so entstehende Innere das körperliche Verhalten seinerseits überwacht« (S. 95).

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Mit diesen Erkenntnissen hat Foucault wesentliche Voraussetzungen für die Theorie von der Performativität des Geschlechts, wie Judith Butler sie formuliert, geschaffen: Sie nimmt den Moment der Subjektwerdung mithilfe der Theorien Althussers genauer in den Blick und sieht ihn als untrennbar mit der Einordnung in die Geschlechtermatrix verbunden. Diese, bisher aus Sex und Gender bestehend gedacht, ergänzt sie allerdings um die Kategorie des Begehrens (›Desire‹) und macht so auf die Unterwerfung der Subjekte unter ein System der Zwangsheterosexualität aufmerksam, womit sie, wie bereits dargestellt, einen Gedanken Freuds aufgreift.

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Auch das Verhältnis von Sex und Gender ist Butler zufolge neu zu denken: Durch Anwendung der Theorien Foucaults und Verbindung mit weiteren Theorien aus Philosophie und Rhetorik kommt sie zum Schluss, dass Geschlecht diskursiv produziert wird, wobei im Geflecht der Diskurse nur zwei Subjektpositionen zur Verfügung gestellt werden: ›Mann‹ und ›Frau‹. Die Annahme einer konstanten und auf den Körper zurückgeführten Geschlechtsidentität verschleiert diesen Konstruktionsprozess. Die Anatomie erscheint im Licht des sozialen Geschlechts:

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Nach Butler produziert das soziale Geschlecht das anatomische, das damit ebenfalls eine kulturelle Größe ist, gleichwohl als irreversible Naturbestimmung erscheint. Die Geschlechtsidentität (Gender) bringt also den Körper als scheinbar vordiskursive, natürliche Determinante hervor. (S. 97)
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Im Anschluss auch an Simone de Beauvoir begreift Butler Geschlecht als Effekt permanenter performativer Akte. Und dies ist auch der Ansatzpunkt für das Ausstellen und somit Unterlaufen der Geschlechtermatrix. Als Beispiel für einen solchen Akt der Subversion dient ihr der Transvestit, der die Performativität von Geschlecht erkennen lässt und somit den Anschein der Natürlichkeit zerstört. Er macht offensichtlich, »dass Geschlecht durch Imitation entsteht, nicht aber Essenz ist« (S. 98).

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Die Theorien Butlers haben, vor allem was ihren Blick auf den Körper betrifft, große Diskussionen ausgelöst, auf die sie mit weiteren Publikationen geantwortet hat, die Schößler im letzten Teil dieses siebten Kapitels im Überblick darstellt.

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Lektüre quer zu den Ordnungen

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Im Anschluss an die Einführung in die Entwicklungsgeschichte und das Kennenlernen der wichtigsten Theorien der Gender Studies werden die Leserinnen und Leser in einem zweiten Teil (Kapitel 8–14) mit verschiedenen Methoden und Fragestellungen für eine gendersensible Literaturwissenschaft vertraut gemacht.

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Dazu stellt Schößler zunächst die den Gender Studies eng verbundenen Disziplinen Queer Studies, Postcolonial Studies und Men’s Studies vor und erläutert zweitens die Forschungsrichtungen Film Studies, Gender in der Literaturwissenschaft und Memoria-Theorien. Drittens wird dieser zweite Teil mit einem Kapitel zur Wissenschaftskritik abgeschlossen, der mit der Infragestellung der neutralen Wissenschaftsgeschichtsschreibung und des Objektivitätsanspruchs der Wissenschaft das zentrale Anliegen der Gender Studies in allen Disziplinen fokussiert: »Zeichnet sich Wissenschaft prinzipiell dadurch aus, dass sie ihre eigenen Methoden überdenkt, so machen die Gender Studies die unausgesprochenen Prämissen der männlich dominierten Wissensordnung kenntlich« (S. 197).

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Die Nachbardisziplinen

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Anhand der Queer und der Postcolonial Studies kann Schößler zeigen, wie verschiedene Exklusionsmechanismen in den Blick kommen: Während die Queer Studies, wie in Kapitel acht dargestellt, an einer Vervielfältigung der Begehrensformen arbeiten und Subjektentwürfe ins Zentrum stellen, die sich nicht auf eindeutige Identitäten festlegen lassen, verfolgen die Postcolonial Studies dasjenige Anliegen, das in den 1980er Jahren zur Sprengung der Kategorie ›die Frau‹ geführt hat: Sie untersuchen Identitätskonstruktionen unter Berücksichtigung der Kategorien Class, Race und Gender, »um den Erfahrungen in diversen (kolonialen) Unterdrückungskontexten Rechnung zu tragen« (S. 130). Die wichtigsten Ansätze der Theoretikerinnen und Theoretiker Edward Said, Homi K. Bhabha und Gayatri Spivak werden vorgestellt, die sich im Anliegen treffen, zu einer »gendersensiblen Ethnizitätsanalyse« (S. 130) anzuleiten.

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Kapitel zehn ist den Men’s Studies gewidmet, die sich erst nach und nach als eigene Disziplin zu etablieren beginnen. Nach einem kurzen Blick auf die Entstehungsgeschichte benennt Schößler die wichtigsten Konzepte. Zentral ist dabei erstens die Pluralisierung der Männlichkeitsentwürfe, die auch immer relational zu Entwürfen von Weiblichkeit gedacht werden, zweitens die Auffassung von Männlichkeit als dynamischem Prozess, drittens das Modell der ›hegemonialen Männlichkeit‹, wie Robert W. Connell es formuliert, und viertens das vor allem für die Literatur- und Filmwissenschaft interessante Modell von Männlichkeit und Weiblichkeit als Maskerade nach Joan Riviere.

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Ansätze kulturwissenschaftlicher Geschlechterforschung

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Drei Forschungsrichtungen, die Schößler in den Kapiteln 11–13 vorstellt, sind für eine kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft unter Gender-Perspektive von besonderem Interesse.

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Die filmwissenschaftliche Analyse arbeitet vor allem mit psychoanalytischen Modellen, um die unterschiedlichen Blickkonstellationen aufzuschlüsseln: »Die scheinbare Hierarchie von hegemonialen und verbotenen Blicken gilt dabei als brüchig und umkehrbar.« (S. 156)

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Im Kapitel »Gender und das literarische System« wird zum einen die Analyse literarischer Produktions- und Rezeptionsprozesse vorgestellt, die aufzeigen kann, wie Texte aus dem literarischen Kanon ausgeschlossen werden. Zum anderen ermöglicht der Ansatz, Erzählen als ›doing gender‹ zu begreifen, Texte auf binär organisierte und geschlechtlich konnotierte Muster hin zu untersuchen. Außerdem macht das Verständnis von Geschlecht als Effekt performativer Akte die Analyse der Performanzen auf der Bühne zu einem bevorzugten Ort der Geschlechterforschung, doch auch die Performanzen von Geschlecht in den für das Theater geschriebenen Texten können zum Forschungsgegenstand werden.

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»Gender und Memoria« stellt mit dem Untersuchungsfeld der Erinnerungstheorien einen dritten Ansatz für kulturwissenschaftliche Geschlechterforschung dar: »Erinnern und Vergessen als kulturelle Akte sind unhintergehbar geschlechtlich organisiert und arbeiten gemeinsam am Ausschluss von Frauen aus der ›großen Geschichte‹, die gleichwohl auf weiblichen Erinnerungsakten basiert.« (S. 184) Diese Erkenntnis mündet nicht nur in die kritische Reflexion der Kanonisierungsprozesse und das Bestreben, den Kanon um Texte wichtiger Autorinnen zu erweitern. Vielmehr wird unter Rückgriff auf die Theorien zum kollektiven Gedächtnis von Maurice Halbwachs und Jan Assmann darauf hingewiesen, »dass es spezifische weiblich und männlich semantisierte Gedächtnisformen gibt […][,] wie sie beispielsweise Denkmale, Geschichtsbücher und auch literarische Texte dokumentieren.« (S. 182)

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Wissenschaftskritik

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Der Anspruch einer Kritik der Wissensordnung, so macht Schößler in ihrem letzten Kapitel »Wissenschaftskritik« deutlich, gilt grundsätzlich und macht somit auch vor den Naturwissenschaften nicht halt. Gender Studies machen auf die sprachliche Verfasstheit der Theorien und Daten aufmerksam und fordern das Konzept eines situierten Wissens. Diese Forderung, kenntlich zu machen, »dass wissenschaftliche Aussagen unhintergehbar aus einem Gespinst von rhetorischen Figuren, von Metaphern und Narrationen bestehen« (S. 192), wurde vor allem von Donna Haraway in den 1980er Jahren formuliert.

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Auch Resümee und Ausblick finden sich in diesem letzten Kapitel: Zum einen werden hier die verhandelten Inhalte hilfreich gebündelt und gesichert, zum anderen werden Entwicklungstendenzen in der Geschlechterforschung aufgezeigt. Neben einer kulturwissenschaftlichen Vernetzung der Gender Studies zielt Schößler dabei vor allem auf die aktuelle Diskussion um die Disziplinierung der Gender Studies:

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Es besteht das Bestreben, die Kategorie Gender enger mit etablierten Methoden und Theorien (zum Beispiel der Literaturwissenschaft) zu verknüpfen, um einer Gettoisierung vorzubeugen und zum unhintergehbaren Bestand der Disziplinen zu werden. (S. 197)
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Fazit

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Sowohl inhaltlich als auch formal vermag die Einführung in die Gender Studies von Franziska Schößler zu überzeugen. In Auseinandersetzung mit der feministischen Literaturwissenschaft wird ein gedanklicher Bogen gespannt von Begriffsklärungen über die Entwicklungsgeschichte bis hin zur akademischen Verortung der Gender Studies.

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Was im ersten Kapitel nur schematisch umrissen werden kann, sodass vereinzelt der Eindruck einer Verkürzung entstehen könnte, stellt Schößler im weiteren Verlauf der Einführung differenziert dar. So zeigt sie beispielsweise auf, dass die zu Beginn zu definitorischem Zweck gesetzte kategorische Unterscheidung zwischen Frauen- und Geschlechterforschung so nicht haltbar ist, da anhand der Betrachtung der Entstehungsgeschichte der Gender Studies deutlich wird, dass dieses Verhältnis sowohl mit Kontinuitäten als auch mit Diskontinuitäten beschrieben werden kann.

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Schößler macht die Leserinnen und Leser mithilfe eines Gangs durch die Entwicklungsgeschichte mit allen zentralen gegenwärtigen Diskussionen in der kulturwissenschaftlichen Geschlechterforschung vertraut. Mit einer kleinen Ausnahme: Ein Hinweis auf die aktuelle Diskussion um das mit der Frage nach dem interdisziplinären Anspruch der Geschlechterforschung verbundene Konzept der Intersektionalität, das sich mit der Frage auseinandersetzt, ob neben Gender, Race und Class nicht noch weitere Kategorien zu berücksichtigen sind, wie sich das Verhältnis zwischen diesen Kategorien gestaltet und wie es zu analysieren ist, wäre wünschenswert.

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Durch einen im Großen und Ganzen klaren Aufbau, eine lesefreundliche Gestaltung und eine leicht verständliche Darstellung der Entstehungsgeschichte und disziplinären Verortung der Gender Studies wird diese Einführung zu einem idealen Begleiter für das Studium und zu einer Anregung für die Lehre. Die einzelnen Kapitel sind jeweils klar gegliedert. Ein anschauliches Beispiel aus den Bereichen Kunst, Literatur oder Film und ein kurzer Überblick über den inhaltlichen Schwerpunkt leiten die Darstellung jeweils ein. Abgeschlossen werden die Kapitel durch eine Zusammenfassung, weiterführende Fragen und Anregungen und Lektüreempfehlungen. So ergibt sich ein hilfreicher Rahmen, der das gelesene Wissen zu sichern hilft und die weitere Auseinandersetzung mit einzelnen Themen befördert.

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Ein weiterer Pluspunkt dieser Einführung ist der ausführliche Serviceteil mit einer hilfreichen Auflistung von Bibliografien, Einführungen, Handbüchern, Textsammlungen, Zeitschriften und Periodika, Forschungseinrichtungen und einem Glossar.

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Als Einführung, die sich ausführlich mit dem Verhältnis zwischen literaturwissenschaftlicher Frauenforschung und literaturwissenschaftlicher Geschlechterforschung auseinandersetzt, schließt diese Veröffentlichung endlich eine Lücke in der Reihe von Einführungen aus disziplinärer Perspektive. Dabei leistet sie durch den ausführlichen theoretischen Teil mehr als eine Hinführung zu den Methoden einer gendersensiblen Literaturwissenschaft, sondern gibt grundlegend Einblick in die Entwicklungsgeschichte, Anliegen und kritischen Fragen der Geschlechterforschung.